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a) Ausdehnung der Freiheitsrechte

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Nach dem üblichen Verständnis sind Grundrechte subjektive Rechte, die private Individuen vor der willkürlichen Gewaltausübung durch den Staat und andere öffentliche Behörden schützen. Diese Anschauung bezieht sich auf das traditionelle Verständnis der Gewaltbegrenzung durch den Rechtsstaat. Die Drittwirkung (oder Horizontalwirkung) dehnt die Schutzfunktion der Freiheitsrechte auf Machtbeziehungen aus, in denen beide Parteien private Personen darstellen. Eine solche Ausdehnung erscheint begründet im Lichte der oft künstlichen und sogar porösen Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Je weiter private Beziehungen sich von den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit entfernen, welche die ideologische Basis des Privatrechts ausmachen, desto mehr Elemente übernehmen sie, die für das öffentliche Recht typisch sind und desto berechtigter ist es, sie in den Anwendungsbereich der verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte aufzunehmen.[65]

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Die kürzliche Privatisierungswelle hat der Drittwirkung der Grundrechte, verstanden als subjektive Abwehrrechte, eine neue Bedeutung und eine neue Rechtfertigung verliehen. Falls Verwaltungsaufgaben privatisiert werden, sollte die Schutzfunktion der Grundrechte auch „privatisiert“ werden, d.h. in ihrer Anwendung auf die empfangende Privatorganisation ausgedehnt. Eine Neuerung der finnischen Verfassung aus dem Jahre 2000 ist es, für solche Privatisierungen vorzusorgen. Art. 124 bestimmt, dass, wenn Aufgaben der öffentlichen Verwaltung an andere als öffentliche Behörden delegiert werden, man durch Gesetz sicherstellen muss, dass die Grundrechte, der Rechtsschutz und andere Erfordernisse einer guten Verwaltung nicht gefährdet werden. Wenn Aufgaben der öffentlichen Verwaltung unter Art. 124 auf Funktionseinheiten der sogenannten indirekten öffentlichen Verwaltung übertragen werden, gliedert man diese Funktionseinheiten in die öffentlichen Behörden ein, die durch die Grundrechtsbestimmungen unmittelbar gebunden sind.

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Alles in allem ist es vernünftig, den Freiheitsrechten eine horizontale Wirkung in hierarchisch strukturierten Beziehungen zuzubilligen. Dennoch ist es, zumindest in kontinentaleuropäischen Zivilrechtsländern wie Finnland, auch gerechtfertigt zu fragen, wer berechtigt sein sollte, über eine solche Ausdehnung der Reichweite der Grundrechte zu entscheiden: die Legislative oder die Gerichte? Man kann behaupten, dass es hauptsächlich Sache der Legislative und nicht der Gerichte sei zu bewerten, welche Arten der privaten Beziehungen den verfassungsrechtlichen Freiheitsrechten unterfallen sollten. Beschreibt man die öffentlichen Behörden, die unmittelbar durch Grundrechtsnormen gebunden sind, existieren recht genaue formal-organisatorische Kriterien. Im Gegensatz dazu sind bei der Beschreibung der Reichweite der Horizontalwirkung der subjektiven Freiheitsrechte keine solchen formalen Kriterien zur Hand; hierfür bedarf es einer grundlegenden Überlegung und die Gesetzgebung ist dafür vielleicht besser geeignet als die Gerichte.

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Im finnischen System vertrete ich die Auffassung, dass die Gerichte in der Regel nicht ihre Kontrollmacht nach Art. 106 anwenden, um einem Freiheitsrecht eine unmittelbare horizontale Wirkung zu gewähren. Angesichts der Zweideutigkeit der Horizontalwirkung ist es zweifelhaft, dass man ein einfaches Gesetz für in offensichtlichem Konflikt mit der Verfassung stehend befinden könnte, weil es keinen ausreichenden Schutz eines Freiheitsrechts in privaten Beziehungen bietet. Im Gegensatz dazu umfasst die Pflicht der Gerichte, Gesetze im Einklang mit der Verfassung auszulegen, auch die Schutzfunktionen der Freiheitsrechte in privaten Beziehungen. Beispielsweise sollten Gesetzesbestimmungen, die in Finnland den Arbeitgebern ein eingeschränktes Recht geben, die Vertraulichkeit der E-Mail Korrespondenz ihrer Arbeitnehmer zu verletzen, eng ausgelegt werden.

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