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Hamburg, Donnerstag, 3. März 1898

Ein für die Jahreszeit ungewöhnlich kräftiges Hochdruckgebiet hat sich über dem östlichen Atlantik und der Biskaya festgesetzt und führt milde Luft aus Südeuropa in den Norden Deutschlands. Tagsüber ist es schon so warm wie sonst erst Anfang Mai. An diesem Morgen liegen an den Landungsbrücken große Gefühle in der Vorfrühlingsluft – Fernweh und Sehnsucht, Lust auf Abenteuer und Angst vor der Zukunft, Liebe und Trauer, Vorfreude und Abschiedsschmerz.

Mit dem ablaufenden Wasser der Elbe soll die Emily Godeffroy aus dem Hamburger Hafen auslaufen. Ein schönes, elegant gezeichnetes Schiff, das jüngste und modernste in der Flotte der größten Hamburger Handelsreederei. Vor zwei Jahren ist es in der konzerneigenen Reiherstiegwerft vom Stapel gelaufen. Hundert Meter lang ist der aus Stahl genietete Schiffskörper. Die holzgeschnitzte Galionsfigur mit ihren kaum verhüllten üppigen Brüsten hat mit einiger Vorstellungskraft eine gewisse Ähnlichkeit mit der Namensgeberin Emily Godeffroy.

Die Reiseziele des Windjammers sind Batavia, Singapur, die Südsee und Australien. Hundert Tage wird der Frachtsegler, in dessen Laderäumen bis zu 3000 Tonnen Güter verstaut werden können, voraussichtlich unterwegs sein. Nur ein paar hundert Tonnen Fracht sind in Hamburg an Bord genommen worden, darunter Handels- und Tauschgüter aller Art für das Geschäft mit den Südseeinsulanern. Eine kleine Gruppe von dreißig Auswanderern, darunter nur ein halbes Dutzend Frauen, wird im ausgebauten, niedrigen Zwischendeck untergebracht. Die meisten von ihnen sind zweit- oder drittgeborene Söhne aus dem Bauernland an der Unterelbe, die sich am anderen Ende der Welt als Farmer eine eigene Existenz aufbauen wollen. Auch ein paar Burschen fallen auf, bärenstark und tätowiert und mit finsterem Gesichtsausdruck, die erst kürzlich aus Gefängnissen des Hamburger Umlandes entlassen worden sind.

Jetzt drängen sich die meisten Passagiere an der Backbordseite. Angehörige und Freunde und Abordnungen ihrer Heimatorte stehen unten auf den Landungsbrücken, rufen und lachen und winken und weinen.

Sebastian Kleine wedelt mit einer zusammengerollten Zeitung ziellos in die Menge, denn niemand ist da, der ihm persönlich Abschied bereitet. Dennoch ist er bester Stimmung. Schließlich hat er sich lange genug auf diesen Moment gefreut, an dem das große Abenteuer seines Lebens beginnen soll.

Neben ihm schiebt ein Mann mittleren Alters einen Pfeifenstil in seinen sorgsam gestutzten Bart und pafft blaugraue Wölkchen, die nach Backpflaumen riechen, in die Hamburger Morgenluft. Beide beobachten den Kapitän der Emily Godeffroy, der für die Ausfahrt offenbar seine beste Uniform mit goldglänzenden Schulterstücken angelegt hat und der nun mit wichtigen Gesten und lauten Rufen seine Leute dirigiert.

Der Mann mit der Pfeife grinst zu Sebastian Kleine herüber, zeigt auf den Kapitän und sagt: »Kennen Sie diese Geschichte? Neulich kommt so ein uniformierter Kapitän aus dem Atlantik-Hotel. ›Rufen Sie mir sofort eine Droschke‹, grölt ein betrunkener Hotelgast. – ›Hören Sie mal, ich bin nicht der Portier, ich bin ein Kapitän‹, sagt der Kapitän. – ›Auch gut‹, sagt der Trunkenbold, ›dann holen Sie mir eben ein Schiff ...‹ Der Pfeifenraucher und Sebastian Kleine lachen gemeinsam so laut, bis der Kapitän der Emily Godeffroy zu ihnen herübersieht.

