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Mit flüchtigem Gruß und quietschenden Schuhsohlen eilen die beiden Männer über den polierten Marmorfußboden aus dem Raum. Draußen, im Windfang des Kontorhauses, fällt die schwere Außentür krachend ins Schloss.

»Merkwürdige Leute, diese Wissenschaftler.« Godeffroy schüttelt den Kopf.

Er schweigt eine Weile und zieht dann einen Brief aus einem Papierstapel hervor. Ein Mitarbeiter der Handelsniederlassung in Apia auf Samoa bittet darin untertänigst um eine Erhöhung seiner Bezüge. Während Godeffroy sich Notizen für eine geharnischte Ablehnung macht, geht seine Frau mit klackenden Schritten die breite, in mattem Taubenblau gehaltene Treppe hinauf, die vom Kontorbereich in das erste und zweite Stockwerk führt, zu den Salons und den Privatgemächern. Auf dem ersten Treppenabsatz schlägt die mannshohe Standuhr der Manufaktur William Jourdain, London, sechsmal. Gleichzeitig sind die Turmuhren der Michaeliskirche, von St. Katharinen und St. Nikolai zu hören, deren Geläut sich zu jeder vollen Stunde in Hamburg zum Klang der Zeit vermischt,

Unkonzentriert wendet sich Godeffroy der Geschäftspost zu. Immer wieder kommt ihm der aufgeregte Gehilfe von Rudolf Virchow in den Sinn. Der berühmte Professor will ja nächste Woche selbst mit der Eisenbahn von Berlin nach Hamburg kommen und interessante neue Eingeborenenschädel und Skelette für seine Sammlungen und seine Forschungsprojekte in der Charité auswählen.

Was hat der junge Mann gesagt? Mit einem der Schädel stimmt etwas nicht?

Godeffroy zieht sich seinen englischen Gehrock über, ergreift seinen Spazierstock mit dem vergilbten Elfenbeinknauf und löscht die Petroleumlampe auf seinem Schreibtisch. Er wirft einen schnellen Blick in das vor seinem Arbeitszimmer liegende weitläufige Hauptkontor, in dem tagsüber zwei Dutzend Angestellte an hohen Stehpulten arbeiten, Prokuristen, Buchhalter und Commis. Auf den Regalen stapeln sich Warenproben. Es riecht nach Kaffee und Tee, nach Nelken und Gewürzen, nach Leinen und gegerbtem Leder. In einem Glasschrank liegt zwischen Sextanten, Chronometern und Logbüchern auch eine vom Salzwasser zerfressene Kapitäns-Bibel, die von einem in der Biskaya untergegangenen Schiff der Reederei Godeffroy gerettet worden ist. An den Wänden hängen Seekarten aus aller Welt. Nadeln mit bunten Köpfen markieren die letzten bekannten Positionen der Frachtsegler von Godeffroy & Sohn sowie die Handelsniederlassungen des Konzerns auf den Inseln im Pazifik.

Der Herr des Hauses schließt die Eingangstür hinter sich ab. Godeffroy spürt, wie immer im kalten Winter, schmerzhaft seine arthritischen Kniegelenke, als er sich am kalten Messing-Handlauf festhält und Schritt für Schritt den Treppenaufgang zur Straße hinuntergeht.

Das Haus Am Wandrahm No. 26 ist eines der größten und prächtigsten Bauwerke dieser Gegend: fünf Stockwerke hoch mit großen, weißen Sprossenfenstern, einer kunstvoll gemauerten Backsteinfront und einem geschwungenen, barocken Giebel. In der Nachbarschaft gehören ein halbes Dutzend zweihundert Jahre alte Speicher zum Unternehmen.

Ein paar Gehminuten in Richtung Westen beginnt eine neue Zeit: Seit Jahren ist Block für Block die moderne Speicherstadt des Hamburger Freihafens aus dem moorigen Boden gestampft worden. Sieben bis acht Stockwerke hohe Backsteinhäuser mit Aus- und Eingängen zu den Straßen und den Fleeten stehen auf Tausenden von Eichenpfählen. Bald werden auch die letzten, immer noch eindrucksvollen barocken Kontor- und Speicherhäuser am Alten Wandrahm »niedergelegt« werden, wie der Abbruch der alten Geschäfts- und Wohnquartiere von den Bauleuten genannt wird. Insgesamt müssen bei dieser größten Baumaßnahme Europas 20000 Menschen aus dem Hafengebiet in neue Wohngebiete am Stadtrand umgesiedelt werden. Wehmütig denkt Godeffroy an das baldige Ende des altehrwürdigen Stammsitzes.

