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b) Grundrechtsnormen als allgemeine Rechtsprinzipien

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In den Debatten in Deutschland sieht man als eine der Hauptschuldigen für die angebliche Entwicklung in Richtung eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates die Lehre von den Grundrechten als Rechtsprinzipien mit allumfassendem Anwendungsbereich und die daraus folgende Verpflichtung aller Staatsorgane, zu deren Realisierung beizutragen. Seit der wegweisenden Entscheidung Lüth aus dem Jahre 1958 hat das Bundesverfassungsgericht immer argumentiert, dass Grundrechtsbestimmungen nicht nur subjektive Rechte schaffen, sondern auch Grundsatznormen ausdrücken, welche die Grundwerte der Rechtsordnung offenbaren und ihren Einfluss in allen Rechtsgebieten zur Geltung bringen. Grundrechtsnormen bestimmen die Grundordnung nicht nur des Staates, sondern der gesamten Gesellschaft und enthalten im Keim die normative Substanz der gesamten Rechtsordnung. Eine solche Konzeption ist bereits in der Lehre von der Drittwirkung angelegt, die durch die Lüth-Entscheidung eingeführt wurde. Ursprünglich wurde jedoch nur auf die Ausstrahlungswirkung verwiesen, die Grundrechte als objektive Wertordnung innerhalb des Rechts entfalten.[66]

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Ernst-Wolfgang Böckenförde argumentiert, dass die Lehre von der Drittwirkung und der Schutzpflicht des Staates von der Definition der Grundrechte als Grundwerte oder Grundprinzipien der gesamten Rechtsordnung abgeleitet sind.[67] Bei einer solchen Interpretation enthalten Grundrechtsnormen verfassungsrechtliche Aufträge an alle staatlichen Körperschaften und verlangen nach ihrer Umsetzung durch legislative, exekutive und administrative wie auch durch gerichtliche Betätigung. Die Anwendung der Grundrechtsnormen wird von Auslegung zu Konkretisierung umgewandelt: Die Realisierung der Grundrechte setzt sowohl durch die Gesetzgebung als auch durch das Bundesverfassungsgericht nicht nur die interpretative Spezifizierung ihrer Inhalte, sondern die kreative Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Wertvorstellungen oder Optimierungsgebote voraus.[68] Das angebliche Ergebnis ist die Vergerichtlichung der gesetzgeberischen Politik und Politisierung der Verfassungsrechtsprechung.

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Böckenförde versuchte auch zu zeigen, dass in der deutschen Lehre keine klare Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Horizontalwirkung von Grundrechtsprinzipien getroffen werden kann. Die mittelbare Wirkung wird durch die Generalklauseln der Zivilrechtsgesetzgebung und die Gesetzesauslegung im Allgemeinen realisiert. Falls jedoch Grundrechte nicht durch Gesetzesauslegung implementiert werden können, ist dies nicht das Ende ihrer Drittwirkung. Dementsprechend hat sich das deutsche Bundesverfassungsgericht die Befugnis angemaßt, Zivilrechtsgesetzgebung für unwirksam zu erklären, wenn sie den Grundrechtsprinzipien nicht genug Aufmerksamkeit widmet. Das Bundesverfassungsgericht hat auch zugelassen, die Verfassungsbeschwerde auf die Drittwirkung der Grundrechte zu stützen. Der Beschwerdeführer könnte argumentieren, dass die einfachen Gerichte in einem Zivilrechtsfall der unmittelbaren oder mittelbaren Horizontalwirkung einer Grundrechtsnorm nicht die notwendige Beachtung zuerkannt haben. Kritiker, unter ihnen Böckenförde, waren besorgt, dass das Bundesverfassungsgericht zu einer letzten Berufungsinstanz in Zivilrechtsfällen werden könnte und sich damit nicht nur im öffentlichen Recht, sondern auch im Zivilrecht die letztendliche Auslegungsmacht aneignen könnte.[69]

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Die Konzeption der Grundrechte als allgemeine Rechtsprinzipien, die einen umfassenden Anwendungsbereich haben und alle Rechtsgebiete mit ihrer normativen Grundlage versorgen, offenbart die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Besonders nach der Grundrechtsreform von 1995 war diese Tendenz in der finnischen Rechtsordnung ebenfalls deutlich sichtbar. Dementsprechend enthält die Rechtsliteratur viele Vorschläge, um grundrechtsbezogene Prinzipien in die allgemeinen Lehren verschiedenster Rechtsgebiete einzuführen – wie etwa das Strafrecht, das Umweltrecht, das Eigentumsrecht oder das Schuldrecht. Sollten wir hier von einer Gefahr der Überkonstitutionalisierung sprechen, die zu einem „Jurisdiktionsstaat“ führt? Sollten solche Vorschläge als Entgleisungen abgewendet werden, welche die Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung gefährden?