Eine hübsche junge Dame mit großen Augen und blondem Haar, das unter einer kleinen Kappe hervorquillt, geht mit schwingenden Schritten an ihnen vorbei, rutscht auf den feuchten Deckplanken aus, hält sich gerade noch an der Reling fest und lässt dabei zwei Bücher fallen, die sie unter den Arm geklemmt hatte.

Die beiden Männer bücken sich gleichzeitig. »Sieh an, die Heilige Schrift«, sagt der Pfeifenraucher und reicht ihr das Neue Testament mit schwarzem Einband und goldenem Kreuz zurück. »Es kann nicht schaden, wenn Sie bei dem Herrn da oben ein gutes Wort für uns und unsere Reise einlegen.«

Sebastian Kleine wirft einen Blick auf den Titel des zweiten Buches. »Effi Briest« und »Theodor Fontane« liest er auf dem mit Jugendstil-Ornamenten verzierten Umschlag. »Sie sind aber recht vielseitig interessiert«, sagt er, »ist das nicht dieser tragische Liebesroman über eine unglückliche junge Dame, der in der preußischen Gesellschaft Aufsehen erregt hat?« Die junge Frau errötet, bedankt sich und geht mit ihren Büchern zum Heck des Schiffes, offenbar liegt dort ihre Kabine.

Ein Offizier brüllt Kommandos. Acht Jungmatrosen klettern die Wanten hoch auf die quer an den Masten befestigten Rahen – mehr eine Demonstration ihres Könnens für die Passagiere an Bord und für die Zuschauer an Land, die das Spektakel bestaunen. Tatsächlich werden die Großsegel erst viel später gesetzt, in der Elbmündung bei Cuxhaven, kurz vor Erreichen der offenen Nordsee. Jetzt verbinden noch armdicke Taue den Bug des Seglers mit den Duckdalben im Elbstrom und den Pollern am Ufer. Auf den Landungsbrücken sind eine Feuerwehrkapelle und ein Shantychor angetreten. Musikanten und Sänger versuchen, sich gegenseitig zu übertönen.

Als gehe sie das alles nichts an, laden Elbfischer und Gemüsehändler aus dem Alten Land ihre Waren von Fischkuttern und Hafenbarkassen auf zweirädrige Karren und machen sich auf den Weg zu den Märkten der Hansestadt. Unter einem schwarzen Tuch stellt ein Fotograf dieses geschäftige Postkartenmotiv scharf, das auf der abgedunkelten, handgroßen Mattscheibe auf dem Kopf steht: die prächtige Emily Godeffroy und davor die winkenden Menschen, die Musikanten, die Fischer und Händler – die noch tief stehende Sonne taucht die Szene in kontrastreiches Seitenlicht. Der Fotograf stellt eine kleine Blende ein und eine Belichtungszeit von drei Sekunden. Dann drückt er vorsichtig auf den Drahtauslöser seiner auf einem Holzstativ festgeschraubten Plattenkamera. Ausgerechnet während der Belichtungszeit rollt eine zweispännige Kutsche in schneller Fahrt durch das Bild. Das wird einen unscharfen großen Streifen hinterlassen. Laut fluchend, taucht der Fotograf unter seinem Tuch auf und beschimpft den Kutscher. Ob er denn keine Augen im Kopf habe? Die teure, mit Bromsilber beschichtete Glasplatte könne er nun wegwerfen!

Der Kutscher kümmert sich nicht um den Lichtbildner. Er springt eilfertig von seinem Bock und hält die Tür der vornehmen Kalesche auf. Ein Herr klettert heraus und geht mit schnellen Schritten zur Gangway, die gerade von einigen Matrosen an Bord gezogen wird.

»Zu spät ist zu spät!«, ruft einer der Männer und lacht schadenfroh. Das Lachen vergeht ihm, als der Kapitän erscheint und ihn lauthals zusammenstaucht.

»Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben, Mann ...? Da kommt Herr Godeffroy! Unser Reeder!«

Eilig wird die Gangway wieder ausgefahren. Der Kapitän geht seinem Arbeitgeber mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Wann wollen Sie auslaufen?«, fragt Godeffroy freundlich, aber kurz angebunden.

»In einer Stunde, wenn das Wasser kippt und in die Nordsee abläuft«.

