Читать книгу Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 5) - K. Ostler - Страница 7
Analyse eines Amoklaufs unter dem Blickwinkel der Lebenswirklichkeit
ОглавлениеAnhand nachfolgender Ausführungen soll einerseits veranschaulicht werden, welche Faktoren und Umstände, die vielfach als Normalität aufgefasst werden, ein „unnormales“ und unbegreifliches Verhalten ergeben, und andererseits, welche schwer durchschaubare und nachvollziehbare Kausalitäten diesem Entwicklungsprozess zugrunde liegen.
Das Beispiel eines Amoklaufs in der oberflächlichen Betrachtung: Unkomplizierter und auch unkontrollierter Waffenzugang, brutale Gewaltspiele im Internet, sonstige mediale Stimulationen (Fernsehen, Video, Kino, Internet) und/oder ein gefühlkaltes Elternhaus sind einleuchtende Deutungen und zweifelsohne wichtige Faktoren, die in letzter Konsequenz zum Kumulationspunkt und daraufhin zur Tat geführt haben, aber diese Punkte beurteilen den Sachverhalt überwiegend auf der Ebene der Symptome und nicht der wirklichen Ursachen.
Einige zielführende Fragen:
> Worin ist der Anlass zu sehen, dass ein Mensch einen großen Teil seiner Zeit vor dem Bildschirm mit Gewaltvideos und/oder -spielen verbringt?
> Welche Art von Befriedigung erfährt bzw. erhält er auf diese Weise? Warum benötigt er diese eigentlich? Von was muss er sich ablenken?
> Verkörpert diese Befriedigung nicht eine Ersatzbefriedigung? Wird also nicht ein Um- und Zustand saturiert, der, ursprünglich im Kindesalter, nicht gestillt oder durch Härte und Strenge gänzlich unterdrückt wurde (Stichwort: Bedürfniserfüllungen) und jetzt in einer stellvertretenden Form vollzogen werden soll?
> Was fühlt ein Mensch, wenn er eine todbringende Waffe in der Hand hält?
> Was soll mit dem Gewaltausbruch eines Amoklaufes bezweckt und dokumentiert werden?
> Und weswegen greifen nur wenige Menschen zur Waffe, obwohl sich viele Menschen in virtuellen Gewaltwelten bewegen und/oder ein ablehnendes Elternhaus haben? Bietet sich deshalb eine leichte, verallgemeinerbare Antwort diesbezüglich nicht an und ist sogar – scheinbar - auszuschließen?
Der Mensch möchte mit seiner Tat Macht und Stärke demonstrieren, Aufmerksamkeit erzeugen und Anerkennung Gleichgesinnter (Stichwort: Gruppenzugehörigkeit, Schicksalsgemeinschaft) bekommen, die ihm in seinem Alltag fehlen. Fehlen ist in diesem Zusammenhang sicherlich maßlos untertrieben, denn der Betroffene besitzt ein dies betreffend extremes Defizit, das sowohl sehr tief wie gleichfalls besonders breit in seiner Psyche verankert ist. Es damit nimmt einen großen Raum ein und ist folglich in der Kindheit entstanden, da, wie schon in mehreren vorherigen Kapiteln ausgeführt, ein erhebliches psychisches Defizit ausschließlich in der (Früh) Kindheit erwachsen kann.
Dieses Defizit bzw. identitätsgemäße Schwäche, die sich in der Regel anhand Negation und auch Unterdrückung elementarer Grundbedürfnisse im (früh) kindlichen Altersspektrum entwickelt hat und im weiteren Lebensverlauf mittels bestimmter Erlebnisse innerhalb der Identitätsproblematiken 3 und 4 noch potenziert wurde, hat es dem Betroffenen nicht ermöglicht, ein auf weiträumiger Basis fußendes, intaktes identitätsgemäßes Gleichgewicht aufzubauen.
Der defizitäre Bereich ist derart wesentlich und dominant, dass kein stabiles Fundament ausgebildet werden konnte. Dieses Befinden begleitet den Betroffenen sein ganzes Leben lang und belastet ihn außerordentlich in Gestalt eines enormen, unterschwelligen Leidensdrucks, der buchstäblich durch die erlittenen Erfahrungen implantiert wurde.
Das Pseudogleichgewicht ist auf starke Kompensationen und intensive Verdrängungsarbeit angewiesen, um die bestehende Fragilität vor den vorhandenen destruktiven Kräften und deren latent bedrohlicher Wirkung (in Form eines Zusammenbruchs) zu stützen, wie darüber hinaus nach außen eine gesellschaftskonforme Fassade aufrechterhalten zu können.
Aufgrund der entsprechenden Kompensationen und Verdrängungen, jedoch auch mangels der nötigen Sensibilität, Deutungsfähigkeit und Kontextherstellung, wird von der Außenwelt die tatsächliche innere Leere und Verzweiflung nicht wahrgenommen, sondern lediglich die errichtete, auf Überspielen und Täuschung ausgelegte, äußere Fassade. Diese ist einem Selbstschutz gleichzusetzen.
So berichtet das Umfeld in diesen Fällen oftmals im nach hinein von keinerlei oder bloß schwachen Anzeichen einer Störung und Problematik beim Amokläufer, er war normal, unscheinbar und/oder äußerst angepasst, obwohl er bereits – metaphorisch gesehen – eine zwar unsichtbare, aber bereits tickende Zeitbombe war, deren Ticker stetig an Geschwindigkeit und Gefährlichkeit zunimmt.
Für seine Gefühle hat der Täter keine Sprache. Diese Sprachlosigkeit – in der Regel hat auch das Umfeld keine Sprache - ist anlässlich eines tiefen Maßes an Kränkung und Entwertung entstanden. Die Rache für den zugefügten Schmerz ist die Ausdrucksform oder Sprache des Täters.
An diesem Punkt kommen auch wieder die allgemeine gesellschaftliche Verfassung und Lebenswirklichkeit ins Spiel, die letztlich mit ihren zeitgeistgeprägten Parametern, ihrer Verdrängungen und ihren Rationalisierungen den Nährboden für Exzesse überhaupt schaffen bzw. herausbilden lassen.