Vor seinen Füßen glitzert das abgetretene Kopfsteinpflaster eisig im Laternenlicht. Ein halber Mond scheint jetzt durch eine dichter werdende Wolkenschicht. Vom nahen Hafen dröhnt ein Nebelhorn. Aus der offenen Tür einer Kellerkneipe kommen betrunkene Stimmen. Klatschend taucht eine Ratte unter den Bug einer Schute weg, die im schlammigen Fleet an der Rückseite des Museums Godeffroy festgemacht hat.

Im Erdgeschoss brennt noch Licht. Hinter den beschlagenen Fensterscheiben sind die Schatten von drei Männern zu sehen. Godeffroy klopft mit dem Knauf seines Gehstocks gegen die verschlossene Eingangstür. Die Schatten wenden sich gleichzeitig um.

Doktor Schmalz öffnet. Der Kustos des Museums erschrickt, als er Godeffroy im Gegenlicht der Gaslaterne erkennt. Zögernd lässt er ihn ein.

In der saalartigen Diele stapeln sich raumhoch an den Wänden entlang große Holzkisten, aus einigen quillt Verpackungsmaterial hervor, die meisten sind noch ungeöffnet. Der Boden ist zugestellt mit Kanistern, Eimern und mit Gläsern, in denen Fische und Schlangen, Frösche und Schnecken in Spiritus eingelegt sind und allerlei sonstiges Getier. An Fleischerhaken baumeln von der Decke die Karkassen von Affen und Dschungelkatzen. Godeffroys Blick bleibt an zwei Vögeln hängen, die mit ausgebreiteten Flügeln auf einer Art Bettlaken liegen, als wären sie gerade abgestürzt. Ein so farbenprächtiges, in allen Regenbogenfarben schillerndes Gefieder hat er noch nie gesehen. Die Körper sind kaum taubengroß, aber die Schwanzfedern scheinen einen Meter oder mehr zu messen. Auf den Köpfen sitzen gefiederte Kronen. Kreaturen wie aus einer fantastischen, anderen Welt.

»Das hier sind Paradiesvögel, die sind auch heute eingetroffen«, erklärt Schmalz. Solche Vögel seien noch niemals einem größeren Publikum gezeigt worden. »Wir werden sie sorgfältig präparieren und als erstes Museum in ganz Europa präsentieren.«

Seinen Leuten sei es gelungen, sie Eingeborenen abzuhandeln, die diese wunderbaren Vögel mit Giftpfeil und Bogen im Dschungel gejagt hätten. Dennoch, so kommt es Godeffroy vor, ist die Freude des Museumsleiters über diese Attraktion seltsam gedämpft.

Er wendet sich den beiden anderen Männern zu, die schweigend in der Diele des Museums vor einem vier oder fünf Meter langen, mit Zinkblech beschlagenen Tisch stehen, wie ihn auch Metzger oder Pathologen als Arbeitsunterlage benutzen. Als Godeffroy auf die offenbar verlegenen Männer zugeht, erkennt er, was hinter ihnen auf dem Tisch liegt: ein Dutzend Totenschädel. Die leeren Augenhöhlen sind gegen die Decke gerichtet, von der das Licht eines fünfarmigen Leuchters fällt.

Ein ekelerregender Geruch erfüllt den Raum, ein brandiger Gestank. Gegen die aufsteigende Übelkeit presst Godeffroy ein Taschentuch vor Mund und Nase.

Die drei Männer scheinen sich daran gewöhnt zu haben. Außer Schmalz ist noch der junge Assistent von Virchow da, den dritten Mann hat Godeffroy noch nie gesehen. Er ist groß und hager, in teures graues Tuch gekleidet, hält eine dünne, abgewinkelte Zange in der rechten Hand und einen kleinen, runden Spiegel mit langem Stiel in seiner Linken.

»Der junge Mann hat vorhin etwas von einem seltsamen Schädel gesagt, was hat es damit auf sich?«, fragt Godeffroy ohne Umschweife.

Die Männer schweigen.

»Kennen Sie Zahnarzt Dr. Krippenberg?«, fragt Museumskustos Schmalz schließlich. »Ich habe mir erlaubt, ihn noch zu später Stunde holen zu lassen. Wir benötigen dringend seinen fachlichen Rat.«

»Wenn ich es richtig sehe, haben diese Herrschaften hier keine Zahnschmerzen mehr.« Godeffroy betrachtet die Schädel.

