Читать книгу Ich bin Luis! - Karin Dornhöfer-Neumann - Страница 10

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6. Zwei gefährliche Typen und eine Gardinenpredigt

Am Ende der Fußgängerzone blockiert ein großer, weißer Lieferwagen den Gehweg. Nikolai Pawlowa – Ihr fairer Partner bei Entrümpelungen, Haushaltsauflösungen und Kleinumzügen steht in großen, fetten Buchstaben an jeder Seite. Die hinteren Türen des Wagens stehen offen, und zwei Männer mühen sich damit ab, eine monstermäßige braune Couch mit ganz vielen Bombeln daran hineinzuwuchten.

„Du brauchst nen größeren Wagen, Nick …“, meckert der eine und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

„Ja, ja“, brummt der andere. Dann steigen die beiden ein und fahren unter dem Gehupe der wartenden Autofahrer los.

Noah tippt mir auf die Schulter. „Vor diesen zwei Typen musst du dich in Acht nehmen! Die sind nicht ganz sauber.“

„Wie meinst du das?“

Er bläst die Backen auf. „Die machen nicht nur auf Entrümpelungen, sondern drehen auch krumme Dinger.“

„Woher weißt du das?“

„Hat mein Papa gesagt. Er kennt den Pawlowa, den mit den wuschigen Haaren und dem Schnauzer. Den trifft er manchmal in seiner Stammkneipe und quatscht mit ihm. Aber er sagt, das ist ein Gauner. Der lässt kein Geschäft aus. Und der andere, der Dicke mit dem Glatzkopf und den vielen Tattoos, ist ein Schlägertyp. Mit denen sollte man sich besser nicht einlassen, sagt mein Papa. Die sind gefährlich.“

Ich höre nur mit halbem Ohr zu. In Gedanken bin ich bei dem bevorstehenden „Gespräch“ mit meinem Onkel Dennis. Wenn es nur schon vorbei wäre …

Aber vorher wartet Noahs Mama auf uns mit eiskalter Limonade. Sie betrachtet Noahs Zeugnis mit vielen Na-jas und rollenden Augen. Aber dann lächelt sie. „Versetzt bist du wenigstens. Das ist schon mal die halbe Miete.“

Noahs Papa liegt auf der Couch im Wohnzimmer und grinst uns entgegen. Man riecht es schon von weitem: Er hat einen kurzen Abstecher bei Otto's Klimperkiste, seiner Stammkneipe, gemacht. Noah und ich helfen seiner Mama noch dabei, den schweren Wäschekorb mit den Bettbezügen nach draußen auf die Wiese hinter dem Wohnblock zu tragen. Dort hängen wir sie ordentlich an die Wäscheleine. Danach stärken wir uns an einer Schale Zitronenpudding.

Es kommt mir vor, als würde ich plötzlich alles schärfer hören und sehen als sonst, und ich spüre ein Kribbeln in meinen Armen und Beinen. Es geht mir gut, aber … Etwas beunruhigt mich. Etwas, das ich nicht greifen kann. Der Albtraum von letzter Nacht spukt mir auf einmal wieder im Kopf rum.

Noah geht wie immer nochmal mit zu mir, und wir spielen Computerspiele. Er gewinnt jedes Mal und stößt Tarzan-Schreie aus.

Bevor er um halb sieben wieder zu sich nach Hause geht, machen wir aus, morgen Vormittag um zehn zusammen ins Schwimmbad zu tigern.

Und dann knirschen auch schon die Reifen von Onkel Dennis' BMW auf dem Kies, und er und Alexander kommen herein.

„Leg mir schon mal dein Zeugnis hin!“, ruft Onkel Dennis mir statt einer Begrüßung zu.

Das habe ich bereits, und mein Herz fängt an zu rattern. Ich setze mich an den Esstisch. Es gibt Schnittchen, wie immer. Seitdem Emmi nicht mehr da ist und weil Onkel Dennis bisher keine neue Köchin gefunden hat, kommt jeden Tag ein Lieferservice und bringt unser Essen. Es sieht eigentlich ganz lecker aus, schmeckt aber immer ein bisschen wie Pappe.

Herr Kemper kümmert sich neben seinen normalen Aufgaben auch um das Decken des Tisches. Er zwinkert mir zu.

„Na, Fräulleinchen? Heute gab's Giftzettel mit Schlagsahne, was?“

Er meint damit Zeugnisse.

„Und?“, fährt er mit verschwörerischer Stimme fort. „Bist du versetzt, oder musst du eine Ehrenrunde drehen?“

Natürlich ist diese Frage nicht ernst gemeint, er will mich nur necken.

„Gerade so“, erkläre ich mit todernster Miene. „Bloß eine Fünf, der Rest sind Vierer.“

Das sage ich jedes Mal, wenn er mir diese Frage stellt, und er gluckst dann und kichert vor sich hin. Er war schon alt, als ich auf die Welt kam, und wahrscheinlich wird er mich noch Fräulleinchen nennen, wenn ich eine Oma mit zehn Enkelkindern bin. Ein Leben ohne ihn kann ich mir gar nicht vorstellen. Er lebt seit hundertfünfzig Jahren oder so bei uns. Wenn er auch nicht mehr da wäre … Furchtbar!