Subtile, grobe, laute, stille, mediale, virtuelle, ge- bzw. erträumte, physische, psychische, sexuelle, familiäre, gruppengemäße, politische und wirtschaftliche Gewalt, Rücksichtslosigkeit, Ellenbogendenken und Machtmissbrauch an allen Ecken und Enden der Gesellschaft sind die sogenannte Normalität, in der sich das Leben der Menschen bewegt.
Im Zusammenhang mit der Omnipräsenz der Gewalt muss die Frage gestellt werden, wie viel Gewalt – und hier ist nicht einzig direkte, ausgeübte und erlittene (physische, psychische und verbale), hingegen ebenfalls indirekte (im näheren Umfeld sich ereignende), medial konsumierte Gewalt gemeint – eine normale, gesunde Sozialisation eines Kindes verträgt respektive wie viel an diesbezüglicher Widersprüchlichkeit (einerseits die gesellschaftliche Verurteilung von Gewalt und andererseits deren permanente Präsenz).
Für Erwachsene ist Gewalt in jeder ihrer Ausdrucksformen zur täglichen Realität geworden und diese Normalität wird betreffend der Zumutbarkeit für die kindliche Psyche und deren Verarbeitungsmöglichkeiten deshalb entweder gar nicht oder bloß unzureichend berücksichtigt.
Wie soll ein Kind Gewalt verstehen, einordnen und damit umgehen, vor allem vor dem Hintergrund, dass Gewalt immer eine Verletzung der psychischen Grundbedürfnisse darstellt? Wie ist einem Kind zu erklären, warum da gemordet und dort vergewaltigt wird?
Unter dem Aspekt, dass Gewalt grundsätzlich sowohl die Psyche berührt, wie Ausdruck einer psychischen Problematik ist, sind korrespondierende Verdrängungsreaktionen des Kindes mit ungewissen Auswirkungen und Ergebnis unausbleiblich.
Eine Zwischenbemerkung, die einerseits die Problematik im öffentlichen Umgang mit Gewalt veranschaulicht, andererseits aber auch aufzeigt, wie wenig – tiefere - Ahnung die Fachleute bezüglich der elementaren psychischen Zusammenhänge, gerade Kinder und Jugendliche betreffend, haben. Auf die Frage, ob Jugendlichen alles an Gewalt medial zuzumuten ist, antwortete eine Psychologin mit „grundsätzlich ja, denn sonst sind wir wieder bei der Bevormundung. Wer bestimmt denn darüber, was dem Einzelnen zumutbar ist? Schule wie Eltern sollen den Jugendlichen befähigen, mit dem umzugehen, was ihm in der Realität begegnet.“
Wenn beispielsweise Gewaltspiele so weit verbreitet und demnach beliebt sind, dann sagt dies sehr viel über den wirklichen Zustand einer Gesellschaft aus.
Woher entspringt die entsprechend große Affinität und weshalb kann die Gesellschaft keine selbstkritischen Rückschlüsse hinsichtlich dieser Thematik ziehen?
Es gibt ein dermaßen umfangreiches Angebot an Gewalt in ihrer unterschiedlichsten Ausprägung und dies, weil offensichtlich eine genauso große Nachfrage und Begierde danach existiert. Wenn es diese Nachfrage und den Bedarf nicht gäbe, dann wäre die Gewalt nicht solchem Grade allgegenwärtig und deren Angebot und Gegenwart würden sich nachhaltig reduzieren. Tatsächlich kann konstatiert werden, je mehr Gewalt, desto mehr (öffentliches) Interesse, desto besser die Vermarktungschancen.
Diese Nachfrage beruht auf einem starken Interesse und auch einer häufig beachtlichen Faszination, die kraft eines sehr intensiven Bedürfnisses hervorgerufen werden. Das Verlangen begründet sich in der Notwendigkeit für Ersatzhandlungen mit angemessenem Ersatzbefriedigungscharakter, die mit und dank des Konsums und der Ausübung von Gewalt besonders leicht erreicht werden können.
Gerade Gewalt mit ihren in Verbindung stehenden Attributen und Wesenszügen (u. a. Stärke, Größe, Bedeutung, Geltung, Kontrolle, Entscheidungsmacht), die der Antipode (im Sinne von Gegenpart/-seite) zu den Eigenschaften eines Defizits (u. a. Schwäche, Abhängigkeit, Ohnmacht, Handlungsunfähigkeit) ausmachen, ist prädestiniert zur schnellen Generierung von Ersatzbefriedigung und daher ein geeignetes Kompensationsmedium.
Gewalt spricht die Psyche respektive die Emotion an, wird allerdings mittels der Ratio legitimiert.
Wer Gewalt anwendet, übt Kraft und Stärke aus und will damit Einfluss, Macht und Herrschaft über einen Menschen, Gruppen oder Zustände erreichen. Vordergründige Antriebsfeder dafür mögen meistens materieller Gewinn und Zuwachs, also wirtschaftliche Intensionen, sein, gleichwohl basiert die ursächliche Motivation auf dem kompensatorischen Befriedigungsgefühl während des Gewaltausübungsprozesses mit der erfolgreichen Erlangung des angestrebten Resultates (z. B. gesellschaftlicher Status, Respekt, Anerkennung, Bewunderung - auch in Form von angstvoller Bewunderung).
Beides, sowohl das erhaltene Ergebnis wie das einhergehende Gefühl im Laufe der Durchführung der maßgeblichen Aktivität, nehmen Ersatzfunktionen (Ersatzhandlung mit Ersatzbefriedigung) ein, die bei Menschen erforderlich werden, sobald eigentliche, den menschlichen Grundbedürfnissen entsprechend vorgegebene Erwartungen und Handlungen nicht zufriedenstellend erfolgt sind.
Diese Ersatzreaktionen sind dann eine Verlagerung auf ein anderes, stellvertretendes Terrain und infolgedessen schwer als solche zu erkennen, weil sie in der Regel lediglich noch symbolische Gestalt innehaben.
Gewalt ist de facto in der Essenz – ausgenommen der in ihrer Not entsprungenen Verteidigungsform – ein Zeichen von psychischer Schwäche, der wiederum die jeweiligen Ängste zugrunde liegen, die sich, potenzierend zur Urangst, aus dem Defizit entwickelt haben.
