Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Kaarlo Tuori - Страница 159

1. Beziehungen zwischen dem Parlament und der Judikative: gerichtliche Kontrolle als ultima ratio

Оглавление

78

Das finnische Modell der Verfassungskontrolle hat eine beachtenswerte parlamentarische Prägung durch die zentrale Rolle des Grundgesetzausschusses beibehalten. Der Vorrang der ex ante-Verfassungskontrolle durch den Grundgesetzausschuss beschränkt die Rolle der gerichtlichen ex post-Kontrolle auf die einer ultima ratio. Die Judikative hat nicht die führende Rolle eingenommen, die Kritiker des US-Modells und des deutschen Modells angegriffen haben, sondern führt nur eine ergänzende Funktion aus. Die Notwendigkeit eines offensichtlichen Konflikts als Voraussetzung für das Aussetzen einer Bestimmung eines Parlamentsgesetzes durch ein Gericht hält Gerichte davon ab, das Verfassungsverständnis des Parlaments im Nachhinein anzuzweifeln. Zumindest die ersten zehn Jahre seit der Einführung der gerichtlichen ex post-Kontrolle haben keinen Beweis einer drohenden Vergerichtlichung – oder „juristocracy“, um Ran Hirschls Ausdruck[48] zu gebrauchen – als Folge der neuen Machtbefugnisse der Gerichte zu Tage gefördert.

79

Sowohl das dezentrale US-Modell als auch das konzentrierte deutsche Modell sind großenteils auf der gleichen Basis kritisiert worden: Die gerichtliche Verfassungskontrolle widerspricht der Demokratie und der Gewaltenteilung und führt außerdem zu einer Verrechtlichung der Politik. Meine Behauptung im Folgenden geht dahin: Erstens, dass diese Kritik sich nicht auf das bezieht, was ich den „ultima ratio-Einwand“ für eine Verfassungskontrolle nenne, und zweitens, dass das finnische System die Rolle der gerichtlichen Kontrolle im Großen und Ganzen in Übereinstimmung mit dem ultima ratio-Einwand definiert.

80

In den USA bleibt das Hauptanliegen der Verfassungstheorie das, was Alexander Bickel bekanntlich „counter-majoritarian difficulty“[49] nannte. Dieses Problem spielt auch eine zentrale Rolle in Jeremy Waldrons Begründung seiner Argumentation gegen eine gerichtliche Kontrolle der Gesetzgebung. Waldrons Artikel gibt mir die Gelegenheit, den ultima ratio-Einwand weiter zu entwickeln. Waldron hat seine Argumentation auf einer allgemeinen Ebene dargelegt: Angenommen sie wäre nicht nur auf die US-Variante anzuwenden, sondern würde überall dort Geltung beanspruchen, wo seine Hintergrundannahmen erfüllt sind. Wenn sie nicht vorliegen, gesteht er zu, dass das Argument möglicherweise nicht stichhaltig ist. Er trifft vier Annahmen. Wir haben es mit dem Folgenden zu tun: „[E]ine Gesellschaft mit 1) demokratischen Einrichtungen in einigermaßen gutem Arbeitszustand, einschließlich einer repräsentativen Legislative gewählt auf der Basis eines allgemeinen Erwachsenenwahlrechts; 2) ein Bestand von gerichtlichen Einrichtungen, wieder in einigermaßen gutem Zustand, auf einer nichtrepräsentativen Basis eingerichtet, um individuelle Klagen anzuhören, Dispute zu schlichten und die Rechtsstaatlichkeit aufrecht zu erhalten; 3) einer Verpflichtung von Seiten der meisten Mitglieder der Gesellschaft und der meisten ihrer Beamten auf den Gedanken der Individual- und Minderheitenrechte; und 4) bestehender, substantieller und aufrichtiger Uneinigkeit über Rechte (d.h. was die Verpflichtung auf die Rechte eigentlich beinhaltetet und was die Implikationen sind) unter den Mitgliedern der Gesellschaft, die dem Gedanken der Rechte verpflichtet sind.“[50]

