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Unterschiedliche Wahrnehmungsformen der Lebenswirklichkeit

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Warum besetzen diese Problematiken, Störungen, Fehlentwicklungen und Belastungen in der Wahrnehmung - auf den ersten Blick überraschenderweise – einen dermaßen untergeordneten Rang ein?

Weswegen ist dies so und weshalb wird diese Vielzahl an Problemen derart bagatellisiert und dadurch keine reale, nachhaltige Veränderung der dominierenden Koordinaten der allgemeinen Lebenswirklichkeit erreicht?

Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht bloß von außerordentlicher Bedeutung für das Grundverständnis der menschlichen Verhaltensweisen und Charakterausprägungen, indes ebenso schwer und äußerst vielschichtig, zumal mehrere, zum Teil sehr unterschiedliche Faktoren zu berücksichtigen sind.

Ein hervorzuhebender Punkt ist die empfundene Normalität.

Normalität als gewohnheitsgemäße, alltägliche, selbstverständliche, bekannte, vertraute, erwartungsgemäße, angemessene, richtige und natürliche Verhältnisse respektive Befindlichkeit, strahlt, auch wenn es in vielen Fällen paradox klingt und tatsächlich nicht angebracht wäre (weil die Normalität vielleicht als solche angesehen wird, aber die Um- und Zustände de facto nicht normal sind), grundsätzlich Sicherheit und Stabilität aus. Sie wird deshalb nicht in Zweifel gezogen, nicht automatisch mit Skepsis und Argwohn betrachtet, nicht als bedrohlich wahrgenommen und nicht mit Bedenken und Misstrauen begegnet. Kurz gesagt: Normalität hält bzw. regt nicht zum Reflektieren und zum Hinterfragen an, sondern lediglich zum bestmöglichen Anpassen, Adaptieren und Angleichen an ihre Ausbildung.

Insofern, dass der Mensch in der Regel von Kind an mit der jeweiligen konkreten Problemsituation konfrontiert oder zumindest dem atmosphärischen Umfeld ausgesetzt ist, empfindet er diese bzw. dieses als üblich und gewöhnlich. Hier hat zudem der vorhandene Vorbild- und Orientierungsaspekt seitens des Kindes gegenüber Bezugspersonen und Erwachsenen einen wichtigen Einfluss, der dazu führt, dass die von den Erwachsenen als normal vermittelte Lebensführung und -einstellungen nachgeahmt werden (Stichwort: Sozialisierung).

Mangels geläufiger alternativer Formen und Lebensumstände, aufgrund der im Kindesalter noch nicht existierenden Verarbeitungsmöglichkeiten und -fähigkeiten und überdies der in Leistungsgesellschaften und/oder in autoritär bzw. von Autoritäten geprägten Gesellschaften fehlender Tradition der Hinterfragung werden diese Zustände (Problematiken, psychische Störungen, Fehlentwicklungen) als dazugehörender Bestandteil des Systems und damit ebenfalls des Menschen angesehen. Die Hinterfragung ist bei dieser Art von Gesellschaftsform im Kern nicht erwünscht und bildet einen systemimmanenten und demzufolge systemstützenden Faktor.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Für ein Kind, das in Darfur im Sudan oder in Palästina in einem Umfeld von Dauergewalt, Zerstörung, Verzweiflung, Überlebenskampf, Armut und weitgehender Perspektivlosigkeit aufwächst, wird das tägliche Leben dank dieser Koordinaten bestimmt und daher diese Konstellation als gestaltende Normalität erachtet, da keine sonstigen Erlebnisse und Ereignisse bekannt sind. Das Kind versucht, sich als Reaktionsform in dieser Normalität so optimal wie machbar einzurichten und zu arrangieren. Die westlichen Beobachter wundern sich dann über lachende, äußerlich glücklich und zufrieden wirkende Kinder ...

Das genannte Beispiel ereignet sich – zwar in differenter Form, aber mit vergleichbarem Ergebnis – selbstverständlich in jedem anderen Land der Welt, auch vor der eigenen Haustüre.