Der Gewaltausübende versucht unbewusst über gewalttätiges Verhalten seinen schwach-fragilen Kern zu schützen und die Außen- und Innenwelt davon abzulenken, aber sich ebenso – unbewusst – gegen die Fremdbestimmung - einerseits durch die Abhängigkeit von externen Identitätsstiftern und andererseits wegen der psychisch motivierten Instrumentalisierung der eigenen Ratio - aufzulehnen. Gewalt ist zudem ein Ausdruck von Hilflosigkeit, gleichfalls einer Hilflosigkeit der psychischen Struktur, die identitätsgemäße Schwäche und deren verbundener Ängste und Probleme auf einem alternativen Wege als der der Gewalt zu artikulieren, zu bearbeiten und zu kompensieren.
Da Menschen – wie bereits in vorherigen Kapiteln ausgeführt – mit einer erheblichen psychischen Problematik einen gestörten Energiehaushalt angesichts fehlender oder ungenügend vollzogener biologischer Entwicklungsprozesse und physiologischer Einschränkungen haben, findet bei Anwendung physischer Gewalt über diese eine temporäre, energetische Entladung statt.
Bei Personen, die einen ausnehmend großen identitätsgemäßen Mangel haben, wirkt die Ersatzbefriedigung nicht lange. Die Folge ist, dass Gewaltausübungen immer stärker und häufiger werden müssen, wenn auch oftmalig erst auf gedanklich/theoretischer oder virtueller Weise, und so entsteht ein Dauerzustand mit permanentem Steigerungscharakter.
Im übertragenden Sinn: Die Dosis muss laufend erhöht werden, um eine ähnliche oder gleichbleibende Befriedigungswirkung zu erzielen, wobei diese mit einer energetischen Ruhestellung vergleichbar ist. Der Zustand der Entspannung entspricht der kurzzeitigen Ausschaltung des vom Defizit verursachten Drangs bzw. Dursts nach Erfüllung.
Die Gewalt wird andauernd heftiger und exzessiver, die Getriebenheit übermäßiger. Die Gewalt – wie nahezu alle Parameter unserer Gesellschaft – ist auf Steigerung und Wachstum ausgerichtet.
Es ist schon frappierend anzuhören, sobald die sogenannten Experten, darunter Politiker, Soziologen und Psychologen, sich zu den Auswirkungen äußern, die beispielsweise von Gewaltfilmen und Videos ausgehen. Hier dient schließlich der Gewaltkonsum der (spielerischen) Ablenkung, der Zerstreuung und dem Zeitvertreib, gleichgesetzt mit einer unverfänglichen Freizeitbeschäftigung wie spazieren gehen oder einem Liebesroman lesen, und wird dadurch marginalisiert, verharmlost und letztlich zur Normalität erklärt.
Die Argumentationsrichtung, dass der Effekt von Gewaltmedien wissenschaftlich nicht eindeutig erwiesen und deshalb weder eine elementare Änderung in der Bewertung von Gewalt noch eine Eindämmung und strengere Regulierung notwendig sind, kann einem wahrlich nur den Atem rauben (natürlich ist der Gewaltbereich außerdem ein großer und vor allem lukrativer Wirtschaftsfaktor, dessen Arbeitsplätze geschützt werden müssen …).
In diesem Zusammenhang der wissenschaftlichen Beweisbarkeit passt die Aussage einer Pädagogin, die bezüglich der unterschiedlichen Positionen in puncto Computerspiel- und Internetsucht meinte „und mögen die Experten weiterhin streiten, ob es Computer- und Internetsucht überhaupt gibt, die Ärzte haben jedenfalls immer häufiger damit zu tun“.
Eine Zwischenbemerkung sei hier erlaubt: Die gleichen Personen, die Zusammenhänge erst anerkennen, vorausgesetzt diese gelten nach ihren wissenschaftlichen Prinzipien als verifizierbar, frönen am Wochenende ihrem Glauben in der Kirche ...
Diese pseudo-rationalisierenden Menschen entlarven sich selbst und zeigen nicht bloß ihre diesbezügliche Einstellung und Gesinnung, sondern dokumentieren auf diese Weise obendrein, wie weit sie selbst in dieser Lebenswirklichkeit verstrickt und gefangen und folglich Teil des Gesamtsystems sind.
Die Rationalisierung, ergo die vernunftgemäße Erklärung und dementsprechende Beschwichtigung, wird hier – um beim Thema Gewalt zu bleiben - als Waffe eingesetzt, um die eigene psychische Befindlichkeit und deren Involvierung in Beziehung zur Gewalt (eine – zumindest unterschwellige – persönliche Neigung zur Gewalt existiert), die für deren Verharmlosung und Tolerierung vorhanden sein muss, zu rechtfertigen. Das von der Psyche manipulierte Bewusstsein fungiert in der Rolle des Verteidigers der psychischen Verfassung und ist insofern – selbstverständlich unbewusst – überdies Wegbereiter für exzessive, nicht mehr kontrollierbare Gewaltaktionen, weil dergestalt die diversen grundsätzlichen, für Exzesse erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.
In diesen Fällen hat der Mensch keinen tieferen Bezug zu sich selbst und seinem Inneren und spaltet in der Folge die eigene identitätsgemäße Problematik (also das psychische Defizit) ab, die in der Regel ebenfalls auf Eigenerfahrungen aus der Kindheit mit einer wie immer gearteten Form von Gewalt basiert, und belügt bzw. täuscht sich durch die Befürwortung, Duldung oder wenigstens Unterlassung von Gegenmaßnahmen versus Gewalt selbst.
Zurück zum Thema Amokläufer. Die Ursachen für das Interesse und die Affinität an Gewalt und deren Anwendung, ob in tatsächlich praktizierter, nur angedachter oder virtuell nachgeahmter Weise, wurden bereits eingehend behandelt.
Die Grundlage ist demnach schon gelegt, indes ist der Weg zur Explosion der Gewalt noch ein weiter. Auf diesem Weg zur Tat erhalten die erwähnten Symptome (u. a. Begeisterung für Waffen und exzessive Brutalität) und auch Lebensumstände (u. a. leichter Waffenzugang, medialer und virtueller Konsum von Gewalt) mehr Bedeutung und schieben sich in den Vordergrund.
Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund des ständigen Umgangs mit Waffen und/oder Gewaltmedien der Gewohnheits-, Verharmlosungs- und Normalitätsaspekt (Stichwort: Routine; keinerlei kritische Betrachtung) – wie bei jeder anderen Handlung ebenso – eintritt und eventuell bestehende Vorbehalte, Hemmungen und Ängste daher abgebaut werden.
Der Betroffene hat Erlebnisse, die mit den in der Kindheit gelegten Demütigungen und Defiziten korrespondieren. Zum Beispiel wird er von einer von ihm begehrten weiblichen Person zurückgewiesen (enttäuschte Liebe), oder von Mitmenschen ob seines Verhaltens und/oder auch Aussehens diskreditiert bzw. öffentlich vorgeführt, oder ist in seiner Arbeit/Schule ohne Erfolg und wird entlassen respektive erhält keinen Abschluss.
Bildhaft formuliert: Der Betroffene hat aus und durch seine Kindheit Wunden (psychische Verletzungen) erhalten, die weder geheilt noch zugewachsen und richtig vernarbt sind. In diese alten, aber letztlich weiterhin offenen, eitrigen Wunden wird mittels von zum Ur-Defizit in inhaltlicher Verbindung stehender Vorkommnisse wieder und wieder in die – gleiche - Wunde gestochen. Diese fängt erneut an zu bluten, vergrößert sich und schmerzt immer mehr.
In inhaltlicher Verbindung stehender Vorfall bedeutet beispielsweise, dass das in der Kindheit erwachsene Problem dank Herabsetzung, Nichtbeachtung, Beschämung, Zurückweisung und Nicht-Akzeptanz (oder die Akzeptanz war einzig an konkrete Bedingungen geknüpft) geprägt war und die in der Jugend oder im Erwachsenenalter gemachten Schlüsselerfahrungen den Menschen permanent mit seiner tiefen Problematik konfrontieren. Es entsteht also keine neue Wunde, da es um keine andere Angelegenheit geht, hingegen wird in die alte existente ständig tiefer gebohrt und infolgedessen der Schmerz stets größer und unerträglicher.
Alles Vorgänge oder Ereignisse, die sich jeden Tag tausendmal in den Gesellschaften ereignen und für die überwiegende Mehrheit der Menschen, deren identitätsgemäße Konstitution nicht so im außergewöhnlichen Maße (respektive in dieser Dimension) vorbelastet ist, zwar eine unangenehme Note haben, jedoch die mit einem gewissen Aufwand in der Lage sind, die Erlebnisse wegzustecken und – kompensatorisch - zu verarbeiten. Dies vollzieht sich oft in Gestalt entsprechend „milder/harmloser“ psychischer Reaktionsformen oder Ersatzhandlungen.
Metaphorisch ausgedrückt: Es macht prinzipiell einen großen Unterschied, auf welchen Boden bzw. Zustand etwas trifft. Wenn ein brennendes Zündholz auf feuchtes Gras fällt, dann passiert nichts Wesentliches, da es entweder gleich erlöscht oder nur noch ein bisschen nachglüht, ohne das Gras entzünden zu können. Sobald dieses Zündholz aber mit absolut trockenem, strohigem Gras in Berührung kommt, dann kann, je nach spezieller Situation (z. B. anfachende, verstärkende Winde), ein Brand bis hin zum unkontrollierbaren Flächenbrand entwickeln.
Übertragen auf die identitätsgemäße Problematik heißt dies, dass ein psychisch – ziemlich - stabiler Mensch (symbolisch feuchtes, vitales Gras), der bestimmten Aussagen oder Ereignissen ausgesetzt ist, die belastenden, weil zum Beispiel demütigenden Charakter haben (symbolisch brennendes Zündholz), mit diesen angesichts seiner psychischen Ressourcen (Wasser/Feuchtigkeit im Gras, sinnbildlich für Vitalität und Widerstandskraft) angemessen umgehen kann. Eine – relativ - gesunde Psyche kann dies in einem kurzen (Zündholz erlöscht wegen der Nässe) oder etwas längeren (Zündholz glüht noch nach) Zeitraum verkraften, ohne dass dies zu weiteren, eine Minderwertigkeit erzeugende, Auswirkungen (Entstehung eines Brandes) führt.
Einfach: Dieser Mensch kann die Beanspruchung ohne besondere Probleme und Nachwirkungen aushalten und wegstecken.
Im gegenteiligen Fall, sofern der Mensch ein erhebliches psychisches Defizit hat und somit diesbezüglich vorbelastet ist (symbolisch verdorrtes, substanzloses Gras), kann eine erneute Entwertung oder andere psychisch bedrückende Situation/Erlebnis (symbolisch brennendes Zündholz) zu einem großen Schaden werden, der sehr lange zur Bewältigung benötigt (symbolisch Brand) oder sogar in eine existenzielle Bedrohung in Anbetracht der Gefährdung der Funktionsfähigkeit (symbolisch Flächenbrand; keine Möglichkeit zur Verarbeitung) mündet.
Die soziale und ebenso gesellschaftliche Problematik liegt in dem jeweiligen Unverständnis der zwei unterschiedlichen Positionen füreinander. Was für den einen Menschen ob seiner Vorgeschichte eine immense Tragweite hat und durchaus eine Katastrophe oder eine Art Weltuntergang besagen kann (oder besser als solche/solcher empfunden wird), stellt für den anderen eine zu vernachlässigende Lappalie dar.
Beide Seiten können sich wegen ihrer ungleichen identitäts- bzw. selbstwertgemäßen Lage normalerweise nicht oder nur ungenügend in die Verfassung des Gegenübers versetzen. Die mangelnde oder sogar gänzlich fehlende Vorstellungskraft und Fähigkeit zur Nachvollziehbarkeit macht den gegenseitigen Umgang zu einem – unbewusst – schwierigen und daher zudem unkalkulierbaren Unterfangen. Leichtfertige oder gedankenlose (ohne eigentliches Hintergrundmotiv) Äußerungen und Handlungen können beim Pendant, auch wenn dies aufgrund der Wahrung der Fassade nicht offensichtlich zu erkennen ist (als Selbstschutz wird die Schwäche verborgen und Normalität bzw. Belanglosigkeit vorgegaukelt), psychische Verletzungen und Kränkungen verursachen, die im expliziten Fall und bei konkreter Häufung der Vorkommnisse dann unvorhersehbare und unkontrollierte Überreaktionen ergeben können.
