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2. Zeichen der Vergerichtlichung

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Wohl ist das finnische Modell nicht so anfällig für das Demokratieargument wie Modelle der gerichtlichen Kontrolle ohne modifizierende parlamentarische Elemente. Im Hinblick auf den anderen wesentlichen Kritikpunkt finden sich aber auch im finnischen Modell, das die Rolle der abstrakten ex ante-Kontrolle betont, Zeichen einer Vergerichtlichung der Politik. Immerhin repräsentiert der Grundgesetzausschuss ein quasi-gerichtliches Element innerhalb der Legislative und seine gesteigerte Bedeutung kann zu einer gewissen Vergerichtlichung der gesetzgebenden Politik führen. Falls der Ausschuss das Oberhaupt des Reiches des Verfassungsrechts in Finnland ist, stellen nicht die parlamentarischen Mitglieder des Ausschusses die Prinzen dar, sondern eher die Experten, die der Ausschuss hinzuzieht: vorwiegend Juraprofessoren. Präzedenzfälle und Lehre spielen eine wichtige Rolle in der Praxis des Ausschusses, wie auch in der gerichtlichen Verfassungskontrolle in anderen Systemen, obwohl diese nicht Erkenntnisse von Richtern, sondern von Verfassungsrechtlern sind. Dennoch würde ich wagen zu behaupten, dass ausdrückliche Entwicklungen in der Dogmatik, die soziale und kulturelle Entwicklungen widerspiegeln, leichter in einem System zu erreichen sind, in dem eine parlamentarische Körperschaft die letzte formale Entscheidung trifft.

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In den Regierungsvorschlägen, die dem Parlament in Finnland unterbreitet werden, nehmen die Bezüge auf verfassungsrechtliche Grundrechtsbestimmungen zu. Dies spiegelt das erhöhte Bewusstsein für Grundrechte in der rechtlichen und politischen Kultur wider und kann, dementsprechend, grundsätzlich als positives Phänomen angesehen werden. Trotzdem sollte man sich auch der Gefahren bewusst sein, die in dieser Entwicklung angelegt sind: nämlich die Vergerichtlichung und die ungerechtfertigten Beschränkungen der Möglichkeiten der demokratischen Legislative.

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Die Verfassungskontrolle in Ländern wie Finnland schließt alle großen rechtlichen Akteure des modernen Rechts mit ein: nicht nur die Legislative und die Gerichte, sondern auch die Wissenschaftler. In Übereinstimmung mit ihrer Rolle in anderen Rechtsbereichen tragen Wissenschaftler zur Artikulierung und Ausgestaltung der Verfassungslehre durch ihre Konzepte, Prinzipien und Theorien bei. Und wie auch in anderen Rechtsbereichen erfüllt die Lehre eine wichtige Aufgabe bei der Sicherung der Konsistenz der Verfassungsrechtsanwendung und bei der Förderung der normativen Kohärenz. In Finnland hat sich der wissenschaftliche Diskurs, dank des Bruches in der Verfassungskultur in den letzten Jahrzehnten, im Verfassungsrecht verstärkt und neue Beteiligte aufgenommen. Die finnische Staatsrechtslehre war seit jeher international ausgerichtet, wobei insbesondere die deutsche Lehre traditionell großen Einfluss hatte. Ein auffallendes Merkmal in der neueren Verfassungslehre war die Erweiterung internationaler Inspirationsquellen. Die deutsche Lehre ist zwar immer noch wichtig, aber der Prozess der Europäisierung hat Verfassungsrechtler dazu verleitet, sich auch anderswo in Europa umzuschauen. Zusätzlich nehmen auch die Kenntnisse des US-Rechts zu, insbesondere in der jüngeren Generation der Verfassungsrechtler.

