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Wahrnehmende Lebenswirklichkeit
ОглавлениеDie wahrnehmende Lebenswirklichkeit setzt auf den drei vorstehend beschriebenen Lebenswirklichkeiten an und basiert nur auf Informationen und den daraus erwachsenen Empfindungen, die die Psyche an das Bewusstsein leitet und deren Art, Intensität und Qualität abhängig von dem jeweilig entstandenen Status dieser drei Lebenswirklichkeiten ist.
Dieses im Endeffekt emotionale Produkt beruht im Gegensatz zu den drei Vorgenannten also nicht auf überwiegend harten Fakten und Zuständen, sondern fußt und äußert sich auf der Ebene des Gefühls, repräsentiert jedoch trotzdem für den Betroffenen die momentane Realität (temporäre Lebenswirklichkeit).
Grundsätzlich folgt die wahrnehmende Lebenswirklichkeit dem metaphysischen Prinzip des Ausgleichs, indem die Psyche versucht, den Menschen vor unangenehmen oder beschwerenden Eindrücken abzuschirmen, um auf diese Weise das gegenwärtige, mehr oder minder fragile identitätsgemäße Pseudogleichgewicht nicht zu gefährden (Instrumentalisierung der Ratio kraft der Psyche und hierdurch Manipulation des Bewusstseins).
Je größer die identitätsgemäße Problematik, desto intensiver die Filterung zum Selbstschutz und desto stärker die selektive Komponente der wahrnehmenden Lebenswirklichkeit.
Die Selektivität, eine Spielart der Verdrängung, lässt einzig diejenige Informationen an das Bewusstsein heran, die psychisch für das Pseudogleichgewicht verträglich sind und es somit nicht belasten und gefährden. Das selektive Moment ist mit einem hohen energetischen Aufwand verbunden, dessen Energie zwangsläufig an anderer Stelle fehlt.
Diese Funktionsweise bzw. Systematik des metaphysischen Prinzips greift allein bedingt, da die Psyche immer zwischen ursächlicher und kompensatorischer Befriedigung unterscheiden, wie außerdem die Disparität bewerten kann. Zudem differenziert die Psyche zwischen den äußerst ungleichen Ersatzbefriedigungswerten innerhalb der großen Palette an Ersatzhandlungen. Der Impetus für das selbstwertgemäße Defizit besteht nach wie vor und ist aktiv, sodass ein Ausgleich – vornehmlich bei sehr problembeladenen Menschen – lediglich vorübergehend andauert.
Menschen mit einem schwachen, unsicheren identitätsgemäßen Pseudogleichgewicht, die demnach auf zahlreiche und massive Verdrängungen und Kompensationen permanent angewiesen sind und eine Scheinwelt errichtet haben, unterliegen bezüglich der Perzeption und Einschätzung ihrer persönlichen Lebenswirklichkeit ausgeprägten Schwankungen (durchaus vergleichbar mit einem Drogensüchtigen).
Grund hierfür sind die regelmäßig benötigten Ersatzbefriedigungen, die zeit-, umfang- und intensitätsgerecht erfolgen müssen, um eine stimmungsgemäße Ausgeglichenheit zu erreichen. Weil dies in der Praxis dauerhaft nahezu unmöglich ist, auch unter dem Aspekt des ständig reduzierteren Befriedigungswerts einer Ersatzhandlung, ändert die wahrnehmende Lebenswirklichkeit ihren Blickwinkel, ihre Betrachtungsweise, Einschätzung und Bewertung in puncto der eigenen Lebenssituation in relativ kurzen Zeitabständen und erzeugt daraufhin letztlich mehr oder minder stark wechselnde stimmungsgemäße Verfassungen.
Solange der Befriedigungswert einer Ersatzbefriedigung anhält, solange wird das „berühmte“ Glas als halbvoll angesehen und die Stimmung wird als gut, positiv, optimistisch und mitunter euphorisch empfunden. Wenn der Befriedigungswert nachlässt, dreht sich die Gemütslage ins Negative, das Glas wird immer leerer und ist der Befriedigungswert völlig verflogen, dann regiert die Trostlosigkeit, der Pessimismus und die Schwermut.
Dieses Hin- und Herschwanken (Multipolarität der Lebenswirklichkeiten) in teils sehr knappen Zeitabständen (Neugewichtung und -bewertung der psychischen Befindlichkeit und Prioritätenlage) ohne fundamentalen Wandel der Gegebenheiten begünstigt schizophrene Tendenzen, zumal der Betroffene von einem Bewusstseinszustand zum anderen wechselt und derartig keine mentale Stabilität entwickeln kann. Diese permanente Vermischung und Überlagerung von differierenden Bewusstseinszuständen betreffend thematischer/inhaltlicher wie zeitlicher Natur, bei der der Mensch die jeweilige Lebenswirklichkeit nicht länger von der anderen klar abgetrennt und unabhängig erlebt, absorbiert darüber hinaus immense Energie.
Ein weiterer Anlass für eine kurzfristige oder plötzliche Veränderung des Lebensgefühles kann das Aufbrechen von Verdrängungen sein (z. B. ausgelöst durch Erkenntnisse), sobald demzufolge das Bewusstsein von der psychischen Verfassung verhältnismäßig unbeeinflusst arbeiten kann und der anschließende Rückfall in die Verdrängung.
Die selbstwahrnehmende bzw. wahrgenommene Lebenswirklichkeit ist bei Menschen mit einer großen identitätsgemäßen Stabilität und angemessener Reflexions- und Selbstkritikfähigkeit nahezu identisch mit der individuellen Lebenswirklichkeit, die in diesen Fällen dann keine substanziell fassadäre Ausrichtung hat.
Psychisch schwache Menschen haben nicht nur eine wahrnehmende Lebenswirklichkeit, hingegen eine Vielzahl von unentwegt wechselnden Variationen.