Der Betroffene kann nicht mit Niederlagen umgehen, da angesichts seiner stark instabilen psychischen Konstitution die Verarbeitungsmöglichkeiten und die Frustrationspuffer (energetische Voraussetzungen) nicht vorhanden sind, und muss aus energetischer Sicht seine ganze Kraft auf das identitätsgemäße Pseudogleichgewicht konzentrieren, um wenigstens in den weiteren Lebensbereichen seine Funktionstüchtigkeit und zudem seine kräfteraubende Fassade aufrechtzuerhalten. Für den Umgang mit erneuten Enttäuschungen wären psychische Ressourcen notwendig, die diese Menschen in ihrer Entwicklung nicht bilden konnten und deshalb nicht zur Verfügung stehen.
Die Person ist gegenüber diesen negativen Erlebnissen hochgradig wehr- und hilflos – sie ist buchstäblich getroffen, fühlt sich entweder erheblich oder völlig entwertet - und flüchtet sich als Ausweg, auch anhand fehlender, für sie realisierbarer Alternativen, in kompensatorische Ersatzhandlungen, die sich wiederum in inhaltlichen Bezug zu seinem Ur-Mangel befinden.
Die Herabsetzung, Nichtbeachtung, Zurückweisung und Nicht-Akzeptanz haben zu einem Gefühl der Schwäche, des Scheiterns, des Verlierens, der Erfolglosigkeit, des Nichtkönnens und damit der Minderwertigkeit geführt (und dies in einer Welt, in der ausschließlich der Erfolg, die Stärke, der Sieg zählt und Schwäche, das Versagen, der Misserfolg ein großer Makel sind), das jetzt über die Gewalt genau mit dem Gegenteil, dem Gefühl der Macht, der Kraft, der Stärke und des Erfolgs, versucht wird, zumindest zu neutralisieren.
Der Konsum bzw. die Ausübung von Gewalt, unabhängig ob lediglich imaginär mittels entsprechender Fantasierung oder virtuell durch Videospiele, lenkt nicht nur während der Aktivität von der eigenen Situation und Befindlichkeit ab und verdrängt diese, sondern füllt den Selbstwertgefühlspeicher auf diese Weise dank der verbundenen Bestätigung und Befriedigung. Der Betroffene fühlt sich – natürlich bloß kurzzeitig – stark, mächtig und erfolgreich und kann, so paradox und grotesk es klingt, in seiner Sicht die Erwartungen der Gesellschaft bewerkstelligen.
Nach dieser temporären Befriedigung ist die Ernüchterung wieder präsent, zumal sich an seiner problembeladenen Lage nichts geändert hat und abermalige Frustrationen zu einer sich immer steigernden inneren Spannung führen. An diesem Punkt kommt darüber hinaus eine gewisse situationsgemäße Immanenz zum Tragen (Stichwort: Teufelskreis), da der Betroffene – mitbegründet kraft seiner laufend wachsenden Verzweiflung – nicht die richtigen Mittel hat und einsetzen kann, um das erhoffte und erforderliche Resultat, sprich eine Aufwertung und folglich eine Stabilisierung der unsicheren psychischen Verfassung, zu ermöglichen.
Diese unpassenden Verhaltensweisen zeichnen sich durch zwanghafte, getriebene, verbissene und aggressive Elemente aus, weil der psychische Erfolgsdruck beträchtlich ist und dies wird erneut zum Bumerang, da die Umwelt das registriert und mit Ablehnung reagiert. Der Betroffene möchte anders agieren, kann dies jedoch anlässlich seines psychischen Zustandes nicht. Er sitzt buchstäblich im psychischen Irrgarten (Stichwort: psychische Falle) und findet keinen Ausweg bzw. nicht den Weg nach draußen.
Bildlich gesehen läuft dieser Mensch stets mit seinem Kopf gegen die gleiche Wand bzw. will durch die Wand, nicht aus blanker Sturheit, indes weil er keine andere Option sieht, und mit jedem neuen Anlauf wird die Wucht des Aufpralls größer, aber auch die damit vermittelten Schmerzen, ohne gegen die Wand etwas ausrichten zu können und demnach an seinem Status quo etwas zu verändern.
Die Sensibilität, ja Dünnhäutigkeit, verstärkt sich mit jedem Misserfolg und jeder Zurücksetzung ständig und begründet außerdem die fortwirkend größer werdende Konzentration und Fixierung auf die defizitäre Problematik (die Gedanken sind regelrecht gefangen und kreisen einzig um die psychische Schwäche und die Chancen zur Entlastung). Beim Betroffenen nehmen das Brodeln, also der psychische Druck, und die Ausweglosigkeit weiter zu.
Diesem Menschen fehlt aufgrund seiner energetischen Konstellation und der darauf basierenden schwachen Persönlichkeitsstruktur, in der einige Entwicklungsschritte entweder gänzlich nicht oder nur eingeschränkt ausgeführt wurden, die Fähigkeit und Kompetenz zu analysieren, zu reflektieren und umzusteuern. Stattdessen verrennt er sich immer massiver, agiert in stereotypischer Art und interpretiert automatisch jedes noch so kleine Vorkommnis, selbst wenn objektiv gesehen kein Hintergrund, Bezug oder Anlass besteht, zulasten seiner selbst (Selbstentwertung).
Bedingt durch sein äußerst enges, eindimensionales psychisches Raster in Folge der Fokussierung auf seine Schädigung ist kein offener Blick machbar und der Betroffene – vergleichbar mit dem Sog einer nicht zu entkommenden Abwärts-/Negativspirale – der Situation verstärkt und permanent hilfloser ausgesetzt. Der Zustand wird prekärer und spitzt sich zu. Der innere quälende Druck wird beharrlich dringlicher, eine wirkliche umfassende Lösung (aus der Sicht des Betroffenen) muss her.