81

Waldrons Argumentationsgerüst beruht auf einem zweigleisigen Argument. Erstens, dass gerichtliche Kontrolle dazu neigt, die wahren, auf dem Spiel stehenden Angelegenheiten zu verschleiern, wenn Bürger divergierende Ansichten von Rechten haben, und sich auf die „Nebensächlichkeiten von Präzedenzfällen, Texten und Interpretation“[51] zu konzentrieren. Das ist das Argument der Vergerichtlichung. Zweitens – und das entspricht der counter-majoritarian difficulty – ist gerichtliche Kontrolle vom demokratischen Standpunkt aus ungesetzlich: „Indem man eine Mehrheitsabstimmung von einer kleinen Anzahl nicht gewählter und niemandem Rechenschaft schuldiger Richter privilegiert, werden normale Bürger entrechtet und gehegte Prinzipien der Repräsentation und politischen Gleichheit in der endgültigen Lösung von Grundrechtsfragen beiseite gefegt.“[52]

82

Das Standardargument hinsichtlich der Demokratie betont die Unumgänglichkeit von politischen Auswahlmöglichkeiten in einer auf Rechten basierenden Verfassungsrechtsprechung. Kritiker behaupten, dass, selbst wenn die geschriebene Verfassung einen Grundrechtskatalog enthält, die Bestimmungen vage sind und Spielraum für abweichende, sogar gegensätzliche Auslegungen lassen. Die Anwendung des abstrakten Textes des Grundrechtskatalogs setzt eine Abwägung und einen Ausgleich, entweder zwischen einander gegenüberstehenden Rechten oder zwischen Rechten und policy-Erwägungen, die ihre Einschränkung rechtfertigen, voraus. Wenn es ein Gesetz für unwirksam erklärt, ersetzt das Gericht als nicht gewähltes und demokratisch nicht verantwortliches Organ die Werte oder politischen Präferenzen der Legislative mit seinen eigenen. Wenn vernünftige Menschen bezüglich Grundrechtsfragen in vernünftiger Weise unterschiedlicher Ansicht sind, sollten diese eher in einem demokratisch organisierten politischen Verfahren anstelle eines gerichtlichen Verfahrens und eher durch repräsentative als gerichtliche Gremien entschieden werden. Gerichtliche Verfassungskontrolle und andauernder gerichtlicher Vorrang widersprechen unvermeidlich den Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung. Die counter-majoritarian difficulty erweist sich dementsprechend als unlösbar.[53]

83

Auf den ersten Blick mag der Angriff auf die Verfassungsrechtsprechung auf Grundlage ihrer methodischen Ausrichtung inkonsistent erscheinen: Gerichtliche Verfassungskontrolle wird sowohl für zu wenig als auch für zu viel policy-Gestaltung gescholten. Die amerikanischen Rechtsrealisten verurteilten den konzeptionellen Deduktivismus der Gerichte der Lochner-Zeit und riefen zu einer offenen policy-Argumentation auf. Entlang der gleichen Argumentationslinie behaupten heutige Kritiker, dass die Gerichte dazu neigen, moralische und ethische oder politische Kontroversen in konzeptionelle und dogmatische Probleme umzudeuten und so die wahre Fragestellung zu verdecken. Das ist die erste Linie von Waldrons Argumentation gegen gerichtliche Kontrolle. Eine andere Richtung der kritischen Beurteilung behauptet, dass das unentrinnbare Abwägen und Ausgleichen die Verfassungsrechtsprechung politisiert und die Richter in Entscheidungen politischer Natur einbindet, wofür ihnen die demokratische Legitimierung fehlt. Die zwei äußerlich gegensätzlichen Behauptungen bezüglich zu wenig und zu viel policy-Gestaltung werden beide verwendet, um zu bestreiten, dass gerichtliche Kontrolle der Gesetzgebung gerechtfertigt sein kann.

84

Kritiker und Befürworter der Verfassungskontrolle haben unterschiedliche Ansichten bezüglich der Kontrollierbarkeit des gerichtlichen Abwägens und Ausgleichens. Die Verfassungslehre hat Werkzeuge entwickelt, die zu deren Objektivität oder zumindest Intersubjektivität beitragen sollen, das einflussreichste davon die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die durch das deutsche Bundesverfassungsgericht eingeführt und nachfolgend durch viele andere Gerichtsbarkeiten übernommen wurde. Die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips spielt auch bei dem Erfordernis, das Grundrechtsbeschränkungen gemäß der finnischen Lehre erfüllen müssen, eine Rolle. Aber diejenigen, welche die Rechtfertigbarkeit der Verfassungskontrolle durch die Justiz angreifen, entdecken in der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächliche Wurzel der gerichtlichen Usurpation politischer Macht.[54] Im Gegensatz dazu loben die Befürworter der Verfassungskontrolle die Verhältnismäßigkeitsprüfung als Garantie der Rationalität und Kontrollierbarkeit der Grundrechtsrechtsprechung.[55]