»Das ist die neue Lieferung aus Neuguinea, die zum Teil für Professor Virchow bestimmt ist«, sagt Schmalz und deutet auf die Totenköpfe, die offenbar nach Herkunftsangaben und Stammeszugehörigkeit sortiert worden sind.

»Das sind Kannibalen, Angehörige des Baininger-Stammes aus den noch urwaldreichen Berggebieten von Neuguinea, die bringen ihre Feinde um, fressen sie auf und lassen nur die Köpfe übrig, als Trophäen und zur Beschwörung der bösen Geister.« Die Eingeborenen hätten ihre Beutestücke gereinigt und dann wie Schinken in den Rauch gehängt, um sie zu konservieren.

»In diesem Zustand haben unsere Forscher sie erworben, sorgfältig in Kisten verpackt und nach Hamburg verfrachtet.«

Schön, sagt Godeffroy ungeduldig, aber was sei denn nun so Ungewöhnliches passiert?

Virchows junger Mann räuspert sich.

Man könne sehen, dass die Schädel alle die gleiche Form hätten: eine fliehende Stirn, abgeflachte Hinterkopfpartie, stark ausgebildete Augenbrauenbögen und einen besonders kräftigen Kieferbau, beinahe schnauzenartig.

»Alle haben eine ziemliche Ähnlichkeit mit den Schädeln von großen Menschenaffen beziehungsweise von unseren steinzeitlichen Vorfahren.«

»Fast alle – bis auf diesen einen hier ...«

Schmalz deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger auf einen Totenkopf, der ohne besondere Kennzeichnung vor der ersten Reihe liegt. Godeffroy bemerkt, dass die Hand des Museumsleiters zittert.

»Dieser Kopf ist uns zunächst aufgefallen, weil er seiner äußeren Form nach nicht zu den übrigen passt. Und bei näherer Untersuchung haben wir etwas bemerkt, was uns veranlasst hat, Doktor Krippenberg zu Rate zu ziehen.«

Godeffroy sieht fragend von einem zum anderen. Die drei Männer weichen seinem Blick aus.

»Wenn Sie noch ein wenig näher kommen würden, Herr Godeffroy«, sagt der Zahnarzt endlich.

Widerstrebend tritt Godeffroy dicht an den Tisch heran und beugt sich tiefer hinunter.

Erst jetzt fällt ihm auf, dass der Kiefer dieses Schädels, anders als die anderen, weit geöffnet ist. Wie zu einem Schrei, wie zu einem langen Todesschrei, denkt er.

»Sehen Sie das hier, Herr Godeffroy?«

Zahnarzt Krippenberg klopft mit seinem kleinen Spiegel gegen die untere Gebissreihe, »hier unten links hinten, diese nebeneinanderliegenden Backenzähne, die sind beide mit größeren Goldfüllungen versehen.«

»Ich sehe kein Gold.«

»Das Gold schimmert auch nur bei sehr genauem Hinsehen an zwei sehr kleinen Stellen durch – es ist nach neuestem Stand der zahnärztlichen Kunst mit einer dünnen Emailleschicht in der Farbe der originalen Zahnsubstanz überzogen.«

»Woher wissen Sie das so genau?« Godeffroy dreht sich zu Krippenberg um.

»Ich erkenne meine eigenen Arbeiten auf den ersten Blick.«

Der Zahnarzt zieht eine rosafarbene, mit blauer Tinte bekritzelte Karteikarte aus seiner linken Jackentasche.

»Dieser Mann ist vor knapp einem Jahr in meiner Praxis gewesen – am 1. März 1898 nachmittags gegen drei Uhr, um genau zu sein.«

Während Museumskustos Schmalz zu einer Erklärung ansetzt, wird Godeffroy plötzlich von einer Erkenntnis wie von einem Schlag getroffen. Er hält seine Hände schützend vors Gesicht. Sein Oberkörper kippt nach vorn. Seine Schultern zucken.

Die anderen schweigen, ein wenig peinlich berührt.

Als Godeffroy sich wieder gefasst hat, sagt Zahnarzt Krippenberg vorsichtig: »Wenn Sie noch einmal schauen würden, Herr Godeffroy. Wir haben kurz vor Ihrem Eintreffen noch etwas sehr Seltsames entdeckt.«

Mit einer Pinzette ergreift er ein Stückchen Zahn oder ein Steinchen, vielleicht ein Kristall, jedenfalls ein kleines, scharfkantiges Teil, kaum mehr als einen Quadratmillimeter groß.