»Bedaure, aber Sie müssen das Auslaufen wohl ein wenig verschieben, Kapitän«, sagt Godeffroy, und erklärt, er benötige die Kapitänssuite für ein dringendes vertrauliches Geschäftsgespräch mit zwei Herren, die bereits an Bord seien. Ein, zwei Stunden könne das schon dauern. Ach ja, und ein kräftiger Morgenkaffee für drei Personen wäre eine sehr gute Idee.

»Es ist Ihr Schiff und Ihr Geld«, sagt der Kapitän, »aber zwei Stunden, das ist zu viel, sonst muss uns ein Schlepper gegen die auflaufende Flut bis nach Cuxhaven ziehen. Das wird teuer.«

»Zeit und Geld sind immer gute Argumente«, sagt Godeffroy. »Wenn Sie nichts dagegen haben, bleibe ich bis Blankenese an Bord. Dort können Sie mich an Land rudern lassen, und dann bin ich ja gleich in meinen Haus am Süllberg.«

»Kein Problem, das lässt sich machen, Herr Godeffroy!«

Der Kapitän knallt die Hacken zusammen. Die herumstehenden Matrosen salutieren stramm, als wären sie auf einem Kriegsschiff. Fehlt nur noch, dass die beiden kleinen Signalkanonen abgefeuert werden, denkt Sebastian Kleine, der nur wenige Meter entfernt inmitten der anderen Passagiere vom etwas erhöhten Achterdeck aus diese Szene beobachtet. Er zuckt zusammen, als er seinen Namen hört. Der Kapitän, so teilt Godeffroy lautstark mit, möge zwei Passagiere, zwei wichtige Mitarbeiter des Hauses Godeffroy, unverzüglich in seine Kajüte bitten lassen, und zwar die Herren Kolber und Kleine.

Tagebuch Sebastian Kleine, Freitag, 4. März 1898

Diese erste Eintragung meines Tagebuches schreibe ich an meinem ersten Abend an Bord der Emily Godeffroy, nachdem wir die offene Nordsee erreicht haben und die Lichter von Cuxhaven am nachtdunklen Horizont erloschen sind. Ich sitze in meiner kleinen Kabine. Die See ist ruhig. Das Licht einer an die Wand montierten Petroleumlampe fällt auf eine kleine Schreibplatte und auf dieses noch weiße Blatt Papier. Da ich wohl noch lange keinen Schlaf finden kann, will ich die Zeit nutzen und auf die Ereignisse des heutigen Tages und ein wenig weiter zurückblicken.

Zu Beginn meiner Aufzeichnungen möchte ich späteren Lesern jedoch auch das Folgende mitteilen: Da meine Mutter kürzlich verstorben ist und ich mich mit meinem Vater unheilvoll zerstritten habe, widme ich dieses Tagebuch dem Mann, der mir die Möglichkeit gegeben hat, meinen Traum von einem neuen Leben in der fernen Inselwelt der Südsee zu verwirklichen, Herrn Johan Cesar Godeffroy.

Einerseits kann diese Agenda als Tätigkeitsnachweis für die Firma Godeffroy & Sohn dienen, andererseits gebe ich mich der Hoffnung hin, dass meine kommenden Erlebnisse, Entdeckungen und Abenteuer eines Tages auch einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden können. Dieses Tagebuch kann dann als Grundlage für Artikel im Journal des Museums Godeffroy oder sogar für ein Buch dienen. Auch deshalb erlaube ich mir, einige Anmerkungen über meinen bisherigen Lebenslauf voranzustellen:

Mein Name ist Sebastian Kleine, ich bin der zweite Sohn von Heinrich Wilhelm Kleine, einem Großbauern und Ziegeleibesitzer aus dem Ort Osten an der Oste, in der Nähe von Cuxhaven an einem Nebenfluss der Unterelbe gelegen.

Möglicherweise wird einiges in meinem Wesen verständlicher, wenn ich zunächst erkläre: Ich habe keine Geschwister – ich habe einen Zwillingsbruder. Das ist etwas anderes, es heißt, dass es mich im Prinzip zweimal gibt. Einen Zwillingsbruder zu haben war in der Kindheit noch sehr schön, doch in der Zeit des Heranwachsens hat sich dies für mich und meine Familie zu einem Problem entwickelt.