Allgemein: Vermeintliche Normalität, also nicht zu Hinterfragendes und demgemäß infrage zu Stellendes, wird ferner suggeriert bzw. erreicht, indem Materien und Verhaltensweisen mit Hilfe von intensiven, alle mediale Kanäle umfassenden Berichterstattungen (Stichwort: Themenführerschaft zur Ankurblung der eigenen Umsätze) enttabuisiert und in den gesellschaftlichen Fokus und Mittelpunkt gerückt werden.

Besonders hervorzuheben ist das weite Gebiet der Sexualität, deren ausschweifende, mitunter von Gewalt durchsetzte Spielarten oftmals zur Normalität verklärt werden, weil sie auf eine breite Akzeptanz stoßen und von zahlreichen Menschen selbst angewendet werden. Es wird nach dem Motto „was beiden gefällt, ist sowohl erlaubt wie normal“ verfahren und somit keine Verbindung zu einer diesem Verhalten zugrunde liegenden psychischen Schädigung hergestellt, bei der sexuelle Befriedigung ausschließlich mittels spezieller Praktiken, wie Gewalt oder Leid (Sadismus, Masochismus), erreicht wird. Die große wirtschaftliche Komponente (Stichwort: Sex als Geschäft) wird darüber hinaus als normal interpretiert und mit der Aussage vom ältesten Geschäft der Welt scheinbar begründet (Akt der Rationalisierung).

Hier geht es nicht um biedere, spießige oder erzkonservative Bewertungen, ob etwas als moralisch verwerflich anzusehen ist oder nicht, jedoch um die Feststellung, dass das jeweilige Verhalten ursächlich auf eine wie immer geartete psychische Störung zurückzuführen ist. Zu betonen ist, dass die Sexualität mit ihren Exzessen nur ein stellvertretendes Beispiel für viele andere Bereiche ist, die wegen ihrer Allgegenwärtigkeit als Normalität (normales Verhalten, normaler Zustand) befunden werden.

Trotz eines Gewohnheitsaspektes gilt, dass bloß weil etwas an jeder Ecke zu haben bzw. in jeder Zeitung zu lesen und folglich omnipräsent ist, dies im Kern deshalb noch lange nicht als normal im Sinne von wesensgemäßer Anlage zu beurteilen ist.

Der Mensch macht sich hinsichtlich seiner Argumentation und Begründung für die zahllosen Probleme und Auswüchse den dialektischen Ansatz zu eigen, nach dem Motto „wo gut muss auch böse/schlecht, wo positiv auch negativ, wo hell auch dunkel, wo Licht auch Schatten sein“ und bewertet diese Dialektik letztlich wieder als normal (Ergebnis respektive Synthese der Dialektik).

Leid wird als integraler Teil und Faktor des Daseins verstanden und diese Auffassung beschwichtigt den Menschen und erübrigt entsprechende tiefschürfende Reflexionen (in der Religion wird dann von einer auferlegten Prüfung gesprochen). Das Augenscheinliche – sprich die tatsächliche Lebenswirklichkeit mit ihren vielfältigen Problematiken – verleitet zur Annahme, dass es – banal ausgedrückt – so sein muss. Die Ursachen für diese Entwicklungen und Lebenszustände, die allesamt in der menschlichen Identitätsproblematik begründet sind, werden nicht eruiert und untersucht.

Eine kurze Anmerkung: Das Mitleiden, ergo die Anteilnahme anderer Menschen am Leid einer Person, hat gleichfalls eine identitätsgemäße Funktion, da der Leidende – zumindest symbolisch – mit seinem Leid und der daraus resultierenden Last nicht mehr alleine ist. Das Mitleid soll die Situation des Leidenden erträglicher machen und getreu der Devise „geteiltes Leid ist halbes Leid“ findet eine Entlastung statt. Dem Leidenden werden über das Mitleid identitätsstiftende Hilfe, Unterstützung und Bestärkung zu teil, die die mit dem Leid verbundenen Ängste reduzieren und derart Sicherheit und Stabilität vermitteln sollen.

