Читать книгу Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull - Страница 13
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Оглавление»Wie geht es Ihnen, Herr Kleine, fühlen Sie sich besser?«
Sebastian Kleine hockt auf dem Bett des kleinen Schiffshospitals, das zwischen der Offiziersmesse und dem Kabinentrakt eingerichtet ist und die Größe von gerade mal zwei kleinen Kajüten hat. Die Wunde an seiner Stirn ist mit Jod desinfiziert und verbunden. Anna Scharnhorst betrachtet zufrieden ihren Patienten, den sie fachgerecht verarztet hat.
Kleine kann sich selber in einem halbmatten Spiegel an der gegenüberliegenden Spindtür sehen. Er trägt eine Art Turban. Seine Stirn und sein Kopf sind mit Verbandszeug umwickelt. Sein nackter Oberkörper ist an der linken Seite von Blutergüssen übersät. Anna reibt seinen Oberkörper vorsichtig mit einer nach Kampfer riechenden Heilsalbe ein. Er spürt ihre zarten Finger und schließt seine Augen, damit sie darin seine Gedanken nicht lesen kann. Ihm fällt ein, dass er sich in schlaflosen Nächten vorgestellt hat, von Missionsschwester Anna verwöhnt zu werden, mit ähnlichen und noch weitergehenden Zärtlichkeiten.
»Ihre Rippen scheinen nicht gebrochen zu sein. Sie sind wohl mit schmerzhaften Prellungen davongekommen.«
»Sie sind offenbar nicht nur Missionsschwester, sondern auch Krankenschwester«, sagt Kleine.
»Ich bin eigentlich Hebamme von Beruf.«
Anna betastet seinen Oberbauch.
»Nach meiner ersten, oberflächlichen Untersuchung sind Sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht schwanger.«
Kleine verzieht sein Gesicht zu einem gequälten Grinsen.
Anna steht hautnah vor ihm. Sie riecht nach Mandeln und Orangen, nach einem Parfüm mit fruchtigen Ingredienzien. Er spürt ihren Körper und ihre Schenkel. Und ihre kreisenden Finger auf seinem Oberkörper. Vergeblich versucht er, seine aufsteigende Erregung zu unterdrücken.
»Geht es Ihnen schon besser?«, fragt sie mit einer Stimme, die ihm ein wenig belegt erscheint.
Ob sie seine Erregung bemerkt hat?
Kleine setzt sich breitbeinig auf die Eisenkante des Krankenbettes.
Er zieht sie an sich, während seine Hände über ihren Rücken und ihre Hüften gleiten. Anna lässt seine Zärtlichkeiten sekundenlang geschehen. Erst als seine Hände unter ihre Hemdbluse wandern, stößt sie ihn an den Schultern sanft zurück und drückt ihn aufs Bett nieder.
»Es scheint Ihnen ja tatsächlich schon viel besser zu gehen, Herr Kleine, aber Sie brauchen noch dringend ein paar Tage Schonung.«
Mit geschlossenen Augen bleibt Sebastian Kleine liegen.
»In den nächsten drei Tagen sollten Sie sich möglichst ruhig verhalten. Wenn Sie Schwindelgefühle und Kopfschmerzen bekommen, werden Sie sich wohl eine Gehirnerschütterung zugezogen haben.«
»Sie machen mir Kopfschmerzen«, sagt er. »Wir beide wissen sehr wenig voneinander – obwohl wir uns nun schon wochenlang kennen.«
»Vielleicht ist es besser so.«
Anna dreht den Kopf zur Seite, zupft ihre Kleidung zurecht und ordnet Verbandszeug, Scheren und Tinkturen wieder in einen Arzneimittelschrank ein.
Kleine hebt seinen Kopf und beobachtet die Bewegungen ihrer grazilen, aber sehr weiblichen Figur.
