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3. Die Rolle der deutschen Lehre

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Die Folgen der Verfassungskontrolle für die Vergerichtlichung der Politik zeigen sich auch in den verfassungsrechtlichen Lehren und anderen Elementen der Verfassungskultur. Oft genug werden diese Elemente anhand der Alternativen des richterlichen Aktivismus und der richterlichen Selbstbeschränkung besprochen. Wie die Erfahrung der Vereinigten Staaten zeigt, können sich Phasen der Selbstbeschränkung und des Aktivismus abwechseln: Dies stimmt u.a. überein mit der Resonanz, die Gegner der Verfassungskontrolle in der rechtlichen und politischen Kultur finden. Viel mag auch von kulturellen und soziologischen Vorbedingungen eines demokratischen Rechtsstaats abhängen, wie die aktivistischen Verfassungsgerichte in Zentral- und Osteuropa zeigen. Der Aktivismus des EuGH – des „Verfassungsgerichts“ der EU – für seinen Teil war eindeutig mit den Schwierigkeiten bei der transnationalen politischen Entscheidungsfindung und den besonderen Erfordernissen, eine völlig neue Rechtsordnung zu schaffen, verknüpft.[64]

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Auch der in der Verfassungsrechtsprechung vorhandene dogmatische Apparat beeinflusst den Grad der richterlichen Selbstbeschränkung bzw. des richterlichen Aktivismus. Selbst ausdrückliche Verfassungsbestimmungen können eine Rolle spielen, wie etwa das Erfordernis eines offensichtlichen Konflikts, das sowohl in der finnischen – wie auch in der schwedischen – Verfassung ausdrücklich genannt wird: Dieses Erfordernis hat das Anliegen von richterlicher Selbstbeschränkung positiviert. Es gibt auch speziellere Lehren, welche die Verfassungsrechtsprechung auffordern, gegenüber den politischen Bereichen des Staates institutionelle Zurückhaltung zu zeigen, wie etwa die political question-Doktrin der Vereinigten Staaten, die beispielsweise die Entscheidungsfindung bezüglich der Außenpolitik großenteils von gerichtlicher Einmischung abgeschirmt hat, oder die margin-of-appreciation-Doktrin (Lehre vom Beurteilungsspielraum), die als Instrument dient, damit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bewertung der Umstände durch nationale Staatsbehörden, welche Beschränkungen der Konventionsrechte rechtfertigen, nicht anzweifelt. Aber natürlich gibt es auch Lehren, die richterlichen Aktivismus rechtfertigen und die deshalb kritisiert wurden. In der deutschen Kritik des verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates wurde vielfach der Lehre von den Grundrechtsnormen als Rechtsprinzipien mit weitem Anwendungsbereich, der Lehre von der Drittwirkung von Grundrechten und der Lehre von der Schutzpflicht des Staates die Schuld gegeben. Diese Lehren haben eine klare Wirkung auf die travaux préparatoires der finnischen Grundrechtsreform von 1995 hinterlassen und die Verfassung hat sogar die Schutzpflicht in einer ausdrücklichen Norm geregelt (Art. 22). Aber wie ich im Folgenden argumentieren werde, bremst das Erfordernis des offensichtlichen Konflikts die Vergerichtlichung, die diese Lehren vielleicht sonst bewirken würden.

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