Angesichts der stark angeschlagenen psychischen Verfassung haben Kompensationen, die nicht in unmittelbarer Beziehung zum Ur-Defizit stehen, keinerlei nachhaltig stabilisierende Wirkung auf das laufend mehr aus den Fugen geratene identitätsgemäße Pseudogleichgewicht.
Der betroffene Mensch gerät in eine kontinuierlich schwieriger zu klärende Zwickmühle. Einerseits seine Unfähigkeit, auf „normalem“, ergo nicht gewalttätigem Weg, die unabdingbare, richtige und somit wirkungsvolle Kompensation für seine psychische Problematik zu erreichen, andererseits die Wirkungslosigkeit anderer, unbrauchbarer Ausgleichsversuche.
Spätestens hier wäre der Betroffene auf Unterstützung der Außenwelt angewiesen, die professionell und tiefgründig helfend eingreift, und ihm eine alternative, multipolare Persönlichkeitsperspektive aufzeigt und eröffnet, um seine ständig zunehmende Gewaltfixierung zu reduzieren. Allerdings ist dies, wie sich meistens im Nachhinein erweist, nicht der Fall, da > üblicherweise der Umwelt die psychologischen Kenntnisse, Zusammenhänge und die diesbezügliche Feinfühligkeit fehlen, > manchmal aber überdies das schiere Interesse nicht existiert, zumal in der schnelllebigen Zeit jeder Mensch mit sich selbst genug beschäftigt ist und sich deshalb keine großen Gedanken über das persönliche Umfeld macht, > die direkt tangierte Familie, als der gewöhnliche Auslöser des psychischen Defizits, die Problematik verdrängt und daher als Warner und Hinweisgeber ausfallen, > zudem erschwerend die vom Betroffenen aufgebaute Fassade wichtige Einblicke nicht oder lediglich im geringen Umfang zulässt und eventuelle Verhaltensauffälligkeiten als gängige, weil in ähnlicher Weise weitverbreitete Marotten, Macken und individuelle Eigenheiten verharmlosend abgetan und darum wieder zum Teil der Lebensnormalität werden.
Das Ausmaß der Persönlichkeitsproblematik wird dergestalt nicht erkannt und gewisse – vom Betroffenen unbewusst ausgesendete – Signale zur Hilfe, die eigentlich immer vorhanden sind, werden falsch interpretiert.
Auf die Gesamtgesellschaft übertragen kann dieses Verhalten durchaus als gruppenautistische Reaktionsform mit starkem Verdrängungsimpuls bezeichnet werden, da jeder Mensch aufgrund seiner eigenen identitätsgemäßen Problematik in irgendeiner Art und Weise selbst betroffen ist und mindestens die groben Züge der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit (siehe die oben aufgeführten Punkte der Problemfelder, Fehlentwicklungen und Störungen) mitträgt.
Folglich sind die Scheuklappen sehr groß, Vorfälle, Um- und Zustände und Kontexte/Kausalitäten wollen gar nicht gewusst werden, auch wenn man sie wissen könnte. Die Aufklärungsform und –qualität von Exzessen, vor allem dabei die Bewertung von Ursache, Symptom und der Rolle des Bewusstseins, das als freie, unabhängige, souveräne und nahezu beeinflussungsfreie (Entscheidungs) Instanz dargestellt wird (der Täter hatte scheinbar rational die freie Wahl zur Tat und sein Handeln war nicht von seiner psychischen Verfassung determiniert), erfolgt bloß oberflächlich und bildet dadurch in der Konsequenz gleich die Basis für die Entstehung des nächsten Exzesses.
Die vor einem Amoklauf oft konsumierten gewaltverherrlichenden Medienprodukte wirken im Zusammenspiel mit den weiteren Identitätsproblematiken (u. a. demütigende Erlebnisse, Ausgrenzung) katalytisch, in etwa so, als wenn auf einem ausgetrockneten Feld mit Brandbeschleuniger und Feuer gespielt wird und der Funkenflug pausenlos zunimmt und damit gefährlicher wird.
Der letzte Akt, der Amoklauf, die Tat, ist oberflächlich – rein symptomgemäß betrachtet – eine Machtdemonstration, eine Abrechnung, eine Rachetat für die erlittenen Erniedrigungen, eine Angriffshaltung. Aber vor diesem grenzüberschreitenden, irreversiblen und finalen Schritt befindet sich eine enorme Hemmschwelle, deren Überwindung nur kraft des hohen Grades der Verzweiflung und Ausweglosigkeit möglich ist. Der Betroffene steht kurz vor dem Zusammenbruch seines mittlerweile überaus instabilen identitätsgemäßen Pseudogleichgewichts, obwohl der äußere Eindruck ein anderes Bild suggerieren mag und vermeintlich von Kontrolle, Stärke und Berechnung/Coolness bestimmt ist.
Die Tat ist ein letzter, dennoch natürlich sinnloser und zum Scheitern verurteilter Verteidigungsversuch und finales Aufbäumen. Gleichzeitig bietet die Tat ferner die Gelegenheit, sich von dem nicht mehr zu ertragenden inneren Druck, der ständig größer werdenden psychischen Erschöpfung und dem hiermit verbundenen Leid und Schmerz zu befreien. Diese Befreiung von der riesigen Last wird häufig sichtbar nach der Tat, sobald der Täter, so er den Amoklauf selbst überlebt hat, voller Zufriedenheit (wegen der erhaltenen Befriedigung und Entlastung) ob seines grausamen Verbrechen zur – verständlichen – Entrüstung der Bevölkerung in laufende Kameras grinst und sich offensichtlich keiner Schuld bewusst ist oder lediglich infolge der Entkräftung apathisch mit leerem Gesichtsausdruck vor sich hin starrt.
