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4. Gerichtliche ex post-Kontrolle

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Die neue Verfassung hat keinerlei formelle Veränderungen hinsichtlich der ex ante-Kontrolle mit sich gebracht, in welcher der Grundgesetzausschuss eine entscheidende Rolle spielt. Die große Neuerung betraf die Einführung einer konkreten ex post-Kontrolle der Parlamentsgesetze. Wie ich oben dargelegt habe, erlaubte die „Regierungsform“ von 1919 die gerichtliche ex post-Kontrolle von Erlassen und anderen Verordnungen, aber, zumindest nach der vorherrschenden Interpretation, nicht von Parlamentsgesetzen. Nun bestimmt Art. 106 der neuen Verfassung: „Stünde in einer durch Gericht zu verhandelnden Sache die Anwendung einer Gesetzesvorschrift im offensichtlichen Widerspruch zum Grundgesetz, hat das Gericht der Vorschrift des Grundgesetzes Vorrang einzuräumen.“

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Trotz der grundlegenden Bedeutsamkeit von Art. 106 wäre es zu voreilig, daraus zu schließen, dass die Bestimmung einen radikalen Bruch in der finnischen Verfassungsrechtstradition darstellt, nämlich einen entscheidenden Übergang von der ex ante-Kontrolle des Grundgesetzausschusses zu einer gerichtlichen ex post-Kontrolle. Die travaux préparatoires betonten den Vorrang der ex ante-Kontrolle auch unter der neuen Verfassung und diese Vorrangstellung scheint durch die Gerichte auch akzeptiert worden zu sein. Dementsprechend hat der Oberste Gerichtshof in seiner einzigen Entscheidung, bei der er sich auf Art. 106 beruft, festgestellt, dass „die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen hauptsächlich (…) dem Grundgesetzausschuss [zufällt], der im Gesetzgebungsprozess (…) die ex ante-Überwachung [ausübt]“.[38] In der Praxis kann es gut sein, dass die große Veränderung, die durch die Möglichkeit einer konkreten ex post-Kontrolle eingeleitet wurde, eine gründlichere ex ante-Überwachung mit sich bringt. In der Tat hat sich die Arbeitslast des Grundgesetzausschusses, gemessen an der Anzahl seiner Berichte, nach der Grundrechtsreform von 1995 und dem Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahr 2000 erhöht.

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In den travaux préparatoires der neuen Verfassung verankerte man den fortdauernden Vorrang der ex ante-Kontrolle in dem Erfordernis eines offensichtlichen Konflikts, das durch Art. 106 eingeführt (und dabei von der schwedischen Verfassung [Regeringsformen] von 1974 entliehen) wurde. Falls der Grundgesetzausschuss in seiner ex ante-Kontrolle ausdrücklich feststellt, dass ein kontroverses Gesetz nicht im Widerspruch zur Verfassung steht, ist kaum vorstellbar, dass ein Gericht einen offensichtlichen Konflikt mit einer Verfassungsbestimmung findet. Allerdings deuten die travaux préparatoires auf zwei Gelegenheiten, bei denen ein Gericht in gerechtfertigter Weise vom Standpunkt des Grundgesetzausschusses abweichen könnte. Erstens ist es möglich, dass die Verfassungsfrage, die im Zusammenhang mit einem bestimmten Fall zutage getreten ist, im Zuge der ex ante-Kontrolle völlig unbeachtet geblieben ist, so dass der Ausschuss sich dazu nicht geäußert hat. Zweitens können auch Änderungen in der Verfassungslehre ein Abweichen vom Standpunkt des Ausschusses rechtfertigen, insbesondere wenn seit der Behandlung der Angelegenheit vor dem Ausschuss eine beachtliche Zeit verstrichen ist.

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Im Allgemeinen kann man das Erfordernis eines offensichtlichen Konflikts auf zwei alternative Arten interpretieren: epistemologisch und quantitativ. Im epistemologischen Sinne bedeutet „offensichtlich“ ein Synonym für „klar“ oder „unbestreitbar“, im quantitativen Sinne „schwerwiegend“ oder „ernsthaft“. Als der Vorrang der ex ante-Kontrolle durch den Grundgesetzausschuss mit diesem Attribut verbunden wurde, wendeten die travaux préparatoires ihn im epistemologischen Sinne an. Die travaux préparatoires betonten auch, dass Art. 106 es wegen des Erfordernisses eines offensichtlichen Konflikts nicht erlaube, ein Gesetz bei weniger gravierenden Zweifeln auszusetzen. Aber selbst die quantitative Interpretation oder eine Kombination des epistemologischen Verständnisses mit dem quantitativen Verständnis kann man verteidigen. Gemäß der letzteren Auslegung wären die Gerichte nur dann berechtigt, eine Bestimmung eines Parlamentsgesetzes auszusetzen, wenn seine Anwendung zu einer klaren und schweren Verletzung eines Verfassungsgrundrechts oder einer anderen Verfassungsbestimmung führen würde.

