Читать книгу Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull - Страница 15
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ОглавлениеEine schlaflose Nacht spiegelt sich in den müden Gesichtern der Passagiere, die sich bei Tagesanbruch an Deck eingefunden haben. Vorfreude, Tatendrang und Ungewissheit haben die Menschen an Bord der Emily Godeffroy wach gehalten.
Theobald Kolber klopft Sebastian Kleine auf die Schulter und sagt zu Anna Scharnhorst, die sich zu den beiden Männern gesellt hat: »Willkommen im Paradies! Willkommen in der deutschen Südsee, gnädiges Fräulein!«
Alle drei sind ein wenig ergriffen. Jeder hängt seinen Gedanken nach, während die Mannschaft mit lauten Zurufen die Vorbereitung zum Ankerwerfen trifft. Als die schwere Kette in die Tiefe rasselt, faltet Anna ihre Hände und bewegt die Lippen zu einem letzten Dankgebet an Bord der Emily Godeffroy: »Gott Vater, Schöpfer und Erhalter von alters her, aus dem Dunkel der Nacht sind wir zum Leben erwacht ..., im ersten Dämmern des Tages drängen wir zu Dir ...«
Wie auf der kolorierten Ansichtskarte, die Sebastian Kleine im Hamburger Museum Godeffroy gesehen hat, breitet sich eine tropische Insellandschaft vor ihnen aus. Die Blanchebai auf der Gazelle-Halbinsel zieht sich flacher als die von Forster beschriebene Südseeinsel quer über den Horizont, allerdings ragen auf der rechten Seite die Silhouetten dreier mächtiger Vulkane in den heller werdenden Morgenhimmel. Aus einem Kegel steigt dünner Rauch und vermischt sich mit einer durchsichtigen Zirruswolke, die am Vulkangipfel hängen geblieben ist. Im Hintergrund erhebt sich der grüne Urwald. Davor liegen, von Palmenplantagen umgeben, die Wohnhäuser der Kolonialherren, die Verwaltungsgebäude der deutschen Südseekolonie und die Faktoreien der Handelsunternehmen. Auf einem Hochplateau ist die Kirche der katholischen Missionsgesellschaft vom Heiligsten Herzen Jesu mit ihren Doppeltürmen zu erkennen.
Missionsschwester Anna Scharnhorst befühlt mit zitternden Fingern das kleine Bündel mit Briefumschlägen in ihrer Hebammentasche. »In Sehnsucht und voller Ungeduld, aber mit großem Gottvertrauen erwarte ich Deiner ...« So endet der letzte Brief, den sie, mit einer Briefmarke der Neuguinea-Compagnie versehen, wenige Tage vor ihrer Abreise aus dem Rheinland von ihrem Zukünftigen erhalten hat. Er werde herausfinden, wann ihr Schiff in Neuguinea eintreffe. Und natürlich werde er sie mit klopfendem Herzen empfangen. Nun sind es nur noch wenige Augenblicke, dann stehen sie sich dort drüben an Land gegenüber und sehen sich zum ersten Mal. Ob er sie gleich in seine Arme schließen wird?
Damit er sie sogleich erkennt, hat sie ihre dunkelblaue Schwesterntracht mit dem roten Kragen angezogen. Sie legt eine Hand zum Schutz gegen die blendende Sonne an die Stirn und versucht vergeblich, auf dem kleinen Anleger, der sich vor dem Ufer abzeichnet, den Missionar Heinrich Althoff auszumachen. Zwei, drei Dutzend Menschen stehen da drüben, doch noch sind die Gestalten viel zu klein. Wie mag er wohl aussehen? Das Lichtbild, das er ihr geschickt hat, sei zwar schon ein paar Jährchen alt, so hat er geschrieben, aber er habe sich recht gut gehalten.