Mein Bruder Wilhelm – er wurde nach unserem Kaiser auf diesen Namen getauft – soll zehn oder zwölf Minuten älter sein als ich. Das macht dem ersten Anschein nach nicht viel aus. (Äußerlich gleichen wir uns – bis auf das Haar, denn seins ist dunkelblond, mein Schopf schimmert ein wenig rötlich.) Bei uns auf dem Lande allerdings sind diese Minuten entscheidend für das ganze Leben. Denn der erstgeborene Sohn, ganz gleich, ob er zehn Jahre oder zehn Minuten älter ist, wird nach einem ungeschriebenen Stammesgesetz, das wohl noch aus den Anfangszeiten von Ackerbau und Viehzucht bei den Germanen stammt, der alleinige Erbe des gesamten elterlichen Besitzes. Der Älteste übernimmt Haus und Hof und in unserem Falle auch die Fabrik, wenn man eine größere Ziegelei, wie wir sie hinterm Deich an der Oste betreiben, eine Fabrik nennen will. Weil das so ist, hat mein älterer Zwillingsbruder auch von Geburt an alle Privilegien des Erben und künftigen Oberhauptes des Hauses gehabt. Das wäre für mich kein Problem, wenn es dabei nur um geschäftliche und materielle Dinge gegangen wäre. Mein Bruder Wilhelm bekam jedoch auch die größte Achtsamkeit und Liebe meiner Eltern, besonders die meines Vaters, so dass für mich nur wenig Zeit und Zuneigung übrig blieb.

Wir Söhne wurden schon früh auf die Felder, in die Obstplantagen und in die Ziegelei mitgenommen. Mein Vater stellte meinen Bruder Wilhelm in meiner Gegenwart den Arbeitern und Geschäftspartnern mit großer Geste als seinen Erben und als den künftigen Chef des Betriebes vor. Das machte mich natürlich eifersüchtig, traurig und auch wütend. Ich wurde so jähzornig, wie es bei meiner rotblonden Haarfarbe zu erwarten war. Und weil ich ein wenig stärker als mein zehn Minuten älterer Bruder gewesen bin, habe ich bei unseren Prügeleien meistens obsiegt. Wilhelm lief dann heulend nach Hause. Dafür hat mein Vater mich dann geschlagen. Es setzte Ohrfeigen und Prügelstrafen mit dem Ledergürtel auf das nackte Hinterteil. Mein Bruder stand als Zeuge und als Opfer daneben. Er hat gelacht, wenn ich vor Schmerzen schrie. Da habe ich ihn gehasst.

Meine Gefühle änderten sich erst, als wir das Gymnasium in Stade besuchten und bei Verwandten in dieser kleinen Fachwerkstadt wohnten. Mit zunehmender Bildung und mit meinem wachsenden Interesse an Menschen, an der Natur, an fremden Völkern und Ländern wurde mir klar: Mir steht die Welt offen – meinem Bruder Wilhelm nicht. Ich würde mir einen Beruf aussuchen können, der meinen Neigungen entsprach – er musste das Erbe antreten und weiter in der begrenzten, wenn auch schönen kleinen Welt an der Oste leben. Fortan beneidete ich meinen Zwillingsbruder nicht mehr, ja, ich fühlte ich mich ihm sogar überlegen.

Da mein Vater Wilhelm zu seinem Alleinerben ernannt hatte, finanzierte er mir ein Jurastudium in Hamburg, damit ich auf eigenen Beinen stehen konnte. Danach beschloss ich, eine Karriere bei der Polizei anzustreben. Ich wurde Kommissar-Anwärter und war zwei Jahre lang bei der neu gegründeten Criminalpolizei im Vorort St. Pauli tätig. Dies war eine doch eher anspruchslose und langweiligere Tätigkeit, als ich mir vorgestellt hatte, denn überwiegend war ich als jüngster Mann der Abteilung mit der Aufklärung von nicht besonders aufregenden Diebstahls- und Betrugsdelikten befasst.