»Ich würde gern mehr von Ihnen erfahren. Mich interessiert zum Beispiel sehr, warum Sie Missionsschwester geworden sind.«
»Das ist eine längere Geschichte.«
»Erzählen Sie. Wir haben ja Zeit genug, und da wir uns in Neuguinea vermutlich auch des Öfteren begegnen werden, wäre es schön, wenn wir ein wenig vertraut miteinander würden. Jedenfalls wünsche ich mir das sehr.«
»Nein«, sagt sie leise, und fügt lauter hinzu: »Jedenfalls nicht hier und nicht jetzt!«
»Was halten Sie davon, wenn wir uns in den nächsten Tagen treffen – bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein?«
»Sie sind aber sehr hartnäckig, Herr Kleine.«
»Einverstanden?«
»Nun ja, vielleicht, warum nicht? Aber nicht bei Ihnen oder bei mir oder wie Sie sich das vorstellen mögen, nur an einem neutralen Ort und in Gegenwart von Zeugen.« Anna lacht.
»Wie Sie wünschen. Das wird sich arrangieren lassen. Wen bringen Sie als Sekundanten mit?
»Frau Olga Tietjen, die Kapitänsfrau, sie ist hier auf dem Schiff meine mütterliche Freundin geworden.«
»Nun gut, dann komme ich mit Theobald Kolber, den haben Sie ja bereits bei unserem Treffen mit Herrn Godeffroy kennengelernt. Er ist mein Vorgesetzter und mein älterer Freund zugleich.«
»Sie müssen aber wirklich abwarten, ob Sie eine Gehirnerschütterung haben.«
»Zu Befehl, Frau Doktor.« Sebastian Kleine erhebt sich übertrieben ächzend und sagt: »Ich lasse von mir hören.«
Am dritten Tag nach dem Sturm nimmt Sebastian Kleine seinen Kopfverband ab. Die Wunde über dem linken Auge ist verschorft. Er fühlt sich gut: Ein gewisses Glücksgefühl hat seine Genesung beschleunigt.
Theobald Kolber ist angetan von einer Verabredung zum gemütlichen Gesprächsabend zu viert. Kapitänsfrau Olga Tietjen hat sogar in gestochen scharfer Sütterlinschrift eine kleine schriftliche Einladung auf Büttenpapier verfasst: »Hiermit bitte ich anlässlich der Wiedergenesung von Herrn Sebastian Kleine zu einem kleinen Abendessen mit anschließendem Gedankenaustausch, heute, um 19 Uhr Ortszeit. Zu diesem Anlass ist die Offiziersmesse reserviert.«
Sebastian Kleine zieht zum ersten Mal seinen in Hamburg nach Maß gefertigten Tropenanzug an. Theobald Kolber erscheint ohne Absprache in gleicher Aufmachung. Kapitänsfrau Tietjen lächelt ihren Gästen aus einer Seidenbluse mit hochgestelltem Kragen entgegen, und Anna Scharnhorst sieht mit weißen Kniestrümpfen, blauem Faltenrock und farblich passendem, eng anliegendem Jäckchen wie die junge Studienrätin einer Lehranstalt für höhere Töchter aus. Unter den Arm hat sie eine kleine Ledermappe geklemmt.
»Ganz reizend sehen Sie aus, Fräulein Scharnhorst«, sagt Olga Tietjen, und die Herren nicken dazu, wobei Theobald Kolber zum Missfallen der Gastgeberin noch hinzufügt: »Die strenge Kleidung der Missionsschwester gefällt mir sowieso nicht so an Ihnen.«
Der Schiffskoch hat frisch gefangenen Schwertfisch zubereitet und persönlich serviert. Aus dem Weinvorrat ihres Mannes wählt die Kapitänsfrau einige Flaschen Pfälzer Riesling aus, einen »Forster Pechstück Kabinett«. Silberbesteck und Leinenservietten liegen auf der Mahagoniplatte des großen Tisches, an dem nur das obere Ende eingedeckt ist. Der Fisch ist gut gewürzt und genau richtig gebraten, mit brauner Haut und bissfest. Sebastian Kleine ist wieder einmal froh, dass er noch kurz vor der Abreise in Hamburg beim Zahnarzt gewesen ist. In den ersten Tagen hatten die neuen Goldplomben noch ein wenig gedrückt, aber nun spürt er sie schon lange nicht mehr.