Auch Sebastian Kleine spürt eine nervöse Vorfreude. Endlich beginnt sein neues Leben, ein Leben, von dem er seit seiner Jugend geträumt hat! Als Naturforscher und Völkerkundler wird er die Flora und Fauna dieser großen Insel im Pazifik erkunden, auf der Suche nach Entdeckungen und nach Abenteuern. Am liebsten möchte er zu den wilden Stämmen, zu den Steinzeitmenschen und Kannibalen. Ihre sagenumwobenen und gefürchteten Geheimbünde möchte er als einer der ersten Europäer gründlich erforschen. Viele tausend Menschen, darunter die bedeutendsten Wissenschaftler, werden seine Expeditionsberichte im Journal des Museums Godeffroy lesen. Eines Tages wird er Mitglied oder sogar Ehrenmitglied der berühmten Anthropologischen Gesellschaft in Berlin werden. Und natürlich wird er zusammen mit Theobald Kolber die Rätsel um diese Diamantenmine lösen, zur Rettung und zum Ruhm des Hauses Godeffroy & Sohn. Seine früheren Kollegen von der Hamburger Criminalpolizei und seine alten Freunde in seinem Heimatort Osten an der Oste werden ihn bewundern. Sogar sein hartherziger Vater wird eines Tages stolz auf ihn sein!
Theobald Kolber bläst freihändig Qualmwolken in den Morgenhimmel. Seine Pfeife klemmt zwischen seinen Zähnen. Er hat beide Hände in die Außentaschen seiner Tropenjacke versenkt. Breitbeinig steht er mitten auf dem Deck in Höhe des Großmastes, legt seinen Kopf in den Nacken und blickt zur godeffroyschen Reedereiflagge hinauf, die schlapp im nachlassenden Fahrtwind gegen die Rahen schlägt. Während der Überfahrt hat er versucht, die Diamanten-Geschichte zu verdrängen. Doch nun wird ihm wieder klar, dass ihm womöglich der wichtigste Auftrag seines Lebens bevorsteht. Wenn es gelingt, diese Diamantenmine zu erwerben und Queen Emma ihre Plantagenbesitzungen abzukaufen, wird das Haus Godeffroy & Sohn saniert werden können. Wenn nicht ... Daran mag er nicht denken. Er bedauert es, dass er den Glauben an die christliche Kirche und ihren allmächtigen Gott verloren hat. Aber er nimmt sich vor, dennoch bei nächster Gelegenheit in der Missionskirche der Brüder vom Heiligsten Herzen Jesu in Vunapope eine große Kerze anzuzünden. Sicher ist sicher.
Sebastian Kleine unterbricht Kolbers Gedankengänge.
»Was meinst du, ob dieser ominöse Klaas van Oranje uns schon am Anleger erwartet?«
»Das glaube ich kaum. An seiner Stelle würde ich uns erst ein bisschen zappeln lassen«, sagt Kolber. »Mein Gefühl sagt mir: Vielleicht gibt es gar keinen Mann, der so heißt, irgendwie klingt dieser Name erfunden. Wenn er sich nicht meldet, werden wir zunächst möglichst unauffällig nach ihm suchen müssen – oder warten. Schließlich wollen er und seine Hintermänner ja offenbar ein Geschäft mit uns machen. Wir müssen uns also in Geduld üben. Wie sagt der Philosoph: In der Ruhe liegt die Kraft!«
Anna Scharnhorst steht ein wenig erhöht hinter einem Rettungsboot auf dem Deck, nur ein paar Meter entfernt von Theobald Kolber und Sebastian Kleine, die sich bei ihrem Gespräch über die Reling gelehnt haben. Der Wind hat einige Worte zu Anna herübergetragen. Sie geht unbemerkt davon. Es wäre ihr sehr peinlich, wenn die Herren denken würden, sie habe das Gespräch absichtlich belauscht.
Am Rande einer kilometerlangen Palmenplantage, zwischen den Orten Herbertshöhe und Vunapope, sitzen zwei Männer versteckt unter den tief herunterhängenden Ästen eines Brotfruchtbaumes.
»Hast du die neue Ausgabe der Sydney Tribune gelesen, die gestern mit dem Postschiff gekommen ist?« Der Ältere zieht eine dünne, zusammengerollte Zeitung aus einem Leinenbeutel. »Auf dem Weltmarkt sind die Preise für Rohdiamanten im vergangenen Jahr um mehr als zwanzig Prozent gestiegen.«
»Eine gute Nachricht«, sagt der andere. »Vortrefflich sogar!«
Sie nehmen ihre Ferngläser und starren wieder durch den Frühdunst auf die offene See hinaus.