Die oft gegenwärtig ständige persönliche Betroffenheit und/oder das vor Auge halten durch tägliches mediales Dauerbombardement mit den Problematiken und Fehlentwicklungen führen schließlich zur Überfrachtung und folgenden Abstumpfung. Die Großzahl der Menschen fügt sich, resigniert, blendet aus oder lässt alles nicht an sich herankommen, zumal sie es anders buchstäblich nicht aushalten würde (Stichwort: Verdrängung als Überlebenshilfe).

Zur oben erwähnten wahrgenommenen Normalität der faktischen Ereignisse und Lebensumstände – zu bezeichnen als reale Lebenswirklichkeit - kommt noch die ebenso als Normalität empfundene Verarbeitungsweise dieser realen Lebenswirklichkeit hinzu, die de facto eine fiktive Realität widerspiegelt.

Fiktiv, weil es zwar für das Bewusstsein die Realität abbildet, aber das Bewusstsein kraft der psychischen Reaktionsformen in seiner Beurteilungskraft sehr beeinträchtigt und damit manipuliert ist.

Einfach ausgedrückt: Das Bewusstsein muss das glauben und als Realität annehmen, was es von der Psyche als solche präsentiert und kommuniziert bekommt. Die Psyche, besser gesagt, die Verfassung der Psyche, determiniert, was dem Bewusstsein an Realismus und Fakten zuzumuten ist bzw. wie viel dieses verkraftet, um zu verhindern, dass das eigene pseudohafte, identitätsgemäße Gleichgewicht destabilisiert und sonach gefährdet wird.

Das Ergebnis dieser Beeinflussung des Bewusstseins mittels des psychischen Zustandes ist, dass aufgrund des weitverbreiteten Betroffenseins bzw. der umfassenden Involviertheit der Menschen die charakter- und persönlichkeitsbildenden Verarbeitungsformen, also Verdrängungsszenarien und -mechanismen, Rationalisierungen (der Mensch versucht durch sein Wissen und seine Kenntnisse vernunftgemäß zu argumentieren und zu rechtfertigen), Ersatzhandlungen, Kompensationen, Neurosen, Psychosen, etc., die Gesellschaften regelrecht durchdrungen haben.

Weil sich kein Mensch bezüglich dieser Thematik effektiv ausnehmen kann, sind die psychischen Verarbeitungsformen im wahrsten Sinne des Wortes Allgemeingut geworden, mit der Konsequenz, dass eine stillschweigende und mehrheitliche Akzeptanz für die tatsächliche gesellschaftliche Lebenswirklichkeit existiert.

Die Menschen unterscheiden sich demnach hauptsächlich in puncto der Intensität ihrer Involviertheit (diese ist gleichbedeutend mit dem Status des identitätsgemäßen Gleichgewichts respektive der Qualität und Quantität der vorhandenen identitäts-/selbstwertgemäßen Substanz) und hierin ist auch der Hauptgrund zu sehen, weshalb manche Menschen – trotz ihrer grundsätzlichen Tangierung – stärkere reflektierende Kräfte und demzufolge eine entsprechend größere Sensibilität als andere besitzen.

Überspitzt, indes trotzdem treffend formuliert: Der ganz normale Wahnsinn wird als üblich und gewöhnlich angesehen, einzig besondere Verhaltensexzesse, wie beispielhaft der Amoklauf von Winnenden in Baden-Württemberg, der Sklaverei- und Inzestfall von Amstetten (Österreich) oder der Genozid in Ruanda, werden als abnormal, als der Norm und der Normalität nicht angemessen bewertet und erregen – natürlich nur für sehr kurze Zeit – breite, öffentliche Aufmerksamkeit und Interesse.