Zwar hat die Tat vielmals einen vorbildgemäßen Ablauf (Kopie von Gewaltspielen, Vorabankündigung im Internet), durchdachte logistische Vorbereitungen (Beschaffung der Waffe und Munition, Lageplan, etc.) und daher genauso eine planerische, rationale Komponente, indes dem Impuls, sprich der Entscheidung zur Tatverwirklichung, liegt der beschriebene psychische Ausnahmezustand und eine extreme Erregung zugrunde. Die noch vorhandenen freien Energien werden gebündelt und in einer gemäß den persönlichen intellektuellen Voraussetzungen möglichst professionellen Weise für die Planung und Realisierung eingesetzt.
Die Ratio ist zu diesem Zeitpunkt einzig Werkzeug und Instrument der psychischen Problematik und Getriebenheit und kann nicht mehr regulativ und beschwichtigend eingreifen, jedoch sehr wohl kühl berechnend und ebenfalls analytisch hinsichtlich der Tatplanung und –durchführung vorgehen (Erfüllung der psychisch gesteuerten und definierten Vorgaben; vollkommene Instrumentalisierung - auch im Sinne von Missbrauch - der Ratio durch die Psyche). Die Instrumentalisierung hört allerdings nicht mit der Ausführung und dem Ende der Tat auf, sondern erstreckt sich zudem auf die Rechtfertigung (Stichwort: Rationalisierung) des Verbrechens.
Begründungen für die Tat wie vom Attentäter von Norwegen in seinem über 1500-seitigen, sogenannten Manifest, die sich, milde ausgedrückt, gegen die Islamisierung der westlichen Welt richten und derentwegen er in der Konsequenz aktiv wurde, und die darauf fußenden Mutmaßungen der Experten und Öffentlichkeit über einen wirren, verrannten Kopf mögen auf den ersten Blick auf beiden Seiten (Sicht des Täters und der Gesellschaft) als Erklärung dienen, berühren de facto allein die Symptome der ursächlich sich dahinter befindlichen psychischen Verfassung, die im höchsten Maße defizitär ist.
Wie schon mehrfach ausgeführt, basiert die An- und Hinwendung von bzw. zu großer Gewalt und ebenso das Operieren mit einer Melange aus Vorurteilen, Feindbildern und Zuweisung von Verantwortung und Schuld (Stichwort: Projektion) immer auf einer psychischen Schwäche. Diese ist bei einem wesentlichen Umfang grundsätzlich in der Kindheit entstanden und drängt generell nach einer dem gravierenden Ausmaß der psychischen Schädigung angemessenen (und somit sehr starken) Kompensation.
Die Verteidigung der Tat und die oftmals nicht existente Einsicht nach der Tat und einer anschließenden Verurteilung (stures Beharren auf der Rechtfertigung, keinerlei persönliches Schuldbewusstsein) sind auf die identitätsgemäße Situation des Täters zurückzuführen, die selbst nach der Tat nicht an Stärke und Stabilität gewonnen hat, weil die über die Tat erhaltene Befriedigung sofort wieder verpufft ist. Der Täter schützt deshalb weiter unbewusst sein labiles Pseudogleichgewicht, indem er sein Handeln – selbstverständlich unter Einsatz massiver Verdrängung – nicht hinterfragt und demnach als falsch beurteilt.
Ein Einsehen, Bedauern und Mitgefühl für die Opfer ist ausnahmslos dann machbar, sofern sich die Ratio in gewissem Umfang von der Instrumentalisierung durch die Psyche entkoppeln kann. Dies ist wiederum nur der Fall, falls sich dem Täter alternative, in der Regel betreffend ihrer Wirkung stärkere identitätsfördernde Faktoren und Perspektiven erschließen. Als Beispiele zu nennen wären die Hinwendung zum religiösen Glauben oder neue soziale Kontakte im und außerhalb des Gefängnisses.
Weiter im Ablauf: Bei der Tatausführung kommt es zu einer heftigen, vom Bewusstsein nicht mehr zu kontrollierenden und zu verhindernden energetischen Spannungsentladung, die über das Aggressionsverhalten Entspannung, Entlastung und Erleichterung ergeben (sollen).
Die energetische Entladung beruht auf einem Energiestau, der sich über einem langen Zeitraum fortwährender Frustrationen aufgebaut hat. Gespeist wird die große Energiemenge von unterdrückter, zurückgehaltener und sich langsam angesammelter Energie in dem Bereich der Herabsetzung und Demütigung (langsame Ansammlung, da prinzipiell nicht so viel Energie angesichts der psychischen Lage präsent ist). Aufgrund des Ur-Defizits und der nachfolgenden, negativen Erlebnisse konnte jene Energie nicht bestimmungsgerecht eingesetzt und dabei entladen werden und hat sich insofern in einen destruktiven Charakter transformiert.
Umwandlung in einen destruktiven Charakter bedeutet, dass laut menschlichen Bauplan Energie generell zuerst in die entsprechenden Entwicklungsschritte mit den jeweiligen Bedürfniserfüllungen fließt, um diese erfolgreich, also wie vorgesehen, abschließen zu können und Selbstwertsubstanz zu bilden.
Falls dies wegen psychischer Frustrationen oder Traumata nicht realisierbar ist, dann wird diese Energie, dem metaphysischen Prinzip des Ausgleichs folgend, in Kompensationen geleitet, die so gut als möglich versuchen, den Befriedigungswert des ursprünglichen Bedürfnisses zu ersetzen. Sobald jedoch die Schädigung elementare Natur einnimmt, müssen die Kompensationshandlungen angemessen stark, intensiv und häufig sein, um den benötigten Befriedigungseffekt zu erreichen.
Der Betroffene muss schließlich die für ihn umsetzbaren Chancen ergreifen und ist hierbei sowohl abhängig wie geprägt von seinem Umfeld, seiner psychischen Struktur, seinen körperlichen und intellektuellen Voraussetzungen. Salopp gesagt kann er es sich nicht leisten, wählerisch zu sein.
Konkret heißt dies, dass dieser Mensch bewusst und unbewusst probiert, die kraft der Nichterfüllung der Grundbedürfnisse entstandenen Zustände und einhergehenden Gefühle umzukehren, demnach aus Ohnmacht Macht, aus Geringschätzung Akzeptanz, aus Schwäche Stärke, aus Missachtung Aufmerksamkeit und Anerkennung, etc. zu machen. Diese Umwandlung vollzieht sich je nach individueller Konstellation und darum können die noch bestehenden Energien in gewalttätige und zerstörerische Handlungen fließen (destruktiver Charakter), allerdings sich auch vollkommen andersartig ausdrücken und gestalten.