»Das ist sie! Das muss die Emily Godeffroy sein!«
»Das hast du gestern auch schon gesagt, und es war doch nur ein vorbeilaufender Kohledampfer aus Singapur.«
»Diesmal ist es ein Windjammer. Er nimmt Kurs auf unsere Bucht«
»Wo?«
»Nordöstlich. Etwa bei zwei Uhr nachmittags! Da läuft ein Schiff in die Blanchebai ein. Wenn ich es richtig sehe, ist es ein Drei- oder ein Viermaster.«
»Ich sehe vor uns nur Möwen. Es ist noch zu dunstig.«
»Hier, nimm mein neues Glas, das ist stärker und schärfer als deins!«
»Jetzt sehe ich es auch. Es ist ein Viermaster.«
»Kannst du die Flagge erkennen?«
»Nein, noch nicht ... doch ... warte einen Moment. Jetzt dreht der Windjammer. Ein schönes Schiff. Am Heck weht eine rotgoldene Fahne!«
»Siehst du einen Falken auf der Flagge?«
»Tatsächlich ...! Sie haben die Falkenflagge gehisst. Gleich zwei sogar! Eine am Heck und eine am Großmast! Es ist die Emily Godeffroy!«
»Lass mich auch mal sehen.«
Die beiden Männer tauschen ihre Ferngläser.
»Jetzt werfen sie Anker. Ich sehe ein, zwei Dutzend Leute an der Reling.«
»Hoffentlich ist unser Mann dabei.«
»Darauf wette ich!«
»Einverstanden. Was setzt du ein?«
»Mein Fernglas. Beste deutsche Wertarbeit, ein neues Voigtländer Binokular. Das kriegst du von mir, wenn er nicht an Bord ist!«
»Okay, ich setzte einen Rohdiamanten dagegen. Ich wette, dass der Herr Generalbevollmächtigte höchstpersönlich mitgekommen ist – dieses Geschäft wird sich Godeffroy & Sohn nicht entgehen lassen wollen.«
Die beiden Männer schütteln sich die Hände, bevor sich an diesem Morgen ihre Wege trennen.
Am westlichen Ende der Blanchebai leuchtet die Sonne nun wie ein Scheinwerfer durch die Gipfel der beiden rund tausend Meter hohen Vulkane hindurch, die von den Eingeborenen »Vater« und »Mutter« genannt werden. In einem Dorf an der Bucht, das auf der hinteren Seite vom Urwald und auf der Vorderseite vom Meer begrenzt ist, schieben Fischer mit langem, vom Salzwasser verfilztem Haar und nackten, tätowierten Oberkörpern ihre Kanus mit den einseitigen Auslegern vom Strand ins flache Wasser. Einige haben kleine Segel gesetzt. Andere paddeln mit weit ausholenden Schlägen in die Bucht hinaus, in die Richtung, in der das große Segelschiff hinter einem parallel zum Ufer verlaufenden Korallenriff geankert hat. Der grelle Sonnenschein blendet die Frauen und Kinder, die bis zu den Knien ins Wasser gelaufen sind und den Booten mit Palmblättern in den Händen nachwinken.
Plötzlich mischt sich eine schrille, fremdartige Musik in das rhythmische Rauschen der Brandung, erst leise, dann immer lauter. Nicht einmal der Komponist Johann Gottfried Piefke selbst hätte aus diesen Tönen seinen berühmten Defiliermarsch »Preußens Gloria« heraushören können. Die bizarren Klänge kommen aus dem Urwald näher, bis sie mit einem gewaltigen Paukenschlag beendet werden.
Eine Kommandostimme brüllt: »Aaaachtung! – Geeweeeehr über! – Voooorwärts marsch, Kameraden ...!«
Aus dem schattigen Dschungel taucht ein seltsamer Trupp auf und marschiert in holprigem Gleichschritt über einen Trampelpfad bis ans Ufer der Blanchebai. Die Parade wird von einem Papua-Mann mit wilhelminischer Pickelhaube angeführt. Sein bloßer Oberkörper glänzt schweißgebadet in der feuchten Morgenluft. Eine Art Lendenschurz ist um seine Hüfte geschlungen. Seine dünnen Beine stecken in viel zu großen Knobelbechern. In seinen waagerecht vorgestreckten Händen trägt er eine Reichskriegsflagge mit Balkenkreuz und Adler. Hinter dem Standartenträger tauchen in Zweierreihen drei Dutzend Polizeisoldaten der Schutztruppe von Deutsch-Neuguinea auf, einige mit Pickelhauben, andere mit Mützen, einige mit Stiefeln, die meisten barfuß. Sie haben Gewehre mit und ohne Bajonett geschultert. Die Musikanten trotten mit einigem Abstand hinter der Truppe her, vier Leute mit Querpfeifen, zwei mit Trommeln, einer mit einer großen Pauke.
