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Prolog

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Er möchte sterben, bevor sie ihn finden.

Sein rechter Arm ist bereits taub. Seine angewinkelten Beine zucken ohne Gefühl. An einem Fuß baumelt noch ein Stück des Stricks, mit dem er gefesselt worden war. Er hat keine starken Schmerzen, aber er spürt, wie sich die lähmende Wirkung des Giftpfeils von seinem Bauch aus bis in alle Glieder ausbreitet. Den Schaft hat er noch mit der linken Hand ergriffen, bevor er zu Boden gestürzt ist, aber jetzt reicht seine Kraft nicht mehr, um die Spitze mit dem knöchernen Widerhaken herauszuziehen.

Der Mann im zerrissenen Tropenanzug liegt am Rande des Dschungels, auf einer Lichtung oberhalb des Toriu-Flusses, einem Platz, der den Menschen des Waldes als Kultstätte zur Verehrung ihrer Ahnen heilig ist.

Sein Körper hat sich zusammengekauert wie der eines Ungeborenen im Mutterleib. Das Blut rauscht in seinen Ohren. Noch einmal kommt ihm die Meeresbrandung in den Sinn, die drei Tagesmärsche entfernt gegen den weißen Strand der Blanchebai schwappt. Er sieht die Häuser der deutschen Kolonialherren, die Faktoreien der Handelsfirmen und die Kirche der Missionare vor den ausgedehnten Palmenplantagen, die sich bis zu den Hügeln des endlosen Urwaldes erstrecken. Ein Südseepanorama, wie er es zum ersten Mal vor seiner Abreise aus Hamburg gesehen hat, auf einer handkolorierten Postkarte mit den Vulkanbergen im Hintergrund.

Durch das Rauschen in seinem Kopf dringen jetzt Rufe und Schreie. Sie suchen nach ihm wie Jäger nach einem weidwund geschossenen Wild, und nichts anderes wird er für die Kopfjäger sein. Wenn alles vorbei ist, werden sie seinen Schädel im Qualm einer Räucherhütte präparieren und dann am Eingang des Dorfes auf einen Pfahl spießen, zur Abschreckung ihrer Feinde und zum Schutz gegen die Dämonen des Dschungels.

Schon glaubt er, die zwitschernden Vogellaute zu hören, mit denen sich die Fährtensucher, die Bogenschützen und Speerwerfer untereinander verständigen, wenn sie sich vorsichtig einer Beute nähern.

Oder sind es die Vögel?

Mit großer Anstrengung öffnet er noch einmal seine Augenlider. Der Himmel über ihm ist schwarz. Vor dem heraufziehenden Tropengewitter dringt die Sonne durch ein Loch in der dichten Wolkendecke. Tatsächlich: Der Lichtstrahl erfasst jene fabelhaften Geschöpfe, denen er so lange vergeblich nachgestellt hat, bis er glaubte, sie existierten in Wirklichkeit gar nicht, sie seien nur Ausgeburten menschlicher Fantasie.

Jetzt aber sieht er sie vor sich, ganz nah – die Paradiesvögel!

Sie sind mitten auf der Lichtung gelandet. Ein halbes Dutzend, kaum drei, vier Meter von ihm entfernt. Ihre Federn leuchten im scharfen Sonnenschein wie die Farben des Regenbogens. Gelborange, purpurrot, türkisblau. Kein Vogel gleicht dem anderen. Die Schwanzfedern des einen sind bunt und breit geöffnet wie ein Fächer, die eines anderen schmal und lang wie ein stahlblaues Schwert. Eines der Vogelgesichter ähnelt der Miniatur einer venezianischen Maske. Ein anderes hat schwarz umrandete Augen wie ein Pandabär. Die Vögel schnattern und gluckern, trippeln und tanzen fröhlich durcheinander. Gemeinsam steigen sie wie ein bunter Luftballon bis unter die Kuppel des Urwaldes, bevor sie sich voneinander lösen und wieder einzeln zu Boden schweben wie Seifenblasen.

Dann bilden sie einen Kreis. Ein Vogelweibchen tritt vor. Es schlägt mit seinem Schnabel rhythmisch gegen den Stamm eines vom Sturm gefällten Baumes. Tapp, tapp, tapp ..., tipp, tipp, tipp ..., topp, topp, topp ... Es gurrt und seufzt und kichert, beugt den Oberkörper nach vorn und wackelt herausfordernd mit dem Hinterteil. Ein Hahn mit langer Schwanzfeder lässt sich locken und tritt zum Balztanz an. Die beiden umkreisen einander, schnäbeln und schnuppern und necken sich. Immer wieder bespringt der Hahn das Weibchen. Die Zuschauer trillern und pfeifen dazu – doch urplötzlich stieben die Vögel auseinander, schreien ängstlich, fliegen hoch und verschwinden im grünen Dunkel des Dschungels, aus dem sie gekommen sind.

Aus dem Unterholz schleichen die Jäger hervor, die Handlanger des Todes. Lautlos. Schritt für Schritt. Als sie den am Boden liegenden weißen Mann entdecken, spannen sie ihre Bögen, heben die Speere und die Lanzen.

Doch der Mann im Tropenanzug rührt sich nicht mehr. Sein Blick ist erstarrt. Aber auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln, wie eine Erinnerung an den Tanz der Paradiesvögel, den er zuletzt doch noch mit eigenen Augen gesehen hat.

Der letzte Tanz im Paradies

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