Beim Kaffee sagt Theobald Kolber in einer jovialen, väterlichen Tonlage: »Und nun erzählen Sie uns doch mal, verehrtes Fräulein Scharnhorst: Wie kommt eine so hübsche junge Frau wie Sie dazu, ihr Leben in den gestrengen Dienst der Kirche und ihrer Missionsgesellschaft zu stellen?«
Anna, die bisher nur an ihrem Weinglas genippt hat, nimmt einen größeren Schluck.
»Vor ein paar Stunden wollte ich dieses Zusammentreffen noch absagen, aber nun denke ich, dass es mir möglicherweise sogar guttun wird, wenn ich einmal über meine Geschichte sprechen kann.«
Nach diesem Vorwort hören ihr alle aufmerksam zu. Selbst Theobald Kolber, der ein paarmal zu einer Zwischenfrage ansetzt, schließt seinen Mund wortlos wieder und kaut auf dem Stiel seiner kalten Pfeife herum, denn die Damen haben ihn gebeten, nicht zu rauchen. Anna Scharnhorst erzählt:
»Ich bin in dem kleinen Ort Kalkar am Niederrhein aufgewachsen, am Marktplatz, neben der holländischen Backsteinkirche. Meine Mutter ist Lehrerin für Deutsch und Religion. Einen Vater habe ich nicht – das heißt, ich habe ihn nicht kennengelernt. Er ist wohl schon vor meiner Geburt verschwunden, und meine Mutter hat nie vom ihm erzählt, auch nicht, wenn ich nach ihm gefragt habe.« Erst vor zwei Jahren habe sie gehört, dass er irgendwo in den deutschen Kolonien leben soll. Und erst kürzlich habe sie durch einen Zufall seinen Namen erfahren.
Anna stockt, als sei sie über sich selbst erschrocken, als habe sie bereits zu viel gesagt.
»Meine Mutter«, so fährt sie schnell fort, »meine Mutter hat mich immer spüren lassen, dass ich das ungewollte Kind eines Mannes war, der Schande über sie gebracht hat. Ich war der lebende Beweis für den einen großen Fehltritt in ihrem sonst so frommen und züchtigen Lebenswandel.« Ihre Mutter habe dann einen Apotheker geheiratet und noch einen ehelichen Sohn bekommen.
Anna dreht den dünnen Stiel ihres Weinglases zwischen Daumen und Zeigefinger, als warte sie auf Fragen zu diesem Thema. Doch niemand mag ihre Geschichte unterbrechen.
»Eigentlich wollte ich Ärztin werden, aber das Einkommen der Eltern hat nur für das Theologiestudium meines Halbbruders gereicht. So bin ich Hebamme im Diakonissen-Krankenhaus in Düsseldorf geworden. Und bis zu einem bestimmten Tag habe ich das nicht bereut, ganz im Gegenteil, denn Geburtshelferin ist ja der einzige medizinische Beruf, in dem man nicht Tag für Tag mit Krankheit und Tod zu tun hat, sondern zumeist mit freudigen Ereignissen, mit dem Beginn eines neuen Lebens. Jede schöne Geburt, jedes Neugeborene hat mich für eine Weile beinahe so glücklich gemacht wie die glücklichen Eltern selbst – bis zu jenem schrecklichen Ereignis, das mein Leben verändert hat ...«
Anna stockt. Sie trinkt einen kräftigen Schluck Wein, bevor sie mit kleiner, aber fester Stimme fortfährt.
»Nach seiner Ausbildung zum Pastor hat mein Halbbruder zur Freude meiner Mutter eine eigene Pfarrstelle in einem Nachbardorf bei uns am Niederrhein bekommen. Vor drei Jahren hat er geheiratet: Elisabeth, die Tochter eines vermögenden Textil-Großhändlers, ist genauso alt ist wie ich. Irgendwie mochten wir beide uns nicht. Elisabeth wurde noch im Jahr der Hochzeit schwanger, und natürlich habe ich mich, sozusagen als Familienhebamme, schon vor der Entbindung um meine Schwägerin und ihr ungeborenes Kind gekümmert, obwohl sie angeblich immerzu alles besser wusste.