85

Die Kritik hat auf den Mangel der demokratischen Legitimierung der Gerichte wie auch auf den Mangel der institutionellen Kompetenz hingewiesen, die für policy-Entscheidungen, die mit der Verfassungsrechtsprechung angeblich einhergehen, unverzichtbar ist. Sowohl die Zusammensetzung der Gerichte als auch das gerichtliche Verfahren spiegeln das Ziel wider, für konkrete Parteien ein faires Verfahren zu sichern; im Gegensatz dazu machen sie die Judikative schlecht geeignet für die policy-Analyse und Argumentation. Für die US-amerikanische legal process-Schule der 1950er und 1960er Jahre war dies der wirkliche Grund, die Rolle der gerichtlichen Kontrolle zu beschränken,[56] und selbst heutzutage wird regelmäßig darauf verwiesen.[57]

86

Waldrons Hauptargumente betreffen zwei allgemeine Gefahren, welche die kritischen Beobachter der Über-Konstitutionalisierung in Deutschland beunruhigt haben: die Politisierung der Rechtsprechung und die Vergerichtlichung der Politik. Das Erstere wird als Konsequenz der Beteiligung der Judikative an der policy-Gestaltung gesehen: Die Judikative dringt auf Gebiete vor, die in einem demokratischen Rechtsstaat (einer konstitutionellen Demokratie) der demokratisch gewählten Legislative vorbehalten sein sollten. Die Behauptung der Vergerichtlichung der Politik ist Waldrons Anschuldigung der gerichtlichen Kontrolle, die politische zu rechtlich-dogmatischen Fragen macht, immanent. Aber die Vergerichtlichung und die Verkrüppelung des politischen Diskurses können auch – vielleicht etwas paradox – als die Kehrseiten der Politisierung der Rechtsprechung betrachtet werden. Verfassungsrechtliche Überlegungen erlegen der Entscheidungsfreiheit der Legislative Beschränkungen auf und die Gesetzgebung wird zunehmend als verfassungsrechtlich festgelegt angesehen, als das Entfalten der logischen Schlussfolgerungen der grundlegenden Wertentscheidungen, die bereits auf der Verfassungsebene getroffen wurden. Das kommt dem nahe, was Tushnet die Verzerrung und Entkräftung der mehrheitlich legislativen Entscheidungsfindung genannt hat, die durch die Injektion von „zu vielen Verfassungsnormen im Prozess der Gesetzgebung, die die legislativen Überlegungen über andere wohl wichtigere Dinge verdrängt“, voranschreitet.[58]

87

Zusammengefasst wird die Ablehnung der Verfassungskontrolle auf den Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung sowie auf der angeblichen Gefahr der Politisierung der Rechtsprechung und der Vergerichtlichung der Politik aufgebaut. Dabei gibt es zwei mögliche Wege, um der Kritik zu begegnen: entweder die Diskussion auf einer allgemeinen Ebene weiter zu führen oder die Annahmen zu hinterfragen, auf welche die Argumentation aufgebaut ist und die Waldron – verdienstvoll! – zu formulieren versucht hat. Die letztere Strategie bringt es mit sich, die Diskursebene zu wechseln und Beispiele einzubringen, die, wie in Finnland, von besonderen Modellen oder Umständen der Verfassungskontrolle abgeleitet sind.

88

Auf einer allgemeinen Ebene können wir die Auffassung von Demokratie, die in der Diskussion um die counter-majoritarian difficulty und durch so berühmte Kritiker der Verfassungskontrolle wie Waldron und Richard Bellamy vertreten wurde, problematisieren. Sie setzt Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip gleich, das zunächst in Wahlen und dann im Entscheidungsprozess in der gewählten Legislative angewendet wird. Bei dieser Ansicht verletzt jede Abweichung vom Mehrheitsprinzip die Demokratie. Andere Demokratiekonzepte, wie diejenigen, die Jürgen Habermas oder Ronald Dworkin annahmen, können zu einer abweichenden Bewertung der Verfassungskontrolle führen.