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Das Verfassungsrecht sollte, wie durch die Kritik an der Verfassungskontrolle in Erinnerung gebracht, besonders auf die Gefahren einer exzessiven Abhängigkeit von der Lehre achten. Die Lehre sollte nicht versteinern, sondern sollte für eine ständige (Wieder)bewertung in einem fortwährenden Verfassungsdiskurs offen sein und dabei soziale, kulturelle und politische Veränderungen gebührend beachten: Weder die verfassungsrechtlichen Probleme noch die verfassungsrechtlichen Lösungen einer spätmodernen Post-Wohlfahrtsstaatsgesellschaft ähneln denen einer vergangenen Ära. Insbesondere in einem System wie dem finnischen, in dem die Akademiker sehr wichtige Akteure in der Verfassungskontrolle sind, trägt die Wissenschaft eine zentrale Verantwortung dafür, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Stabilität und Erneuerung in der Verfassungslehre zu pflegen. Sie sollte auch die Gefahren einer Vergerichtlichung im Auge behalten: Dogmatische Konzepte und Theorien werden benötigt, aber sie sollten den verfassungsrechtlichen Diskurs nicht für die Akteure der Zivilgesellschaft unzugänglich machen. Eine demokratische Prüfung der Verfassungskontrolle durch öffentliche Debatten hat hohe Priorität, wenn man die Vergerichtlichung vermeiden und die Spannung zwischen Verfassungskontrolle und Demokratie bewältigen will. In dieser Hinsicht bleibt in Finnland viel zu tun: Verfassungsangelegenheiten, die vor dem Grundgesetzausschuss anhängig sind oder schon entschieden wurden, werden nicht sonderlich oft in den Medien erörtert. Ein Grund dafür ist, dass Wissenschaftler, die vom Ausschuss hinzugezogen wurden, sich im Allgemeinen verpflichtet zu fühlen scheinen, die Sache in der Öffentlichkeit nicht zu kommentieren.

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In kritischen Untersuchungen der Vergerichtlichung wird die Rechtswissenschaft oft als Verbündete der Judikative abgestempelt, die der Letzteren hilft, ihre Macht auf Kosten der Legislative auszudehnen[63] und auch ihre eigenen strategischen Interessen auf dem Gebiet des Rechts zu verfolgen. Jedoch ist es leicht, Gegenbeispiele zu finden, die beweisen, dass eine solche Symbiose zwischen oder Zusammenarbeit von Rechtswissenschaft und Judikative ein zufälliges Phänomen ist und dass Erstere auch einen kritischen Standpunkt gegenüber Letzterer einnehmen kann. In Finnland gibt es keine Anzeichen einer solchen Allianz zwischen Richtern und Wissenschaftlern; vielmehr finden Wissenschaftler ihren Platz in möglichen institutionellen Konflikten zwischen Gerichten und dem Parlament höchst selbstverständlich auf Seite des Letzteren. In der Tat war die allgemeine Haltung der Verfassungsrechtler gegenüber der gerichtlichen ex post-Kontrolle häufig kritisch. Und tatsächlich ist ein wachsames Auge auf die gerichtliche Kontrolle von Seiten der Wissenschaftler nötig, um die Grenzen der rechtfertigbaren Verfassungskontrolle zur Geltung zu bringen.

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Unabhängige Wissenschaft ist für das Verfassungsrecht vielleicht wichtiger als für jedes andere Rechtsgebiet. Aber besondere Umstände wirken gegen die wissenschaftliche Unabhängigkeit. Verfassungsrechtsprofessoren bilden typischerweise eine einflussreiche Gruppe von Richtern am Verfassungsgericht und sind auch als Berater und Experten aktiv an der Verfassungskontrolle beteiligt. In Finnland sind Wissenschaftler als Experten tief in die Arbeit des Grundgesetzausschusses eingebunden. Unter diesen Umständen besteht die Gefahr einer Kooptation unmittelbar. Die finnische Verfassungsrechtslehre kann möglicherweise für exzessiven Respekt gegenüber dem Grundgesetzausschuss getadelt werden: Es ist schwierig, eine kritische Distanz zu einer Lehre und den entsprechenden Entscheidungen zu bewahren, zu denen man selbst beigetragen hat.

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › III. Aspekte der Evaluierung › 3. Die Rolle der deutschen Lehre

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