»Das hier habe ich nach genauerer Untersuchung im Gebiss des Toten gefunden.« Es sei offenbar in eine schmale Lücke zwischen zwei Backenzähnen gedrückt worden.

»Zunächst haben wir gedacht, es handele sich um eine Glasscherbe«, sagt Krippenberg zögernd.

»Und nun?« Godeffroy blickt zu dem Zahnarzt auf. »Was denken Sie nun?«

»Es könnte auch ein Mineral sein, vielleicht sogar ein Rohdiamant«, sagt der Zahnarzt. Er habe unlängst bei einem befreundeten Juwelier am Jungfernstieg ähnlich aussehende unbearbeitete Edelsteine gesehen. Er zieht eine Lupe aus seiner Tasche und bietet sie Godeffroy an, aber der winkt ab und sagt: »Es ist ein Rohdiamant!«

Die anderen Männer sehen ihn erstaunt an.

»Nach meinen Unterlagen«, so unterbricht Kustos Schmalz die drückende Stille, »nach meinen Unterlagen ist Sebastian Kleine drei Tage nach seiner Behandlung bei Doktor Krippenberg, am frühen Morgen des 3. März vergangenen Jahres, an Bord der Emily Godeffroy aus Hamburg abgereist.«

Gut zehn Wochen später sei der junge Mann in der neuen godeffroyschen Faktorei auf Neuguinea vorstellig geworden, gesund und voller Tatendrang.

Godeffroy schluckt ein paarmal. Er presst seine rechte Hand wieder gegen die aufsteigende Übelkeit vor Nase und Mund.

Als probe er bereits seine Rede für die Trauerfreier seines Mitarbeiters, sagt Museumskustos Doktor Schmalz: »Und nun ist unser geschätzter junger Kollege, der hochtalentierte Naturforscher Sebastian Kleine, also unter äußerst merkwürdigen Umständen in seine geliebte Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt ...«

»Teilweise jedenfalls«, sagt Zahnarzt Krippenberg mehr zu sich selbst als zu den anderen.

Godeffroy sieht ihn missbilligend an, bevor er sich übergeben muss.

Draußen vor der Tür klammert sich der große Unternehmer an das Geländer am Fleet wie ein Seekranker an die Reling eines Schiffes, und der Boden unter seinen Füßen schwankt wie Deckplanken in schwerer See. Sein Magen entleert sich in krampfhaften Schüben. Die Brille beschlägt vom übelriechenden Atem. Durch die getrübten Gläser sieht er einen Totenkopf, der nach Luft schnappend aus dem brackigen Wasser auftaucht. Dann hört er einen langen Todesschrei. Das Echo wird zwischen den Wänden der auf beiden Seiten des Fleets stehenden Speicherhäuser hin und her geworfen und vervielfältigt sich zu einem schrillen Chor.

Vergeblich hält sich Godeffroy die Ohren zu. Er schüttelt sich, fuchtelt mit beiden Armen und presst seine Stirn gegen das kalte Eisen des Geländers, um die Halluzinationen loszuwerden.

Der Mann, der ihm gefolgt ist, beobachtet ungläubig die wankende Gestalt. In so einer Verfassung hat Doktor Schmalz den Herrn des Hauses Godeffroy noch nie gesehen. Schließlich traut er sich näher und legt beruhigend eine Hand auf Godeffroys Schulter.

»Ist Ihnen nicht gut ... Kann ich Ihnen helfen?«

Godeffroy zuckt zusammen. Im Schein einer Laterne erkennt er seinen Museumskustos. Einen flüchtigen Moment lang, den später jeder für sich als Einbildung abtun wird, umarmen sich die beiden Männer wie Hilfesuchende in großer Not.

Endlich beruhigen sich Godeffroys Sinne. Der Nebel zieht sich wieder über dem Wasser des Fleets zusammen. Die Schreie verstummen, nur das Kreischen der Nachtmöwen ist noch zu hören. Es beginnt zu schneien.

