Читать книгу Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 5) - K. Ostler - Страница 4
01-Entlarvung der Lebenswirklichkeit
ОглавлениеVorweg muss geklärt werden, was hier unter Lebenswirklichkeit explizit zu verstehen ist, da jeder Mensch eine individuelle Empfindung seiner Realität hat und daher eine Pauschalisierung – zumindest auf den ersten Blick – sich schwierig darstellt.
Thematisiert werden soll ein sehr bedeutender Aspekt der Lebenswirklichkeit, der sie respektive ihre Wahrnehmung großteils beeinflusst und bestimmt, nämlich die heute dominierende Vorstellung von den ursprünglichen menschlichen Bedürfnissen, Notwendigkeiten, Werten und Wichtigkeiten und den demgemäß verknüpften gesellschaftlichen, oft erzieherischen Vorgaben, Normen, Erwartungshaltungen, Konventionen und Verhaltensformen. Diese allgemeinere, gesellschaftliche Lebenswirklichkeit prägt die persönliche Befindlichkeit eines Menschen im hohen Maße (siehe dazu Identitätsproblematik Nr. 2 und Nr. 3) und kann als tatsächliche, real gelebte Lebenswirklichkeit bezeichnet werden.
Beide Bereiche stehen miteinander in einer Wechselwirkung, weil sich die Auffassung von den menschlichen Erfordernissen wie die entsprechenden gesellschaftlichen Zustände – wobei das Gesellschaftliche auch den sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext beinhaltet – gegenseitig aufeinander einwirken und zudem bedingen.
Diese abstrakt anmutenden Formulierungen können anhand der Entwicklung eines Kindes verständlicher gemacht werden: Ein Kind wird von Geburt an mit gesellschaftlichen Eckpfeilern und Koordinaten in Form von Verhaltensrichtlinien, Moralvorstellungen, Gesetzen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leitbildern und -linien konfrontiert, ist diesen permanent ausgesetzt und sieht diese dadurch als nicht zu hinterfragende Normalität (Lebenswirklichkeit) an.
Das Bestreben des Kindes, Jugendlichen und in der Folge Erwachsenen – unwillkürlich hervorgerufen und gelenkt kraft der familiären und umweltgemäßen (Freunde, Kindergarten, Schule/Lehrer, Medien, etc.) Impulse und Vorbildfunktionen - liegt in der möglichst deckungsgleichen Adaption und dem Einstellen des eigenen Verhaltens wie der Handlungsweisen auf diese familiär und gesellschaftlich kommunizierten Vorgaben und Erwartungshaltungen.
Zustände, Strukturen, Abläufe, Ordnungssysteme und Begebenheiten, wie beispielsweise Konsumverhalten, Erziehungspraktiken, sehr frühe Leistungs- und Erfolgsorientierung, wettbewerbsgemäße Lebensprägung, Art und Weise der Lern- und Wissensvermittlung, einseitige Spezialisierung auf Arbeitsgebiete, medial transportierte Verdummung und Brutalität, werbegemäße Dauerberieselung und marketinggerechte und –gesteuerte Ausrichtung zahlreicher Lebensbereiche werden als „gegeben“, angemessen und sinnvoll akzeptiert und als Normalität empfunden.
Aktuell heißt dies im Besonderen, dass, was materiell erfolgreich ist und außerdem noch Wachstum verspricht, pauschal richtig ist und somit in vielerlei Weise einen Freibrief erhält. Die oftmals einhergehenden negativen Konsequenzen werden ausgeblendet oder kleingeredet.
Das Augenmerk bzw. der Maßstab des eigenen Handelns ist auf die Beachtung und Erfüllung der vorhandenen Grundsätze und Spielregeln ausgerichtet (Stichwort: Funktionalität des Menschen, gebührende Anpassung), auch wenn sich diese häufig im krassen Widerspruch zu den kindlichen und damit menschlichen Elementarbedürfnissen befinden.
Diese für weltweit alle Menschen gleiche Grundbedürfnisse lassen sich aus dem wesensgemäßen Baukasten, der latent wirkenden Urangst und dem sich daraus strukturierten psychischen Apparat ableiten respektive haben sich dank dieser Faktoren entwickelt. Aufgrund seiner herausragenden Relevanz ist ausdrücklich hervorzuheben, dass die psychischen Grundbedürfnisse mit ihrem implizierten Realisierungstrieb vollkommen unabhängig von den Lebensumständen und –einstellungen präsent sind und infolgedessen ihren Einfluss entfalten.
Die aus den wesensbedingten Vorgaben entstandenen Elementarbedürfnisse können als für jedes Individuum zutreffende, ursächliche und eigentliche Lebenswirklichkeit benannt werden.
Wegen der Diskrepanz zwischen der ursächlichen, den Grundverlangen gebührenden Lebenswirklichkeit und der tatsächlichen, in vielen Bereichen die Grundbedürfnisse negierenden oder diese sogar zuwiderhandelnden Lebenswirklichkeit, mündet die Erziehung und die weitere Entwicklung des Menschen im Ergebnis zwangsläufig in einer – normalerweise unbewussten – mehr oder minder großen Selbstverleugnung. Das Ausmaß dieser Selbstverleugnung wird vom Ausmaß der Diskrepanz bestimmt.
Hier muss betont werden, dass eine Gesellschaft auf jeden Fall angemessene Ordnungs-, Organisations- und strukturelle Systeme und Leitlinien benötigt, um nicht im Chaos zu versinken und zu enden. Diese dürfen jedoch auf der anderen Seite nicht der Natur des Menschen zuwiderlaufen, da sonst unweigerlich die Selbstverleugnung zu gravierenden Fehlentwicklungen, Problemfeldern und (psychischen) Störungen führt.