Von Kindheit an haben mich fremde Länder und Völker interessiert. Deshalb habe ich mich seit meiner Schulzeit, neben dem Studium und später auch neben der Polizeiarbeit, stets intensiv mit Geografie und Ethnologie beschäftigt. Besonders die noch weitgehend unerforschten Inseln und Völker im südlichen Pazifik haben mich fasziniert, seitdem ich die Aufzeichnungen des großen deutschen Entdeckers Georg Forster gelesen hatte, der diesen Teil der Welt mit dem berühmten britischen Kapitän James Cook bereist und erforscht hat.

Auf Empfehlung eines in der Hamburger Geschäftswelt tätigen Onkels habe ich mich bei dem bekannten Handelshaus Godeffroy & Sohn beworben, als Mitarbeiter des zu diesem Hause gehörenden Museums. Zu meiner Überraschung hat mich Herr Johan Cesar Godeffroy senior persönlich in seinem Kontorhaus empfangen und mich nach einem anregenden Gedankenaustausch tatsächlich engagiert. Offenbar hatten mein Wissen über die Südsee sowie meine frühere Tätigkeit bei der Polizei einen entsprechend positiven Eindruck hinterlassen. Meinerseits war ich von der Freundlichkeit und Souveränität des berühmten Mannes äußerst beeindruckt. Als Herr Godeffroy mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, nach einer mehrmonatigen Einführung durch Museumskustos Doktor Schmalz für sein Haus als Sammler und Forscher in der Südsee zu arbeiten, hatte ich Mühe, meine Begeisterung zu zügeln.

Am Abend des 2. März, also gestern, sollte ich mich an Bord des Windjammers Emily Godeffroy an den Hamburger Landungsbrücken einfinden, dessen Abreise für den heutigen Donnerstag vorgesehen war.

Ich war natürlich zur fraglichen Zeit da und kontrollierte sorgfältig mein Gepäck, das kurz nach mir von einigen starken Männern der Firma Godeffroy an Bord geschleppt wurde. Außer meinen Privatsachen besteht es aus drei Kisten mit zahlreichen Fachbüchern in deutscher und englischer Sprache über Pflanzen- und Tiervorkommen auf den Inseln des Pazifik. Auf meiner Inventarliste, die ich gemeinsam mit Museumskustos Schmalz zusammengestellt habe, stehen unter anderem: Chinintabletten gegen Malaria, zwei Lupen, ein Mikroskop, sechs Insektenkästen, ein Dutzend Blechkanister mit Spiritus zum Konservieren, 20 Pfund Gips, zehn Pfund diverse Pulver, zwei Kistchen Gift, Glaskäfige für lebendige Schlangen und Echsen, einhundert Gläser für Pflanzen und Getier, drei Fässer Salz und nicht zuletzt eine Fotografieausrüstung mit einer modernen Voigtländer Plattenkamera, deren Handhabung ich bei einem Hamburger Fotografenmeister erlernt hatte. Meine Ausrüstung wurde unter meiner Aufsicht sorgfältig in einem kleinen Lagerraum neben meiner Kajüte verstaut.

Diese Kajüte im Heck, gleich neben den Kabinen der Schiffsoffiziere, ist klein, aber recht komfortabel. Es gibt eine Koje, fest eingebaute Schränke und Regale und eine ausklappbare Schreibplatte unter einem Bullauge, an dem ich nun sitze und diese Niederschrift im Schein einer Messingöllampe anfertige.

Wie die anderen Passagiere auch war ich heute bei Tagesanbruch auf den Beinen, um das Ablegen der Emily Godeffroy zu erleben. Und ich war außerordentlich überrascht, als ich in die Kapitänssuite zu einem folgenreichen Gespräch mit Herrn Godeffroy und Herrn Theobald Kolber gerufen wurde.

Von Herrn Kolber und seiner Arbeit hatte ich bereits viel Gutes und auch Abenteuerliches gehört. Ich wusste, dass er der Generalbevollmächtigte des Hauses Godeffroy für den gesamten Südseeraum ist, also einer der wichtigsten Leitenden Mitarbeiter meiner Firma. Einige Tage vor der Abreise hatte Herr Godeffroy mir erklärt, Herr Kolber sei während meiner Tätigkeit in der Südsee mein direkter Vorgesetzter, dem ich regelmäßig über meine Arbeit Rechenschaft abzulegen hätte. Ich würde Herrn Kolber erst an Bord der Emily Godeffroy kennenlernen, vorher habe er aus geschäftlichen und privaten Gründen leider keine Zeit zu einem Gespräch.