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Wie ich unten darlegen werde, kann man die Voraussetzung eines offensichtlichen Konfliktes als Positivierung einer generellen Politik der justiziellen Selbstbeschränkung in verfassungsrechtlichen Fragen oder als ein ultima ratio-Verständnis der gerichtlichen Verfassungskontrolle verstehen. Wie ausdrücklich in den travaux préparatoires betont wurde, bleibt das vorwiegende Mittel der Gerichte, um zur Implementierung der Verfassung beizutragen, deren Pflicht, Gesetze im Einklang mit Verfassungsbestimmungen auszulegen. Dementsprechend sollten Konflikte mit der Verfassung durch „verfassungsfreundliche“ Auslegung der Parlamentsgesetze vermieden werden; nur wenn dies sich als nicht möglich herausstellt, kann auf Art. 106 zurückgegriffen werden.[39]

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Die beschränkte Natur der gerichtlichen Verfassungskontrolle wird auch durch die Tatsache unterstützt, dass die Gerichte nur mit der Macht ausgestattet sind, einen Teil der Gesetzgebung in dem betroffenen Fall auszusetzen, nicht ihn für unwirksam zu erklären. Die Macht der Gerichte erstreckt sich nicht auf eine abstrakte Beurteilung des Verhältnisses einer Gesetzesbestimmung zur Verfassung; Gerichte können nur das Ergebnis der Anwendung der umstrittenen Bestimmung auf den zu entscheidenden Fall bewerten. Demgemäß hat eine Entscheidung nach Art. 106 keine direkte Rechtswirkung außerhalb des Falles. Aber die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes und des Obersten Verwaltungsgerichtshofes haben natürlich ihre übliche Wirkung als Präzedenzfälle. Außerdem können Regierung und Parlament auf solche Präzedenzfälle reagieren, in dem sie eine Gesetzesänderung einleiten, aber dazu besteht keinerlei rechtliche Verpflichtung.

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In Bezug auf die institutionellen Möglichkeiten für eine Verfassungsrechtsprechung hat die Verfassung von 2000 das skandinavische (und US-rechtliche) dezentrale Modell angenommen: Das Recht (und die Pflicht) der Verfassungskontrolle fällt allen Gerichten zu. Das konzentrierte Modell, das sich auf ein Verfassungsgericht stützt, hatte in den Besprechungen vor der Verabschiedung der Verfassung praktisch keine Unterstützung erhalten. In den öffentlichen Diskussionen taucht diese Alternative ab und zu auf, gewöhnlich als Reaktion auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes oder des Obersten Verwaltungsgerichtshofes oder auf einen umstrittenen Standpunkt, den der Grundgesetzausschuss in einer politisch sensiblen Gesetzesangelegenheit eingenommen hat. Allerdings hat sich beispielsweise keine große Partei für die Errichtung eines Verfassungsgerichts ausgesprochen und die Frage wurde nicht einmal im neuesten Bericht eines Komitees für Verfassungsreformen angesprochen.[40]

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Art. 106 betrifft lediglich Konflikte zwischen Gesetzesbestimmungen und der Verfassung. Bezüglich der Normen auf niedrigerer Ebene hatte die Verfassung von 1919 bereits sowohl Gerichte als auch Verwaltungsbehörden verpflichtet, Verordnungen nicht anzuwenden, die entweder im Widerspruch zur Verfassung oder zu einem Parlamentsgesetz standen. Eine entsprechende Verpflichtung ist in Art. 107 der derzeitigen Verfassung niedergelegt:“Steht die Vorschrift einer Verordnung oder einer anderen Bestimmung unterhalb des Gesetzesranges im Widerspruch zum Grundgesetz oder einem anderen Gesetz, darf sie von dem Gericht oder einer anderen Behörde nicht angewandt werden.

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Während der Geltung der Verfassung von 1919 wurde die Macht einer gerichtlichen Kontrolle untergesetzlicher Rechtsnormen nur sehr selten ausgeübt. Jedoch finden sich in der Rechtsprechung des Obersten Verwaltungsgerichtshofes einige Entscheidungen, die kommunale Vorschriften auf der Grundlage einer Verletzung von politischen Grundrechten für verfassungswidrig erklärten. Diese Entscheidungen stammen aus den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts und bezeugen ein gesteigertes Bewusstsein für die Bedeutung der Grundrechte. Während dieser Jahrzehnte begannen auch der Ombudsmann und der Justizkanzler, sich viel häufiger als früher auf Grundrechtsbestimmungen zu beziehen.[41]