Die Geburt setzte vorzeitig in einer frostklaren Winternacht ein. Viel Fruchtwasser trat aus, und die Wehen wurden schnell stärker. Die Straßen waren von Glatteis überzogen. Mit der Pferdekutsche hätte man es nicht bis ins Krankenhaus geschafft, und so holte mich mein völlig verstörter Bruder notgedrungen zur Hausgeburt. Als ich in seinem Pfarrhaus eintraf, hatte die Austreibungsphase bereits begonnen. Elisabeth schrie vor Schmerzen. Ich erkannte das Problem: Das Ungeborene lag verkehrt herum in ihrem Leib, in einer Steißlage. Und offenbar hatte sich auch noch die Nabelschnur um den kleinen Hals gewickelt. Das Baby drohte zu ersticken. Mir blieb nur eines: Ich musste versuchen, das Kind mit meinen Händen im Mutterleib zu wenden und von der Nabelschnur zu befreien ...«
Olga Tietjen, die Kapitänsfrau und dreifache Mutter, seufzt unterdrückt.
»Schließlich habe ich es geschafft – gegen den körperlichen Widerstand der werdenden Mutter. Elisabeth schrie, ich wolle das Kind und sie umbringen! Sie wehrte sich mit Händen und Füßen gegen meine Arbeit. Sie presste nicht. Mein Kampf um das Leben des Kindes hat deshalb unnötig lange gedauert ...«
»Und was hat der Vater gemacht?«, fragt Sebastian Kleine.
»Mein Halbbruder Christian ist schon zu Beginn aus dem Zimmer gelaufen – er habe für uns gebetet, hat er nachher gesagt.«
Olga Tietjen bittet Theobald Kolber, eine zweite Flasche Wein zu öffnen.
»Hat das Kind überlebt?«
»Ja«, sagt Anna Scharnhorst. »Aber das Aussehen des Neugeborenen hat mich erschreckt. Der Knabe war am ganzen Körper bläulich angelaufen. Er zitterte unaufhörlich. Eine Mund-zu-Mund-Beatmung und eine Herzmassage halfen zunächst nicht. Es dauerte lange, bis er regelmäßig atmete, doch danach blieb der kleine Körper beinahe regungslos. Das Gesicht war merkwürdig schief. Mir wurde klar, dass etwas Furchtbares passiert war: Der Sohn meines Bruders und meiner Schwägerin hatte durch die Strangulation mit der Nabelschnur einen Sauerstoffmangel erlitten. Die Folge davon sind bleibende körperliche und geistige Schädigungen. Der Junge, der auf den Namen Markus getauft wurde, ist ein Spastiker. Er wird nie ein einigermaßen normales Leben führen können.
Die Kinderärzte haben später versichert, ich hätte keine Fehler gemacht, es sei eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen. Meine Schwägerin verbreitete dennoch bei jeder Gelegenheit, ich sei schuld am Schicksal ihres Kindes. Mein Bruder, der Pastor, und meine fromme, protestantische Mutter standen mir gegen diese schlimme Nachrede nicht bei ...
Seit der Entbindung des kleinen Markus war ich nicht mehr in der Lage, meinen Beruf als Hebamme auszuüben. Ich verfiel in Schwermut und wollte mir das Leben nehmen. Ein Versuch mit Barbiturat schlug fehl, weil ich mich erbrechen musste.
Meine Mutter war seit diesem Ereignis noch eigenartiger geworden. Sie beachtete mich kaum noch. Nur Gott könne mir helfen, sagte sie, doch ich müsse mir seine Gnade verdienen. Vielleicht werde er mir ein Zeichen geben. Ich müsse um dieses Zeichen beten, es erkennen und richtig deuten.
Von nun an betete ich oft alleine in einer halbdunklen Nische unserer Kirche. Eines Abends öffnete sich dabei knarrend die schwere Haupttür. Ein Mann und eine Frau kamen herein. Sie konnten mich nicht sehen, aber ich beobachtete, wie sie ein Schriftstück an der Innenseite der großen Tür anbrachten. Nach meinem Gebet las ich die Mitteilung, die diese Besucher zurücklassen hatten: Die Rheinische Missionsgesellschaft bat um Geld und um Sachspenden und warb um neue Mitarbeiter für die Arbeit in ihren überseeischen Missionsstationen. Insbesondere wurden junge Männer und Frauen aus medizinischen Berufen gesucht. Für mich war sogleich klar: Dies war eine Botschaft für mich, das Zeichen, um das ich gebetet hatte ...