89

Habermas’ Verständnis von Demokratie betont die Rolle der diskursiven Überlegungen und die Notwendigkeit, die Zivilgesellschaft vor allem in Diskussionen über ethische und moralische Aspekte von Gesetzesangelegenheiten einzubinden.[59] Im Gegensatz zu der Ansicht, die das Mehrheitswahlsystem bevorzugt, beschränkt das Konzept der deliberativen Demokratie die Felder für demokratische Prozesse nicht auf die Gesetzgebung. Es gibt keine konzeptionellen Gründe, weshalb die verfassungsrechtliche Rechtsprechung nicht von Diskursen umgeben sein sollte, die auch der Zivilgesellschaft und nicht nur der juristischen Elite zugänglich sind. Tatsächlich zeigt uns die Erfahrung der Vereinigten Staaten, wie Dworkin oft betont, Beispiele von auf Prinzipien ruhenden Debatten über verfassungsrechtliche Grundsatzfälle.[60] Andererseits überlässt eine von der Idee der deliberativen Demokratie beeinflusste verfassungsrechtliche Prüfung den Vorrang klar demokratischen gesetzgebenden Prozessen und betrachtet damit eine auf Grundrechten basierende verfassungsrechtliche Prüfung als letztes Mittel, einem eventuellen Versagen durch Nichteinbeziehung von Grundrechten in den Gesetzgebungsprozess entgegenzuwirken.

90

Diese Ansicht der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung enthält einen Ruf nach richterlicher Zurückhaltung. In der Regel sollten die Gerichte die policy-Entscheidungen der Legislative nicht umstoßen. Das Gewaltenteilungsprinzip als Aufteilung der Aufgaben zwischen Legislative, Exekutive und Judikative sowie die damit verbundenen institutionellen Kompetenzen bringen es in der Regel mit sich, dass die policy-Gestaltung in das Aufgabengebiet der Legislative und der Exekutive fallen sollte. Auf der anderen Seite ist klar, dass verfassungsrechtliche Rechtsprechung ohne Abwägung und Ausgleich zwischen konkurrierenden Rechten oder Rechten und policy-Erwägungen, die Beschränkungen der Rechte fordern, undenkbar ist. Dies ist zwar kein ausreichendes Argument, um die ganze Idee einer gerichtlichen Verfassungskontrolle abzulehnen, aber es erlegt der Verfassungslehre die Aufgabe auf, Mittel zu entwickeln, die zur Kontrollierbarkeit des Abwägens und Ausgleichens beitragen, wie etwa die Verhältnismäßigkeitsprüfung. In den Augen der Gegner der Verfassungskontrolle, könnte dies eine Vergerichtlichung der verfassungsrechtlichen – lies: politischen! – Angelegenheiten anzeigen. Allerdings ist nicht jegliche Vergerichtlichung automatisch schlecht; es könnte so etwas wie gesunde Vergerichtlichung, mit Bezug auf die legitimen Aufgaben der Verfassungslehre im Funktionsgefüge des rechtlichen und politischen Systems, geben.

91

Aber trotz der Anstrengungen der Verfassungslehre, die Rationalität der gerichtlichen Entscheidungsfindung zu erhöhen, gibt es überzeugende Gründe zu glauben, dass die Rechtsprechung ein hartnäckiges Element des Dezisionismus enthält. In einem gefestigten demokratischen Rechtsstaat jedoch wird dieses Element durch einen fortwährenden rechtlichen und öffentlichen Diskurs abgemildert, der die Verfassungsrechtsprechung umgibt und in dem die Gründe der Einzelentscheidungen bewertet werden.

92

Während der Lochner-Ära in den Vereinigten Staaten griffen Kritiker – viele von ihnen Rechtsrealisten oder deren Vorläufer – die verdeckte policy-Gestaltung der Gerichte unter dem Gesichtspunkt konzeptioneller und deduktivistischer Verschleierung an. Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der Verlagerung des Schwerpunkts der Verfassungsrechtsprechung von Wirtschaftsrechten zu Bürgerrechten, veränderte sich auch der Fokus der Kritik. In seiner Beweisführung gegen die gerichtliche Kontrolle neigt Waldron zu legislativen Kontroversen, die eine klare ethische oder moralische Natur besitzen, wie denjenigen bezüglich der Abtreibung, und in welcher der policy-Aspekt, d.h. die instrumentalistische Dimension der praktischen Vernunft, eine untergeordnete Rolle spielt; auf dem Spiel steht das, was man als eine auf Rechte fokussierte Gesetzgebung bezeichnen mag. Wenn ein Gericht ein solches Gesetz für unwirksam erklärt, macht es nicht die policy-Entscheidungen des Gesetzgebers unwirksam, sondern eher seine ethischen und moralischen Standpunkte. Falls der Gesetzgebungsprozess bereits ethische und moralische, auf Rechte bezogene Überlegungen enthielt und falls die Legislative ihre Entscheidung auf solche Erwägungen ausdrücklich stützt, rechtfertigt das Argument der Verfassungskontrolle als ultima ratio ein Eingreifen des Gerichts demnach nicht.