Der Aufschrei ist dann groß, genauso wie die Entrüstung, das Entsetzen und die Fassungslosigkeit. Es wird in solchen Fällen nach Erklärungen des vermutlich Unerklärlichen gesucht, die Motive scheinen völlig unklar zu sein und mangels verifizierbarer Fakten wird von Unbegreiflichkeit gesprochen, einer Tat, die nicht zu verstehen bzw. mit den gängigen Maßstäben nicht zu fassen ist.

Die jeweiligen Experten halten sich im Vagen und Ungefähren, niemand bezieht eindeutig Stellung oder - besser gesagt - ist dazu überhaupt in der Lage. Außerdem wird bei derartigen Geschehnissen auf viele gesellschaftliche Konventionen und Umstände Rücksicht genommen, niemand will sich mit einer klaren Haltung angreifbar machen.

Begründungen, dass es sich – zumindest bei Ereignissen wie zum Beispiel einem Amoklauf oder exzessiver Gewaltexplosionen (vermehrt vorgekommen in letzter Zeit an Nahverkehrsbahnhöfen) – überwiegend um vom Zeitgeist inspirierte Erscheinungen handelt, werden gerne vom Menschen angeführt und angenommen, da sie als offensichtlich und leicht nachvollziehbar erscheinen.

Auch dass es bei den bekannt gewordenen Vorfällen um zwar schreckliche, aber lediglich bedauernswerte und letztlich (wahrscheinlich) unvermeidbare Einzelfälle geht, wird durchaus, mit entschuldigendem Charakter, häufig und gleichfalls schnell aufgeführt. Die enorme Dunkelziffer beispielsweise im Bereich Kinderpornografie und Pädophilie oder physischer und psychischer Gewalt gegen Kinder, die übrigens völlig unabhängig vom gesellschaftlichen, beruflichen und wirtschaftlichen Stand der Täter besteht und geschickt hinter einer gutbürgerlichen Fassade versteckt wird, sei an dieser Stelle bloß erwähnt.

Jedoch dreht es sich weder um Einzelfälle – stellvertretend aus der jüngeren Vergangenheit seien der Fall Pascal, die ethnischen Säuberungen in Ex-Jugoslawien, der Fall Kampusch und die unzähligen stillen Dramen, die gar nicht ans Tageslicht kommen, genannt -, noch sind diese Exzesse so schwer zu erklären.

Tatsächlich ist die überwiegende Mehrheit überhaupt nicht an der tiefgründigen Wahrheit hinsichtlich der Ursachen interessiert und – unbewusst – froh, sich im Unklaren zu verlieren oder von den sogenannten Experten beschwichtigend bestätigt zu bekommen, dass es sich um Ausnahmen handelt. Deren Existenz befindet sich nicht in der Mitverantwortung und dadurch Mitschuld der gesellschaftlichen Ausrichtung und Systematik und hält folglich zum weiter machen wie bisher an oder ermutigt sogar dazu.

Tiefenpsychologischer Hintergrund für das erwähnte Desinteresse ist die implizierte Bestätigung der eigenen Lebensweise (Ausstellung eines Freibriefs) und damit keine Destabilisierung und Gefährdung des individuellen identitätsgemäßen Pseudogleichgewichts, die eine Hinterfragung und Infragestellung der persönlichen wie gesellschaftlichen Eckpfeiler und Koordinaten zwangsläufig mit sich bringen würden.

Noch eine Anmerkung: Exzesse als unausweichliche Endergebnisse erheblicher identitätsgemäßer Störungen sind selbstredend nicht auf den Bereich physische und psychische Gewalt einzugrenzen. Gute und aktuelle Beispiele für Ausschweifungen und Maßlosigkeiten aus der Wirtschaft, die in ihrem Fundament ähnlich gelagert sind, stellen Investmentbanking, Hedgefonds, etc. in bestimmten Ausprägungen dar, wo die Gier und demgemäß diese Form der Ersatzhandlung auf die Spitze getrieben werden.

Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 5)

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