Gleich am nächsten Morgen suchte ich einen der Missionare auf, der im Gästezimmer unseres Pfarrhauses übernachtet hatte. Ich vertraute ihm meine Geschichte an. Und danach erklärte er mir: Die Arbeit für Gott und die Kirche, insbesondere eine Tätigkeit in einer überseeischen Mission, werde ein Ausweg aus meiner Lage sein, ein Weg, der mich zu einem erfüllten, christlichen Leben führen werde. Im Übrigen habe man für eine ausgebildete Hebamme wie mich in der praktischen Missionsarbeit sehr gute Verwendung.
Meine Mutter war glücklich, als ich ihr meinen Entschluss mitteilte, nach einer Ausbildung zur Diakonisse und Missionsschwester in eine der Missionsstationen der evangelischen Kirche des Rheinlandes zu gehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm sie mich in den Arm. Die Aussicht auf eine Tätigkeit in einer christlichen Mission irgendwo in einer anderen Welt erschien mir tatsächlich wie eine Erlösung aus meiner Situation. Zugleich, so dachte ich auch, komme ich dadurch weit weg von meiner Familie und von dem behinderten Jungen, dessen Anblick ich nicht ertragen konnte.«
Während sie spricht, blickt Anna Scharnhorst in die Gesichter ihrer Zuhörer, nur an schwierigen Stellen, an denen ihre Gefühle sie beinahe überwältigen, wandert ihr Blick durch das Bullauge hinaus aufs Meer, über dem sich der Himmel während ihrer Erzählung abendrot, dunkelblau und schließlich nachtschwarz färbt.
Er müsse erst mal ein Pfeifchen rauchen, sagt Theobald Kolber nach Annas Geschichte, und weil das hier am Tisch von den Damen wohl nicht erwünscht sei, werde er sich kurz an Deck begeben.
Nach seiner Rückkehr wendet er sich an Anna Scharnhorst.
»Ihre Geschichte hat mich sehr bewegt. Wann immer mein junger Freund und ich Ihnen helfen können – wir werden für Sie da sein, wenn Sie uns brauchen.«
»Darauf stoßen wir an!« Die Kapitänsfrau schenkt Wein nach. Sebastian Kleine sagt: »Wissen Sie schon, in welcher Missionsstation, an welchem Ort oder in welcher Gegend Sie erwartet werden? Und was wird dort Ihre Aufgabe sein?«
Anna errötet, als sei diese Frage zu intim.
»Ich weiß nicht, ob ich ...«
»Nun sagen Sie den netten beiden Herren doch ruhig, was Sie mir erzählt haben!« Olga Tietjen stößt sie aufmunternd an. »Die Herren werden es ja ohnehin erfahren, wenn Sie bald heiraten.«
Theobald Kolber und Sebastian Kleine sehen Anna Scharnhorst und Olga Tietjen verblüfft an.
»Oh, das ist mir jetzt so rausgerutscht. Der Wein ... ich rede wohl zu viel«, sagt die Frau des Kapitäns.
Anna steht auf. Einen Moment lang scheint es, als ob sie hinauslaufen will, doch dann hält sie Theobald Kolber ihr leeres Weinglas hin.
»Wenn Sie den zweiten Teil meiner Geschichte auch noch hören wollen ...«
»Offenbar ist er ja nicht so traurig wie das, was wir bisher gehört haben.« Theobald Kolber lächelt.
»Ganz und gar nicht, aber sehr ungewöhnlich ist diese Geschichte auch«, sagt Olga Tietjen.