93

Abtreibungsfälle mögen die am heißesten diskutierten Fälle der Verfassungskontrolle sein, aber sie als paradigmatische Beispiele heranzuziehen, könnte unklug sein. Die meisten gesetzgeberischen Projekte sind auf policy-Zwecke ausgerichtet und verfolgen wirtschaftliche oder soziale Programme, Sicherheitsziele und so weiter. In Standardfällen ist das gesetzgeberische Motiv hauptsächlich pragmatischer Natur, bei dem auf Rechte bezogene moralische und ethische Überlegungen, wenn überhaupt, nur als Nebenbedingungen eine Rolle spielen; die Beziehung von pragmatischen zu ethischen und moralischen Aspekten ist genau entgegengesetzt zu deren jeweiliger Bedeutsamkeit im Abtreibungsgesetz. Und auf solche Standardfälle zielt das Argument der ultima ratio: Die Grundrechtsfrage könnte während der Gesetzgebungsphase unbeachtet geblieben sein und erst in der Phase der Anwendung entdeckt werden. In Finnland war dies ein zentrales Argument für die Einführung gerichtlicher ex post-Kontrolle und für die Ermächtigung der Gerichte, Bestimmungen in einem Gesetz auszusetzen, das eine ex ante-Kontrolle durch den Grundgesetzausschuss schon durchlaufen hat. In den travaux préparatoires für die Verfassung des Jahres 2000 wurde der Punkt wie folgt formuliert: „Im (Grundgesetz-) ausschuss wird die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen auf einem allgemeinen Niveau, in abstracto, untersucht, während ein Gericht die Angelegenheit im Zusammenhang eines konkreten Falles bewertet. Daher ist es möglich, dass ein Gericht einen Widerspruch entdeckt, den der Ausschuss überhaupt nicht angesprochen hat. In einer solchen Lage kann das Erfordernis eines offensichtlichen Konflikts ausnahmsweise vorliegen, obwohl das Gesetz die Kontrolle des Grundgesetzausschusses durchlaufen hat.“[61]

Die Bedenken hinsichtlich der Politisierung der Rechtsprechung sind berechtigt; sie warnen die Verfassungskontrolle davor, ihre legitimen Grenzen zu überschreiten und die ausdrücklichen Politikentscheidungen oder Wertentscheidungen des Gesetzgebers nicht umzukehren. Sie führen allerdings keinen tödlichen Streich gegen die rechtfertigbare gerichtliche Kontrolle, sondern dienen lediglich als Erinnerung an deren Grenzen. Ebenso relevant ist die Gefahr einer Vergerichtlichung der Politik, welche aus einer übermäßig „dichten“ Interpretation der Verfassung entstehen kann. Versuche, die verschiedenen policy- oder Wertentscheidungen in der Verfassungsauslegung zu verankern, neigen dazu, die Freiheit der demokratischen politischen Erwägung und Entscheidungsfindung zu beschränken. Man sollte sich auch der Gefahren einer verknöcherten Verfassungslehre gegenwärtig sein. Trotzdem sollte die Kritik der Rechtsrealisten oder das Vergerichtlichungsargument von Waldron nicht die positive Rolle verschleiern dürfen, die die Verfassungslehre bei der Sicherstellung der Konsistenz und Kontrollierbarkeit der Verfassungsrechtsprechung spielt. Im Verfassungsrecht bedarf es, genauso wie in anderen Rechtsgebieten, allgemeiner Lehren; diese sollten aber nicht zu ideologischen Konstrukten versteinern dürfen, die die Wahrnehmung relevanter Angelegenheiten eher behindern denn erleichtern.