Nachdem ich nun ein wenig nervös den Niedergang am Heck des Schiffes zur Kapitänssuite hinuntergestiegen war, erkannte ich zu meinem Erstaunen, dass ich Herrn Theobald Kolber bereits begegnet war: Der freundliche Mann mit dem Vollbart und der Pfeife, der neben mir an Deck gewesen war, stand nun neben Herrn Godeffroy, drückte mir kräftig die Hand, zwinkerte mir zu und sagte, wir beide hätten uns ja lange nicht gesehen ...

Sebastian Kleine sieht erstaunt, wie der große, breitschultrige Theobald Kolber den schmächtigen Johan Cesar Godeffroy bei der Begrüßung in der Kapitänskajüte herzhaft an sich drückt.

»Das freut mich nun aber wirklich, dass du uns noch persönlich verabschieden willst«, sagt Kolber mit belegter Raucherstimme, offensichtlich gerührt. Ein Gefühl, das nicht recht zu diesem harten Mann passen will. Mit seinem vom Leben und von der Südsee-Sonne zerfurchten Gesicht, mit graubraunem Vollbart und grob gestricktem Norwegerpullover wirkt er wie ein abgewetterter Seemann – ganz im Gegensatz zu Godeffroy, der in seinem grauen Kontoranzug und hinter dicker Brille den blassen Büromenschen verkörpert.

Sebastian Kleine blickt diskret zur Seite und betrachtet die komfortable Kapitänssuite.

Wenn da nicht das sanfte Schaukeln des großen Schiffes am Anleger wäre, könnte man glauben, in einem holzgetäfelten Herrensalon an der Hamburger Alster zu sein, im Überseeclub, in einem der feinen Rudervereine oder in der Vereinigung Ehrbarer Kaufleute. Die im Heck gelegene Unterkunft des Kapitäns hat die Ausmaße und Ausstattung einer kleinen Suite im Hotel Atlantic, in der Kleine einmal mit seinen Eltern bei einem Hamburg-Besuch übernachtet hatte. Die Kapitänskajüte ist etwa dreißig Quadratmeter groß, mit einem ausladenden Ess- und Arbeitstisch für zehn oder zwölf Leute in der Mitte, mit grün gepolsterten Sitzbänken, mit Einbauschränken und Bücherregalen aus Mahagoni und Decken- und Wandlampen aus poliertem Messing. Ein großer Facettenspiegel und goldgerahmte Schiffsbilder sind an die hell getäfelten Wände geschraubt. In einem großen, reich verzierten Gusseisenkamin mit geöffneten Türen qualmen noch vom Vorabend ein paar verkohlte Holzscheite.

»Wir haben so einen ähnlichen Kamin in unser Haus in Övelgönne einbauen lassen, der heizt wunderbar«, erklärt der Kapitän, bevor er sich zurückzieht und mit stampfenden Schritten die steile Treppe zur Brücke hinaufgeht.

Auf der mit grünem Leder ausgelegten Platte des großen Tisches dampft kräftiger schwarzer Kaffee in drei Porzellanpötten mit britischen Hafenmotiven.

»Vorsicht, der ist verdammt heiß«, sagt Theobald Kolber und leckt sich die verbrannte Unterlippe.

Godeffroy erklärt Theobald Kolber, warum er »diesen hoffnungsvollen jungen Mann hier« zu dem Gespräch hinzuziehen wolle. »Ich habe dir ja erzählt, dass Herr Kleine ein ausgebildeter Detektiv ist, ein ausgesprochen begabter und engagierter Mann, wie mir der Polizeipräsident persönlich versichert hat, und so einen Ermittler brauchen wir für den Fall, den ich jetzt erörtern möchte.« Seine Miene und seine Stimme werden ernst, als er fortfährt: »Was ich jetzt sagen werde, ist höchst vertraulich, denn möglicherweise steht dabei eine ganze Menge auf dem Spiel – vielleicht sogar die Existenz des Hauses Godeffroy & Sohn ...«

Der letzte Tanz im Paradies

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