»Danke. Es geht wieder. Lassen Sie mich bitte allein.« Godeffroy erscheint die eigene Stimme fremd. »Reden Sie bitte mit niemandem über diesen ... über diesen Vorfall ...«

Museumskustos Schmalz überwindet seine Hemmung. »Müssen wir nicht die Polizei einschalten?«, fragt er schließlich. »Es sieht doch so aus, als ob unser Herr Kleine einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Wahrscheinlich ist er ermordet worden.«

»Wann haben Sie zuletzt etwas von Herrn Kleine gehört?«

»Vor rund vier Monaten. Da ist er zu einer Expedition ins Hinterland der Gazelle-Halbinsel auf Neupommern in Neuguinea aufgebrochen.«

»Und Sie meinen, für diesen Fall ist die Hamburger Polizei zuständig? Nein, auf gar keinen Fall werden wir die Polizei oder sonst eine hiesige Behörde über diese Angelegenheit informieren. Unter keinen Umständen, verstehen Sie mich, Doktor Schmalz ... Jedenfalls bis auf weiteres nicht! Richten Sie das auch den anderen Herren aus. Wir reden dann morgen in kleinem Kreis darüber.«

Ohne einen Einwand abzuwarten, wendet sich Godeffroy um und geht vornüber gebeugt über das alte Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen am östlichen Teil der Wandrahminsel, die sich in schmierseifige Rutschbahnen verwandelt haben. Unterwegs wird er von einem betrunkenen Seemann angerempelt, der aus einer Kneipentür stolpert. Vor Kohns Zigarrenmacherei erkennt ihn ein spät von der Arbeit heimkehrender Hafenagent, verbeugt sich knietief und lüftet untertänig seine Schirmmütze.

Sein Weg führt vorbei an den hohen Backsteinfassaden der neuen Speicherstadt, hinter denen auch noch zu dieser Stunde Kisten und Säcke, Ballen und Fässer von Quartiersleuten und ihren Handlangern gestapelt werden. Aus den Fenstern fällt neues, elektrisches Licht. Es riecht nach Kaffee, Tabak und Gewürzen.

Wie von einem inneren Antrieb gesteuert, erreicht Godeffroy nach einer Viertelstunde den Platz, der von Kindheit an ein Ort des Nachdenkens, des Innehaltens, der Besinnung, manchmal sogar eine Stätte der Andacht für ihn gewesen ist.

Er steht an der Kehrwiederspitze, am Ende einer schmalen, kilometerlangen, dicht mit Kontor- und Speicherhäusern bebauten Hamburger Hafeninsel, die sich wie ein Schiffsbug in den Elbstrom schiebt. Unter seinen Füßen schwappt und spritzt und gurgelt das Wasser der Elbe und übertönt die anderen Geräusche des Hafens. Im abendlichen Zwielicht sind am vorausliegenden Ufer die Windjammer zu sehen, Drei- und Viermaster, die von allen Meeren der Welt zurückgekehrt sind und nun am Vorsetzen, am Baumwall und an den Landungsbrücken festgemacht haben. Ein dichter Wald von Masten und Takelagen wächst in den Himmel. Hin und wieder scheint der fahle Mond durch die schneebeladenen Wolken.

Tagsüber und bei guter Sicht geht der Blick von hier aus viele Kilometer weit den Elbstrom hinunter. Jetzt sieht man zur Rechten nur noch die Silhouette der Stadt. Hier riecht es bei Ebbe nach schlammigem Binnengewässer und bei Flut schon nach salzigem Meer und weiter Welt.

Als Junge und noch als junger Mann hat Godeffroy hier seine Träume geträumt. Damals wäre er selber gern zur See gefahren, als Kapitän auf einem schnellen Windjammer. Später wollte er als Entdecker und Forscher Abenteuer in fernen Welten erleben. Der Portugiese Ferdinand Magellan, der Spanier Christopher Columbus und die Deutschen Georg Forster und Alexander von Humboldt waren seine Idole. Aber die Traditionspflicht seiner Familie und eine frühe, starke Kurzsichtigkeit haben ihn in der Heimat zurückgehalten. So ist er nur ein reicher Mann geworden – einer, der sich ein exotisches Museum und eine anspruchsvolle Zeitschrift leistet und der auf seine Kosten andere all jene Abenteuer erleben lässt, die ihm selber verwehrt geblieben sind.

Godeffroy wischt seine dicken Brillengläser blank. Durch den grauweißen Schneeschleier hindurch erkennt er schemenhaft den abgetakelten Viermaster, der den Namen seiner Frau trägt. Die Emily Godeffroy liegt an den Landungsbrücken unterhalb des Stintfangs, eines Geestrückens am Elbufer.

Dort drüben hatte am frühen Nachmittag der große Frachtsegler festgemacht, mit 2000 Tonnen Kopra und ein paar Dutzend Kisten für das Godeffroy-Museum an Bord. Und mit dem Totenkopf von Sebastian Kleine.