94

Alles in allem bin ich, selbst auf einer allgemeinen Diskussionsebene, nicht von Waldrons Argumenten gegen die gerichtliche Kontrolle der Gesetzgebung überzeugt. Er deutet auf Überlegungen hin, die in der Untersuchung alternativer Modelle der Verfassungskontrolle wichtig sind, aber er greift nicht wirklich ihre grundlegende Rechtfertigung als ultima ratio-Hüter der Gesetzesgrenzen an. Ein solcher Hüter ist selbst in einer Gesellschaft notwendig, die Waldrons vier Annahmen entspricht und die ungefähr dem gleichkommt, was man als etablierte Demokratie bezeichnen kann. Die Nichtbeachtung von Grundrechtsfragen während der Gesetzgebungsphase ist selbst in etablierten Demokratien, zu denen ich auch Finnland zählen würde, möglich. Und falls die Annahmen überhaupt nicht zutreffen, was immer noch großenteils etwa in den neuen Demokratien Zentral- und Osteuropas der Fall zu sein scheint, sind solche Misserfolge noch wahrscheinlicher.[62]

95

Oft genug verlässt sich die auf einer allgemeinen Ebene geführte Diskussion über die Verfassungskontrolle auf die Dichotomie von gerichtlichem und gesetzgeberischem Vorrang, wobei ersterer eine starke Verfassungskontrolle impliziert, die von einer gerichtlichen Institution durchgeführt wird. Das gilt auch für Waldrons Hauptargument. Seine Argumente sind durchaus von Bedeutung, jedoch ist deren Gültigkeit abhängig von der institutionellen Ausgestaltung des untersuchten Systems und der Ausgestaltung seiner dogmatischen Lehren. Dies ist ein zusätzlicher Grund, um die Überzeugungskraft von Waldrons Position zu hinterfragen: Selbst aus institutioneller Sicht und aus der Sicht der dogmatischen Lehren ruht sein angeblich allgemeines Argumentationsgerüst gegen die Verfassungskontrolle auf Annahmen, die keine allgemeine Gültigkeit besitzen. In institutioneller Hinsicht besteht ein allgemeines Merkmal in hybriden Modellen der Verfassungskontrolle, wie etwa dem New Commonwealth Model oder dem finnischen Modell, daraus, ein parlamentarisches Element einzuführen und so zu versuchen, die Spannung zwischen gerichtlicher Kontrolle und Demokratie zu regeln und der Tendenz der Vergerichtlichung entgegen zu wirken. Aus Sicht der dogmatischen Lehre können Doktrinen Gerichte zu richterlicher Selbstbeschränkung veranlassen und zu einem Verständnis der gerichtlichen Kontrolle als ultima ratio beitragen. In Finnland spielt das Erfordernis eines offensichtlichen Konflikts, das in Art. 106 der Verfassung niedergelegt ist, sowohl in institutioneller Hinsicht als auch in den dogmatischen Lehren eine entscheidende Rolle.

96

In institutioneller Hinsicht unterwirft das Kriterium des offensichtlichen Konflikts die gerichtliche ex post-Überwachung der Gesetzgebung der parlamentarischen ex ante-Kontrolle. Falls die Verfassungsfrage während der Gesetzgebungsphase ausdrücklich angesprochen wurde und der Grundgesetzausschuss einen expliziten Standpunkt dazu eingenommen hat, hält das Kriterium des offensichtlichen Konflikts in der Regel ein Gericht davon ab, die Entscheidung des Ausschusses umzukehren. Dies ist nicht nur eine Interpretation von vielen bezüglich des Art. 106, sondern eine anerkannte Voraussetzung, die von den Gerichten ebenfalls akzeptiert wird. Im Grundsatz kann die gerichtliche Kontrolle nur dann eintreten, wenn die Verfassungsfrage aus dem einen oder anderen Grund in der Gesetzgebungsphase übersehen wurde. Außerdem birgt das Erfordernis des offensichtlichen Konflikts – in Übereinstimmung mit der epistemologischen oder der quantitativen Auslegung – eine allgemeine Mahnung zu richterlicher Zurückhaltung. Es errichtet auch Hindernisse für eine extensive Anwendung bestimmter Doktrinen, die aus Deutschland importiert wurden, und verstärkt zumindest potentiell den Status der Gerichte gegenüber der Legislative. Ich werde auf diese Bedeutungen des Erfordernisses des offensichtlichen Konflikts zurückkommen.

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › III. Aspekte der Evaluierung › 2. Zeichen der Vergerichtlichung

Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх