Читать книгу Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull - Страница 18
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ОглавлениеIn den Faktoreien der Handelsfirmen und in der Kolonialverwaltung, in den besseren Wohnhäusern der Gazelle-Halbinsel, auf den Schiffen, die in der Blanchebai ankern, auch in der zentralen Missionsstation im Nachbarort Vunapope – überall bereiten sich die geladenen Gäste auf das Fest in Gunantambu vor, dem palastartigen Anwesen von Queen Emma in Ralum, einem Nachbarort von Herbertshöhe. Die Damen holen ihre schönsten, selten getragenen Kleider aus den Schränken. Die Herren lassen die Tropenanzüge aufbügeln. Sebastian Kleine und Anna Scharnhorst können ihre Vorfreude kaum verhehlen, während sie in den Tagen nach ihrer Ankunft den kleinen Ort Herbertshöhe und die nähere Umgebung erkunden. Theodor Kolber hat versprochen, sie mit seiner Kutsche abzuholen.
Anna Scharnhorst steht wartend im Eingang des Hotel Fürst Bismarck. Gebannt blickt sie die Straße hinunter auf die abendliche Blanchebai hinaus.
So einen Sonnenuntergang hat sie zuletzt als Schulkind vor Augen gehabt: Der Sonnenball hängt rot und riesig groß vor einem tiefblauen Himmel. Im Vordergrund plätschert dunkles Wasser, links und rechts ragen scherenschnittartige Weidenzweige in die Szenerie. Das Bild »Abendstimmung am Niederrhein« hatte sie mit farbigen Wachsstiften selbst gemalt, und Frau Töpfer, die Klassenlehrerin, hatte ihr die beste Note dafür gegeben. Sie war sehr stolz, denn das war die erste Eins in ihrer Schulzeit gewesen.
Nun bestaunt sie ehrfürchtig eine ähnliche Idylle. Diesmal ragen Palmenzweige in die gewaltige Sonne, die mit atemberaubendem Tempo im schwarzblauen Pazifik eintaucht, als wäre es für immer.
Der Widerschein färbt die Fassaden der Gebäude an der Hauptstraße von Herbertshöhe glutrot. Anna kennt bereits die Polizeistation, das Postamt, die Kolonialverwaltung, die Faktoreigebäude der Hamburger Handelshäuser Hernsheim und Godeffroy sowie kleinere Niederlassungen australischer Firmen. Über den deutschen Häusern hängen die schwarz-weiß-roten Fahnen schlaff an ihren Masten. Ein paar Menschen spazieren am Strand entlang. Fröhliches Kindergeschrei ist zu hören.
Zu ihrer Linken sind im Hintergrund die Silhouetten der drei Vulkane zu sehen. Bei völliger Windstille steigt aus dem größeren Kegel eine dünne Rauchfahne senkrecht in den dunkelblauen Himmel.
Anna sucht nach einem passenden Gebet, mit dem sie dem Schöpfer für den unvergesslichen Eindruck, für diesen Moment des Glücks danken könnte. Spontan fällt ihr stattdessen nur ein Lied ein »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt ...« Gott hat ihr diese Gunst erwiesen. Ihre Enttäuschung, weil sie vergeblich auf ihren Verlobten gewartet hat, verblasst in diesen Momenten gegen das Glücksgefühl, das sie in sich aufsteigen fühlt.
Anna hat ihre Haare hochgesteckt. Eine schlichte Perlenkette betont ihren schlanken Hals. Sie trägt ein cremefarbenes, tailliertes Seidenkostüm mit kleinem Stehkragen, das ein wenig zu groß für sie ist, denn die bald geschiedene Frau von Theobald Kolber, aus deren Bestand das maßgeschneiderte gute Stück ausgeliehen ist, hat wohl eine vollschlankere Figur. Einige Herren in den Ausgehuniformen der kaiserlichen Marine sehen von der Hotelterrasse aus bewundernd zu ihr herüber.
Endlich kommt die Kutsche. Theobald Kolber steigt aus und hilft ihr galant in den Wagen. Sebastian Kleine starrt Anna an, als sehe er sie zum ersten Mal. Er will etwas Charmantes sagen.
»Sie sehen ja wie eine richtige Dame aus, Fräulein Anna, man mag gar nicht glauben, dass Sie nur eine Missionsschwester sind.«
»In dem weißen Tropenanzug hätte ich sie auch kaum wiedererkannt«, sagt Anna schnippisch zu Kleine, der neben Kolber in der Kutsche sitzt.
»Sehr liebenswürdige Komplimente machen sich die jungen Herrschaften«, sagt Theodor Kolber und lacht.
Eine halbe Stunde dauert die Fahrt über die sandige Küstenstraße. Die letzten Häuser liegen bald hinter ihnen. Die brütende Hitze bleibt zurück. Ein angenehmer Wind weht vom Meer. Im Schritttempo passieren sie das Nachbardorf Kokopo. Auf dem großen Platz sitzen die Eingeborenen um ein offenes Feuer herum. Es riecht nach versengten Federn und nach angebranntem Fleisch. Flammen flackern über dunkle Gesichter, in denen das Weiß der Augäpfel aufleuchtet.