Ein Beispiel: Ein Kind, das von Beginn an physischer Gewalt ausgesetzt ist, wird aus diesem „Lern- und Gewohnheitshintergrund“ (Stichwort: Sozialisation) seine Kompensation in Gestalt von Stärke eher in Gewaltausübung dokumentieren als ein Kind, welches in anderer, mitunter subtilerer Form (psychische Gewalt) entwertet oder gedemütigt wurde. Ein vernachlässigtes Kind sucht dann die nicht erhaltene Anerkennung, Bestätigung und Aufmerksamkeit vielleicht auf sportlichem, beruflichem oder kulturellem Gebiet mittels besonderer Leistungsbereitschaft, überdurchschnittlichen Ehrgeiz und hoher Zielstrebigkeit zu verwirklichen. In diesem Fall ist die Energie zwar trotzdem in einer Ausgleichs- respektive Ersatzhandlung aktiv, dabei nicht in einer, vor allem die Umwelt betreffenden, gewalttätigen Ausprägung.
Zusätzlich wird von Ersatzhandlungen und Verdrängungen gebundene Energie, die bisher die Aufgabe hatte, das fragile, nach außen hin fassadäre Pseudogleichgewicht aufrechtzuerhalten und damit die Funktionstüchtigkeit der Person zu gewährleisten, frei und zur destruktiven Energie umgeleitet bzw. hinzuaddiert. In Anbetracht der bevorstehenden Tat ist diese Energie für ihre bis zu diesem Zeitpunkt zugedachte Rolle nicht mehr erforderlich. Demzufolge steht noch mehr Energie für die Tat zur Verfügung, auch um die schon erwähnte Hemmschwelle überschreiten zu können.
Obwohl der Amoklauf offensichtlich eine nach außen ausgeführte, auf andere Menschen abzielende Aggression ist, handelt es sich aber tat- bzw. ursächlich um eine gegen die eigene Existenz gerichtete aggressive Tat, die das restliche Pseudogleichgewicht zum endgültigen Zusammenbruch bringt bzw. bringen soll. In der Konsequenz wird auf diese Weise das persönliche Leben zerstört und der eigene Tod entweder fest einplant oder zumindest billigend in Kauf genommen. Die psychische Belastung ist so immens, dass der Attentäter sich von ihr um jeden Preis befreien muss. Die Tat stellt einen Endpunkt dar, weil keine für den Täter erkennbare Aussicht und Hoffnung auf Besserung seiner Situation in der Zukunft gegeben ist.
Parallelen zum Vorlauf und den identitätsgemäßen Hintergründen eines Selbstmordes drängen sich auf, zumal ein Suizid ebenfalls ein Akt der Autoaggression und gleichsam der Kapitulation ist. Der Unterschied liegt im Ablauf, da bei der Selbsttötung die Aggression sich normalerweise, wenn für den Selbstmord nicht noch weitere Menschen involviert werden, wie z. B. bei einer Geisterfahrt, ausschließlich gegen das eigene Selbst (die gescheiterte Person ist – unbewusst - das eigene Feindbild) richtet und keine Feindbild-Projektion, wie beim Amoklauf stattfindet.
Beim Amoklauf müssen in der Regel entweder Bezugs-, bekannte oder anonyme Personen von Institutionen, die im Zusammenhang mit den Symptomen (Demütigung, Erfolglosigkeit, Nicht-Akzeptanz beispielsweise in der Schule, Arbeit, etc.) des identitätsgemäßen Defizits stehen und vordergründig eine stellvertretende Feindbildfunktion innehaben, die Verantwortung für die Dasein zerstörende psychische Konstitution des Betroffenen tragen. Dies ist der Fall, weil bei diesem nicht die Voraussetzungen (energetischer und intellektueller/einsichtsgemäßer Natur) vorhanden sind, um die wahren und originären Gründe für die identitätsgemäße Problematik zu erkennen, begründet durch eine starke Abwehrhaltung und Verdrängung.
Diese beim Amoklauf gegenüber dem Selbstmord differente Feindbildprojektion nach außen und der daraufhin konträre Verlauf haben sicherlich mit den entsprechenden Lebensumständen zu tun, bei denen die Allgegenwärtigkeit und die Affinität zu Gewalt (medialer Gewaltkonsum und Gewaltverherrlichung) und zu Waffen (leichter Waffenzugang und Übung des Umgangs) ein bedeutendes Gewicht spielen. Zudem ist oftmals eine neurologisch bedingte, erhöhte und nicht-kontrollierbare Impulsivität existent, die entweder genetische Ursachen hat oder sich in der Kindheit wegen der erlittenen Frustrationen manifestierte.
Gerade die Konfrontation mit Gewalt hat dem Betroffenen bisher als Kompensation und Ersatzbefriedigung gedient, indem zum Beispiel während eines Computerspiels das psychische Defizit dank dem Gefühl der Macht überlagert wurde, wobei diese Befriedigung aus den schon vielfach genannten Anlässen auf Dauer nicht ausreicht.
Der Betroffene kanalisiert seine Aggressionen nach außen auf die erst fiktive und dann praktische Gewaltanwendung.
Noch eine Bemerkung zum Thema Selbstmord: Aus identitätsgemäßer Sicht ist das gerne verwendete Synonym „Freitod“ falsch und irreführend, da es sich bei einem Selbstmord – die Fälle unheilbarer Krankheit ausgenommen – niemals, hinter- und tiefgründig, um einen frei gesteuerten Akt handelt, sondern immer um einen unterschwellig determinierten.
Sehr verkürzt: Der Selbstmörder wurde ob seiner erlittenen Erfahrungen des Lebenswillens beraubt und sieht für sich keine andere Möglichkeit, seinem psychischen Druck und Leid durch die Beendigung seines Lebens zu entkommen. Der freie Wille zum Selbstmord besteht demnach tatsächlich nicht, weil der Selbstmörder buchstäblich zum Suizid gedrängt wird.