Nebenher marschiert ein stattlicher weißer Mann in preußischer Offiziersuniform. Schweiß läuft ihm übers Gesicht in seinen hochgezwirbelten Bart. Als die Kolonne den Strand erreicht, ruft er: »Aaaachtung! – Stillgestaaanden! – Geeweeehr ab! – Die Aaaaugen geeeraaadeaussss!«
Die braunen Soldaten der deutschen Polizeitruppe blicken auf das Meer hinaus, einige mit ernsten Gesichtern, andere mit breitem Grinsen, manche kauen Betelnüsse. Sie beobachten, wie am Heck des in der Bucht ankernden Segelschiffes ein Beiboot zu Wasser gelassen wird. Ein paar Matrosen klettern ein Fallreep herunter und steigen dabei über den Namen des Schiffes, der mit mannshohen Lettern auf die Außenwand gemalt ist:
Emily Godeffroy Hamburg
Vom Ufer aus beobachten die Schutztruppensoldaten, wie sich das Ruderboot auf den auslaufenden Wellen sprungartig dem Ufer nähert. Dann wenden sie ihre Köpfe, alle zur selben Zeit. Hinter ihnen sind Pferdegetrappel und quietschende Räder zu hören. Über den sandigen Urwaldpfad rollt eine überdachte weiße Kutsche heran. Auf dem Bock zieht ein livrierter, dunkelhäutiger Kutscher die Zügel des Pferdes an. Das Gefährt hält.
In der Fensteröffnung der Seitentür sehen die Soldaten und ihr Kommandant den Kopf und den Oberkörper einer Dame mittleren Alters. Ein elegantes weißes Kleid betont ihre bronzefarbene Haut. Sie trägt ein Hütchen mit einem herabhängenden Schleier, der durch eine mit großen Edelsteinen besetzte Brosche wie ein Diadem wirkt. Sie wedelt mit einem Palmenfächer Moskitos weg, die ihren Schleier umschwirren. Ein Diamantring blitzt bei jeder Bewegung.
Ohne einen Befehl bekommen zu haben, nehmen die Soldaten einer nach dem anderen Haltung an. Sie präsentieren ihre Gewehre und führen die Hände militärisch grüßend an die Stirn.
»Willkommen Queen Emma!«, ruft der Kommandant. Er nähert sich devot lächelnd der Kutsche, bleibt davor stehen und knallt die Hacken zusammen.
»Aber warum denn so förmlich, mein lieber Herr Hauptmann«, sagt Queen Emma mit einer dunklen vibrierenden Stimme. Sie fingert in einem weißen Handtäschchen herum, legt eine Pistole mit Perlmuttgriff auf das rote Samtpolster neben sich und reicht schließlich einige Umschläge aus dem Fenster. Dann deutet ihre mit einem funkelnden Diamanten geschmückte linke Hand aufs Meer.
»Wenn Sie bitte diese Einladungen dem Herrn Kapitän der Emily Godeffroy geben wollen: Ich erwarte ihn und seine Herren Schiffsoffiziere morgen, eine Stunde vor Sonnenuntergang, zu einem Empfang auf Gunantambu. Und dies hier ist ein persönlicher Brief für den Generalbevollmächtigten der Firma Godeffroy. Richten Sie Herrn Theobald Kolber und seinen Begleitern meine ganz besonderen Grüße aus!«
Der Kommandant der Schutztruppe nimmt wieder Haltung an und präsentiert seinen Degen.
Queen Emma beugt ihren verschleierten Kopf und ihren Oberkörper weit aus der Seitentür heraus und ruft: »Sie sind mir trotz ihres zweifelhaften Rufes ebenfalls willkommen, Herr Hauptmann Schmeile!«
Der Angesprochene starrt wie gebannt in das üppige, schweißglänzende Dekolleté, das in leichte Schwingungen gerät, als die Kutsche sich wieder in Bewegung setzt.