Nach einer halben Stunde erreichen sie den Plantagenort Ralum und kurz darauf die breite Einfahrt von Gunantambu. Hier sind bereits zwei Dutzend Kutschen abgestellt. Nach ihnen treffen immer noch neue Gäste ein.
Die Herren grüßen Kolber stets zuerst, die meisten mit kaum getarnter Unterwürfigkeit, andere so jovial, dass ihre Selbstsicherheit aufgesetzt erscheint. Kein Zweifel, so fällt Sebastian Kleine auf, der Repräsentant des Hauses Godeffroy für die Südsee ist eine Autorität, eine Respektsperson. Der Eindruck verstärkt sich noch, als ein Mann aus dem Halbdunkel hervortritt und eilig auf sie zukommt. Genauer gesagt: Ein gewaltiger, hochgezwirbelter Schnauzbart erscheint, gefolgt von einem eher unscheinbar wirkenden Herrn, der allerdings eine auffallende Tropenuniform trägt, mit Schulterklappen und einem Dutzend Orden am Jackett.
»Mein lieber, verehrter Herr Kolber, schön, Sie endlich zu sehen. Ich habe schon von Ihrer Rückkehr gehört und leider vergeblich auf Ihren Besuch in unserem neuen Verwaltungsgebäude gehofft«, sagt er und streckt seine Hand weit aus.
»Sie hätten ja auch in mein Kontor kommen können, Herr Gouverneur«, antwortet Kolber trocken, »wo Sie mich allerdings über einen Haufen Arbeit gebeugt angetroffen hätten.« Auch er freue sich, den Vertreter des großen deutschen Kaisers bei guter Gesundheit und in bester Laune vorzufinden. Er suche hiermit schon einmal um eine Audienz für einen der nächsten Tage nach. Er müsse ihn in einer dringenden und vertraulichen Angelegenheit sprechen.
»Darf ich Ihnen meine beiden Begleiter vorstellen«, sagt Kolber und wendet sich an Sebastian Kleine und Anna Scharnhorst: »Dies ist Dr. Albert Hahl, der Gouverneur von Deutsch-Neuguinea, der beste, den wir bisher hatten – und das zu sagen fällt mir eingedenk seiner beiden unfähigen Amtsvorgänger nicht sehr schwer.«
Hahl lächelt geschmeichelt über die undiplomatische Anzüglichkeit hinweg. Mit wichtiger Miene berichtet er von den jüngsten politischen Nachrichten, die er gerade aus Berlin erfahren habe: Aus den Reichstagswahlen seien die Sozialdemokraten mit großem Abstand als die stärkste Fraktion hervorgegangen. Mit mehr als 27 Prozent hätten sie fast so viele Stimmen erhalten wie die konservativen Nationalliberalen und die Zentrumspartei zusammen.
»Bismarcks Sozialistengesetze haben der SPD immer mehr Sympathisanten und Wähler zugetrieben, vor allem natürlich unter der Arbeiterschaft, das war eine völlig falsche politische Entscheidung, und die Aufhebung dieser Gesetze hat die Wogen bis heute nicht glätten können«, sagt Kolber.
»Die Sozialdemokraten haben ja mit Bebel und Liebknecht leider hervorragende Redner und zugleich üble Demagogen, die wettern im Reichstag gegen jedwede deutsche Kolonialbestrebung, die sägen an dem Ast, auf dem wir in den Kolonien sitzen«, sagt Hahl und schüttelt den Kopf. Seit die Regierung Anfang März mit den Chinesen einen über 99 Jahre laufenden Pachtvertrag für die Marinestation Kiautschou abgeschlossen habe, würden die Mittel für die anderen Kolonien noch mehr gekürzt.
»Und was gibt es Neues in unserer deutschen Südsee? Habe ich während meiner Abwesenheit etwas Wesentliches verpasst?« Kolber beugt sich vertraulich zu Hahl vor, als erwarte er besondere Informationen.
»Das wissen Sie doch besser als ich, lieber Kolber, die Geschäfte in den Faktoreien laufen zufriedenstellend, und die Geschäftsleute sind wie immer unzufrieden.«
Ob es denn stimme, dass einige australische Goldsucher in Deutsch-Neuguinea Land von Eingeborenen gekauft hätten?
»Diese Glücksritter haben ja kein Gold gefunden, wie man hört. Und im Übrigen sollen sie ihr von Stammeshäuptlingen erworbenes oder erschwindeltes Land inzwischen an deutsche Bürger verkauft haben.« Genaues wisse er noch nicht.
»Würden Sie mir freundlicherweise sagen, wie diese Sache steht, aus grundsätzlichem Interesse?«
Der Gouverneur ist offensichtlich froh, als Sebastian Kleine das Thema wechselt und das Gespräch von der Politik auf die Gastgeberin des Abends lenkt.