»Nach meiner Ausbildung bin ich zum Leiter unseres Mutterhauses gerufen worden. Er hat mich sehr gelobt und dann gefragt, ob ich vielleicht Interesse an einer Briefpartnerschaft hätte: Ein im Urwald von Neuguinea tätiger Missionar habe den Wunsch, sich mit einer christlichen jungen Frau aus seiner deutschen Heimat zu schreiben. Seine Frau sei vor zwei Jahren an Malaria gestorben. Er würde sich über ein wenig Abwechslung bei seiner aufopferungsvollen, aber einsamen Arbeit freuen. Der fragliche Missionar komme aus Duisburg, und da ich ja auch vom Niederrhein stamme, habe man in der Leitung der Missionsschule an mich gedacht.«
Seither hätten sie ein halbes Dutzend lange Briefe miteinander gewechselt. Sie hätten auch Fotografien ausgetauscht.
»Vor einem halben Jahr hat Heinrich mir dann einen Heiratsantrag gemacht, und einen Verlobungsring hat er gleich mitgeschickt.«
Anna Scharnhorst legt ihre linke Hand auf den Tisch, an der jetzt ein schmaler, mattgoldener Ring mit einem kleinen Kreuz aus rotem Edelstein schimmert.
Sebastian Kleine hat diesen Ring vorher noch nie bemerkt. Er schluckt ein paarmal. Theobald Kolber schüttelt den Kopf.
»Haben Sie sich das auch wirklich gut überlegt, junge Frau? Sie kennen den Mann doch gar nicht. Sie haben ihren Künftigen noch kein einziges Mal gesehen. Vielleicht ist auf beiden Seiten durch die Briefe nur eine Illusion aufgebaut worden, die der Realität nicht standhalten kann.«
Er spürt einen kräftigen Fußtritt unter dem Tisch. Kapitänsfrau Tietjen sieht ihn strafend an.
»Ja, so gut ich es kann, habe ich alles Für und Wider abgewogen!«, sagt Anna.
Theobald Kolber reibt sich sein schmerzendes Schienbein.
»Wie heißt denn der Glückliche, vielleicht ist er mir ja schon mal über den Weg gelaufen?
»Althoff, Heinrich Althoff.«
Anna Scharnhorst holt einen Umschlag aus ihrer Tasche und zieht eine gelbliche Fotografie hervor, kaum doppelt so groß wie eine Briefmarke. Das kleine Bild zeigt einen kräftigen Mann mit hellem Hemd, dunkler Hose und Tropenhelm. Der Mann steht vor einer Eingeborenenhütte. Er hält ein kleines, dunkelhäutiges Kind auf dem Arm. Der weiße Mann lächelt, das braune Kind weint.
Auf seiner Brust hängt ein großes Kreuz an einer Kette. Er hat einen kleinen, gut gestutzten Bart. Seine kräftige Nase wirft auf dem Bild einen schrägen Schatten. Seine Augen sind unter dem Rand des Tropenhelmes nicht zu sehen. Vermutlich ist er Ende dreißig, vielleicht vierzig Jahre alt.
»Das ist mein Zukünftiger.«
Theobald Kolber schüttelt nachdenklich den Kopf und schiebt das Bild zu Sebastian Kleine weiter.
»Heinrich Althoff? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, aber gesehen habe ich den Mann noch nie. Soviel ich weiß, gibt es kaum ein halbes Dutzend protestantischer Missionare auf der Gazelle-Halbinsel, die Katholiken vom Heiligsten Herzen Jesu aus Hiltrup aus Westfalen sind schon viel länger hier, und die haben überall an der Küste ihre Missionsstationen aufgebaut.«
»Heinrich leitet erst seit zwei Jahren eine kleine Missionsstation bei einem Eingeborenendorf, das Malaguna heißt.«
Theobald Kolber denkt nach.
»Malaguna mitten im Urwald, im Stammesgebiet der Baininger. Dort predigt der künftige Gatte also die christliche Lehre«.
Das sei wahrhaftig eine von der Zivilisation kaum berührte Gegend, dort lebten die Eingeborenen tatsächlich noch wie in der Steinzeit, und unter ihnen gebe es immer noch Menschen...«
Kolber verschluckt das Wort »Menschenfresser« bevor es vollständig über seine Lippen kommt.