Gewiss, im Laufe der Jahre sind mehr als ein Dutzend Mitarbeiter von Godeffroy & Sohn auf den Inseln des Pazifik umgekommen, durch Tropenkrankheiten die meisten, einige durch Unfälle, zwei oder drei durch mörderische Überfälle von wilden Eingeborenen. Aber so ein Ende wie Sebastian Kleine hat noch keiner genommen.

Wie zum Gebet verschränkt Godeffroy seine kalten Hände vor seinem Gehrock. Unbeweglich starrt er in das Schneetreiben, das stetig dichter wird und sich wie ein Vorhang vor der Kulisse des Hafens und der Stadt zusammenzieht.

»Herr Godeffroy!«

Erschrocken dreht sich Godeffroy um. Im Schneetreiben erkennt er Doktor Schmalz.

»Hatte ich Sie nicht gebeten, mich in Ruhe zu lassen?«

»Entschuldigen Sie, aber ich hatte vorhin keine Gelegenheit, Ihnen das hier zu geben. Es könnte wichtig sein ...«

Schmalz reicht Godeffroy ein in braunes Wachspapier eingeschlagenes und verschnürtes Päckchen.

»Was ist das?«

»Das Tagebuch von Sebastian Kleine. In einem Brief an mich hat er darum gebeten, es Ihnen verschlossen zu übergeben.«

»Wo haben Sie das denn her, Doktor Schmalz?« Der Museumskustos zögert. Die Antwort scheint ihm nicht leichtzufallen.

»Das wurde uns bereits vor einigen Wochen von einem Arzt aus Bremen zugestellt, einem Bekannten von Sebastian Kleine, der aus Deutsch-Neuguinea zurückgekommen war. Die Sendung war an das Museum Godeffroy adressiert, und ich wollte das Büchlein bei Gelegenheit einmal lesen, leider habe ich bisher keine Zeit gefunden. Aber nach der Entdeckung von heute Abend habe ich endlich einen Blick hineingeworfen. Es hat ja nun möglicherweise eine besondere Bedeutung erlangt, vor allem weil ...« Schmalz stockt.

»Was ist denn noch Besonderes?«

»Besonders weil er es gewissermaßen Ihnen persönlich gewidmet hat, wie ich auf den ersten Seiten gelesen habe.«

Godeffroy sieht Schmalz erstaunt an. Dann nimmt er das kleine Paket entgegen und steckt es in seine Manteltasche.

Schmalz verabschiedet sich eilig.

Während sich sein Museumskustos entfernt, befühlt Godeffroy das Päckchen immer wieder. Es hat die Größe und Stärke eines Buches mit hartem Einband.

Kleine hat ihm also sein Tagebuch gewidmet. Möglicherweise stehen Hinweise auf seinen Tod darin. Offenbar hat sich der junge Mann ihm näher gefühlt, als er geglaubt hat. Godeffroy erinnert sich, dass Kleine einmal ein Zerwürfnis mit seinem Vater erwähnt hatte. Schon auf dem Rückweg spürt er eine nervöse Neugier, das Tagebuch des toten Forschers zu lesen.

Er schließt die Augen und versucht, sich an den jungen Mann zu erinnern. Nach einer Weile sieht er ihn wieder vor sich: Gerade dreißig Jahre alt war er vor knapp einem Jahr geworden, ein rotblonder, norddeutscher Typ, mit energischem Kinn, fleischiger Nase und fröhlichen Sommersprossen um die Augen. Hatte er graublaue Augen wie die Elbe bei gutem Wetter? Oder grünliche wie das weite Bauernland seiner Heimat an der Unterelbe? Daran kann Godeffroy sich nicht mehr erinnern, nur an eine blitzende, dünnrandige Brille, die dem Sohn eines Gutsherrn und Ziegeleibesitzers ein studentenhaftes Aussehen verliehen hat. Und dass in seinen Mundwinkeln zumeist ein kleines ironisches Lächeln lauerte, das schon bei geringen Anlässen zu einem ansteckenden Lachen ausbrechen konnte – das fällt ihm auch wieder ein.

Johan Cesar Godeffroy spürt jetzt scharfen, körnigen Schnee auf seiner brennenden Gesichtshaut – als er Sebastian Kleine vor zehn Monaten zum letzten Mal gesehen hat, war es gerade Frühling geworden.

Der letzte Tanz im Paradies

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