»Unsere Queen Emma ist wahrhaftig eine ganz außergewöhnliche Person.«
Wie er sich ihren Aufstieg erkläre, fragt Kleine.
»Nun ja, abgesehen von ihrer hervorragenden kaufmännischen Ausbildung in den Vereinigten Staaten ist sie in der hiesigen Geschäftswelt wahrhaftig eine einmalige Erscheinung«, sagt Hahl. Sie verbinde deutsche Tüchtigkeit und Disziplin mit südländischer List und Leichtigkeit und kombiniere diese Gaben auch noch mit dem Charme und der weiblichen Schönheit ihrer Heimat Samoa.
»Das haben Sie aber sehr charmant und ziemlich zutreffend ausgedrückt«, sagt Kolber und klopft dem Vertreter des Kaisers und der Reichsregierung jovial auf die Schulter.
Theobald Kolber hat sich verändert, seit wir an Land gegangen sind, denkt Sebastian Kleine. Obwohl Godeffroys Mann für die deutsche Südsee nicht sonderlich groß ist, scheint er jetzt auf andere herabzublicken. Auf Leute, die seinen auch zur Selbstironie neigenden Humor nicht kennen, wird er kühl und hochmütig wirken. Offenbar will er diesen Eindruck auch erwecken, als er über den Kiesweg zur höher gelegenen Residenz von Queen Emma vorangeht. Nein, Kolber geht nicht, er schreitet.
Der Weg führt durch einen parkartigen Palmengarten. Blütenbüsche, Blumen und Orchideen stehen Spalier und verströmen schwere, tropische Wohlgerüche, gegen die das teure Parfüm der Damen in ihren festlichen Kleidern beinahe geruchlos erscheint. Unter den mehr als hundert Gästen, die vor und nach ihnen den Weg hinaufschreiten, sind die Herren in der Überzahl. Nur wenige mutige Ehefrauen haben ihre Männer in die Südsee-Kolonie begleitet.
Die weißen Tropenanzüge der Herren scheinen plötzlich in Flammen zu stehen. Auf den letzten hundert Metern werden am Wegesrand bengalische Fackeln entzündet, die auf mannshohen Bambusstangen stecken. Der glutrote Schein fällt auch gegen die Fassade des hellen Haupthauses. Es erscheint jetzt noch aufwendiger und prächtiger. Der drei Stufen hoch gelegene Haupteingang ist mit Blumenkränzen und Palmblättern dekoriert. Gedämpfte Musik dringt aus dem Halbdunkel der Tropennacht. Die Musik kommt näher. Die Melodie scheint abwechselnd zu schweben, wie eine sanfte Brandung zu rauschen oder wie ein Chor von Zikaden zu zirpen.
»Musik aus Samoa«, sagt Kolber.
Aus dem Gegenlicht der bengalischen Fackeln erscheint plötzlich ein gertenschlankes Mädchen und verbeugt sich.
»Afio Mai!«
»Das ist samoanisch. Es heißt ›Herzlich Willkommen‹.«
Kolber lächelt und lässt sich von der Südseeschönheit einen bunten Blumenkranz umhängen. Auch Anna und Sebastian Kleine werden so geschmückt. Kleine erschauert, als das lange Haar des Mädchens seine Wange streift. Ihre Haut riecht nach frischen Blüten und nach Kokosmilch.
Er weiß nicht, ob er das schon erklärt habe, sagt Kolber, aber heute Abend sei man sozusagen zu Gast in der Botschaft Samoas in Deutsch-Neuguinea. Queen Emma habe als Tochter einer Häuptlingsfamilie aus Samoa im Laufe der Jahre nicht nur ihre Geschwister und andere Familienangehörige, sondern einen ganzen Clan von mehr als achtzig Leuten aus ihrer alten in ihre neue Heimat geholt.
»Darunter sind die hübschesten Mädchen in tausend Kilometer Umkreis.«
Neben dem großen Anwesen von Gunantambu sei am Meer eine Siedlung für die Einwanderer entstanden, mit den typischen Hütten, einem Langhaus und einem Tanzplatz in der Mitte. Auch die Natur scheine sich angepasst zu haben. Die kleine Halbinsel mit Felsen, Palmen und Strand – alles sehe aus wie in der Heimat ihrer Gastgeberin Queen Emma.
»Ein Schiffbrüchiger könnte glauben, er sei auf Upolu oder Savai gestrandet. Ich kann das beurteilen, ich habe schließlich ein Jahrzehnt meines Lebens auf Samoa verbracht.«
Sebastian Kleine starrt in das rote Zwielicht der Fackeln, in dem das grazile Mädchen wieder verschwunden ist. Kolber folgt seinem Blick, zupft ihn am Ärmel und beugt sich zu ihm vor, damit Anna Scharnhorst nicht hört, was er sagt.
»Wenn ich so jung und abenteuerlustig wäre wie du, dann würde ich nach Mitternacht in das Dorf der Samoaner gehen.«