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In den ersten zehn Jahren wendeten sowohl der Oberste Gerichtshof als auch der Oberste Verwaltungsgerichtshof Art. 106 in je einem Fall an. Außerdem wurde der Artikel in einer Entscheidung eines Bezirksverwaltungsgerichts und in einer Entscheidung des Versicherungsgerichtshofes herangezogen. Drei der vier Fälle betrafen Grundrechtsangelegenheiten. Dies bekräftigt die in den travaux préparatoires der Verfassung dargelegte Einschätzung, dass Art. 106 vor allem im Bereich der Grundrechte von Bedeutung sein wird.[42] Der Fall vor dem Obersten Gerichtshof[43] betraf das Verhältnis des Erhalts von Gebäuden zum Recht auf Eigentum. Der Oberste Gerichtshof entschied unter Bezugnahme auf Art. 106, dass der Eigentümer eines Gebäudes ein Anrecht auf eine Entschädigung für wirtschaftliche Verluste durch eine einstweilige Anordnung zur Bestandserhaltung hat, obwohl das betreffende Gesetz eine Entschädigung nur auf Grundlage der endgültigen Erhaltungsentscheidung zubilligte. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof wiederum gab einer Beamtin das Recht auf Anfechtung einer Entscheidung, die sie einer anderen Verwaltungseinheit zugeteilt hatte, vor einem Verwaltungsgericht trotz der ausdrücklichen Untersagung im Gesetz über Beamte, Entscheidungen nach diesem Gesetz anzufechten. Das Gericht argumentierte, dass die Anwendung des Verbots zu einem offensichtlichen Konflikt mit Art. 21 der Verfassung bezüglich eines fairen Verfahrens geführt hätte.[44] Der Versicherungsgerichtshof (Vakuutusoikeus [VakO]) bezog sich auf die gleiche Verfassungsbestimmung, als er eine Gesetzesbestimmung aussetzte, die verbot, Entscheidungen bezüglich beruflicher Wiedereingliederung anzufechten.[45] Der einzige Fall, in dem Grundrechte keine Rolle spielten, betraf eine steuerrechtliche Bestimmung, die – gemäß dem Bezirksverwaltungsgericht Helsinki – nicht dem verfassungsrechtlichen Erfordernis der Bestimmtheit genügte. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof nahm einen anderen Standpunkt in der Sache ein und verwarf die Entscheidung des Bezirksverwaltungsgerichts.[46]

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Die vier Fälle, auf die Bezug genommen wurde, zeigen, dass Art. 106 nicht ohne Bedeutung geblieben ist. Vier Fälle in zehn Jahren, und nur je einer vor den beiden obersten Gerichten, mag wenig erscheinen. Allerdings sollte, wie ich unten darlegen werde, die gerichtliche ex post-Kontrolle nur als ultima ratio dienen. Und wenn man Vergleiche mit anderen nordischen Staaten anstellt, in denen Gerichte bereits seit Jahrzehnten mit der Macht ausgestattet waren, konkrete ex post-Verfassungskontrolle auszuüben, so ist diese Anzahl recht hoch. In Dänemark beispielsweise stammt die erste Entscheidung, in welcher der Oberste Gerichtshof eine Gesetzesbestimmung auf verfassungsrechtlicher Grundlage aussetzte, aus dem Jahr 1999, obwohl die Verfassungslehre eine solche Möglichkeit seit den Zwischenkriegsjahren zugelassen hatte.[47]

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Besondere verfahrensrechtliche Anordnungen für Fälle, in denen die Frage der Verfassungsmäßigkeit aufgeworfen wird, bestehen weder für den Obersten Gerichtshof noch für den Obersten Verwaltungsgerichtshof oder andere Gerichte. Es gibt keine Verfassungsbeschwerde oder ein Verfahren der Verweisung; die Verhandlung und die Entscheidung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit sind Teil der regulären gerichtlichen Verfahren. Falls ein Gericht niedrigerer Instanz sich zu der Frage geäußert hat, kann dieser Aspekt der Entscheidung ebenfalls angefochten werden, aber es gibt auch kein gesondertes verfassungsrechtliches Berufungsverfahren. Die Frage kann durch eine Partei aufgeworfen werden, doch Art. 106 (und Art. 107) verpflichtet die Gerichte, die Verfassungsmäßigkeit auch auf eigene Initiative hin zu beachten, wenn sie das Recht auf die anstehenden Fälle anwenden.

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Obwohl Art. 106 alle Gerichte ermächtigt und verpflichtet, ist es wahrscheinlich, dass die Hauptlast der gerichtlichen Verfassungskontrolle dem Obersten Gerichtshof und dem Obersten Verwaltungsgerichtshof zufallen wird. Der Präsident und die Mitglieder dieser Gerichte werden durch den Staatspräsidenten auf Vorschlag der Vollversammlung des jeweiligen Gerichts ernannt. Die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes berücksichtigt nicht nur Berufsrichter; man hat die Auswahl auch auf Rechtsanwälte, Wissenschaftler und Beamte (law drafters) ausgedehnt. Die drei Hauptgruppen, aus denen die Mitglieder des Obersten Verwaltungsgerichtshofes ausgewählt werden, sind Gerichtsbedienstete und Richter der niedrigeren Gerichtsbarkeit, Beamte und Akademiker.

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › III. Aspekte der Evaluierung

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