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Die allumfassenden Folgen der Verfassungskontrolle ergeben sich aus dem Zusammenspiel der institutionellen und dogmatischen Faktoren. Welche Auswirkungen das Verständnis der Grundrechtsnormen als objektiv-rechtliche Prinzipien haben wird, hängt davon ab, wie die Verfassungskontrolle organisiert ist und wie die Macht der Judikative bestimmt wird. Die deutsche Kritik setzt das Vorhandensein eines Verfassungsgerichts und der Verfassungsbeschwerde als Rechtsmittel voraus. Das finnische System beinhaltet kein spezialisiertes Verfassungsgericht oder etwas der deutschen Verfassungsbeschwerde Entsprechendes. Auch haben die einfachen Gerichte nicht die Macht, Zivilrechtsgesetzgebung wegen ihres behaupteten Widerspruchs zu Grundrechtsprinzipien für unwirksam zu erklären. Jedoch enthält die finnische Verfassung eine ausdrückliche Bestimmung hinsichtlich der Schutzpflicht. Art. 22 der Verfassung sieht vor, dass „[d]ie öffentliche Gewalt (…) die Verwirklichung der Grundrechte und der Menschenrechte zu sichern [hat]“. Dennoch ist es kaum vorstellbar, dass ein Gericht bei einer solchen Gelegenheit einen Widerspruch zwischen einem Grundrechtsprinzip und einer Gesetzesbestimmung findet, die eine Anwendung des Art. 106 der Verfassung rechtfertigen würde. Die Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung bewirken, dass die Schutzpflicht gemäß Art. 22 der Verfassung vor allem dem Gesetzgeber zufällt: Es ist an der Legislative, die Realisierung von Grundrechtsprinzipien in den horizontalen Beziehungen zwischen Privatpersonen zu garantieren. Demgemäß sollten die Gerichte ihre Schutzpflicht innerhalb des legislativen Rahmens erfüllen und den Grundrechtsprinzipien lediglich mittelbare Wirkung gewähren, die sich durch die Gesetzesauslegung entfaltet.

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Matthias Kumm hat die Bedeutung der Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Wirkung für die deutsche Verfassung in Frage gestellt, wobei er im Großen und Ganzen ähnliche Argumente anführt wie Böckenförde. Allerdings sieht Kumm, anders als Böckenförde, das Zusammenfallen von mittelbarer und unmittelbarer Wirkung hauptsächlich in positivem Licht.[70] Er porträtiert die Auflehnung gegen eine „totale Verfassung“ und gegen die Unterwerfung des Zivilrechts unter das Verfassungsrecht als Kampagne der Führungsschicht des deutschen Zivilrechts, um den hohen Status zu bewahren, den sie als Hüter des Bürgerlichen Gesetzbuchs – als Gipfel der deutschen Rechtswissenschaft und der Rechtskultur – genießt.[71] Umgekehrt mögen Wissenschaftler aus anderen Rechtsgebieten die Ausdehnung der Reichweite der Grundrechte als Zeichen von „verfassungsrechtlichem Imperialismus“ sehen. Die strategischen Interessen der Gesprächspartner im Machtspiel auf dem Gebiet des Rechts erhellen sicherlich den Kontext der diskursiven Interventionen. Aber natürlich hält uns das nicht davon ab, die Interventionen im Hinblick auf die normative Glaubwürdigkeit ihrer Argumente zu diskutieren.

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Viel kann zugunsten des Übergreifens der Grundrechtsprinzipien auf andere Rechtsgebiete angeführt werden. Verbindungen zu Grundrechten verstärken die Rechtfertigung der allgemeinen Rechtsprinzipien und erzeugen Bedingungen für eine neue Art des grenzüberschreitenden Dialogs zwischen den Rechtsgebieten; ein Dialog, der durch die häufig grenzüberschreitende Natur gegenwärtiger Rechtsprobleme notwendig geworden ist. Außerdem trägt eine gemeinsame Grundrechtsbasis zur Kohärenz des auf Prinzipien beruhenden Rechts bei. Schließlich kann eine erhöhte Sensitivität für Grundrechte und Rechtsprinzipien zu einer offeneren Argumentation in den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen führen. Selbst diejenigen, die sich hinsichtlich der Folgen der Vergerichtlichung vom Standpunkt der Demokratie her sorgen, können dies kaum anders denn als positive Entwicklung betrachten: Es erleichtert die diskursive Überwachung der gerichtlichen Entscheidungen nicht nur durch Juristen, sondern auch durch die Medien und die allgemeine Öffentlichkeit.

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Dennoch wäre es auch fehlerhaft, das gesamte einfache Recht als Implementierung des Verfassungsrechts und die gesamte Rechtsprechung als (potentielle) Verfassungsrechtsprechung zu betrachten. Den dogmatischen Traditionen der etablierten Rechtsgebiete, wie etwa des Zivilrechts mit seinen Unterfeldern oder des Strafrechts, sollte Respekt gezollt werden. Grundrechtsprinzipien sollten ihre Wirkungen hauptsächlich mittelbar entfalten, durch die Vermittlung der „disziplin-spezifischen“ Prinzipien. Die Konstitutionalisierung trägt zur Rechtfertigung und der institutionellen Unterstützung der für das jeweilige Gebiet spezifischen Prinzipien bei und kann auch zu Anpassungen ihrer normativen Inhalte führen, aber die allgemeinen Lehren der anderen Rechtsgebiete sollten nicht durch die Verfassungslehre ersetzt werden dürfen. Anderenfalls würde viel etablierte rechtliche ratio verloren gehen. Auch sollten die spezialisierte Rechtskompetenz und das Vorverständnis der Richter und Wissenschaftler, die sich mit anderen Rechtsgebieten befassen, durch eine Überkonstitutionalisierung nicht entwertet werden dürfen.

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › III. Aspekte der Evaluierung › 4. Zusammenfassung

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