Zehn Minuten später kommen Onkel Dennis und Alexander gemeinsam wieder die Treppe herunter und setzen sich zu mir. Sie riechen beide nach Duschgel.

„Na, wie war dein Tag?“, fragt Alexander wie jedes Mal und lächelt.

„Wir waren am Nachmittag im Schwimmbad.“

„Schön. Da war doch bestimmt die Hölle los?“

„Ging so.“

Die nächste Minute vergeht damit, dass Onkel Dennis mein Zeugnis von oben nach unten und von links nach rechts betrachtet. Sein Mund ist wie immer zusammengekniffen, so als würde er von mir sowieso nichts Positives erwarten. Dann durchbohrt er mich mit seinen kleinen, dunklen Augen, und das Verhör geht los:

„Warum hast du nur eine Drei in Sport?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Könntest du dich überwinden, reiten zu lernen, sähe das anders aus. Dann wärst du auch nicht so blass. Du könntest längst das kleine Hufeisen haben und mit den anderen Kids im Reitstall beim jährlichen Vereinsturnier mitmischen. Du weißt ja, dass da jede Menge supernette Jungs und Mädels sind.“

„Ich habe wieder eine Eins in Musik bekommen“, antworte ich leise.

Onkel Dennis schnaubt, sodass sein Gesicht ein wenig schief aussieht. „Jeder Trottel kann eine Eins in Musik haben. Mit Klavier spielen ist kein Blumentopf zu gewinnen, das musst du dir merken.“

„Aber mein Papa war Konzertpianist. Er hat sein Geld damit verdient.“

„Er hat deine Mama geheiratet und von ihrem Geld gelebt.“

Ich zucke zusammen wie unter einem Schlag.

Alexander räuspert sich. „Das ist jetzt aber starker Tobak, Dennis.“

„Man muss die Dinge so sehen, wie sie sind.“

Auf Alexanders Stirn ist eine steile Falte. „So etwas sagt man nicht.“

„Nein?“ Onkel Dennis zieht die Brauen in die Höhe und lacht wie ein Hai. „Na gut, dann nehme ich alles zurück und behaupte das Gegenteil.“

Er grinst boshaft. „Na ja, die Zweien in Mathematik, Deutsch und Englisch solltest du im kommenden Schuljahr in Einsen umwandeln. Das müsste doch zu schaffen sein, oder?“

„Peter stellt sehr hohe Ansprüche an die Klasse“, stottere ich.

„Peter …?“

„Peter Stein, unser Klassenlehrer.“

„Ihr nennt eure Lehrer beim Vornamen? Kein Wunder, dass an deiner Schule nichts vorangeht.“

„Ich tue mein Bestes.“

„Dann ist dein Bestes nicht gut genug. Auf dem Gymnasium wäre ich mit diesen Noten zufrieden, aber doch nicht in einer drittklassigen Gesamtschule, auf die jeder Hitschibitschi gehen kann.

Vielleicht sollte man überlegen, dich auf ein Internat zu schicken. Nach Salem zum Beispiel. Da war auch Alexander.“

Ich schnappe nach Luft. „Ich will auf kein Internat! Das hätte meine Mama nicht gewollt.“

Er lässt das Zeugnis sinken und glotzt mich an. Dann seufzt er, unterschreibt es und schiebt es zu mir rüber.

„Deine Mama hätte gewollt, dass du die bestmögliche Schulbildung bekommst und gut reiten lernst.“

„Die Erich-Kästner-Gesamtschule hat den allerbesten Ruf in der Region“, zitiere ich unseren Direx.

„Du lernst an dieser Schule nichts Gutes. Na ja, bei dem Umgang, den du dort pflegst …“

„Mir gefällt es dort.“ Ich greife lustlos nach einem der Schnittchen und grapsche mir eine Handvoll Weintrauben. Wenigstens die schmecken ein bisschen nach was.

Onkel Dennis macht eine wegwerfende Handbewegung. Dann schnaubt er.

„Sei's drum. Das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Du hast dir mit deiner Verstocktheit den Aufstieg in das Goethe-Gymnasium selbst vermasselt. Wenn es nach mir gegangen wäre, wärst du jetzt dort. Dass du deinen Mund nicht aufmachst, war der einzige Grund, warum deine Grundschullehrerin sich stur gestellt und dir die Empfehlung nicht gegeben hat.“

„Lass gut sein, Dennis“, versucht Alexander zu schlichten. „Es ist, wie es ist. Denken wir lieber an die bevorstehenden zwei Wochen auf Ischia.“

Ich lasse mein Schnittchen sinken. Jetzt kommt es!

Onkel Dennis' Gesicht hellt sich auf. Er beginnt die geplante Flugreise in glühenden Farben zu beschreiben.

„Alexander hat das fast Unmögliche geschafft, im besten Hotel der Insel noch zwei nebeneinander liegende Zimmer mit Blick auf das Meer zu bekommen, aber nur dank seiner exzellenten Beziehungen.“

Er sieht mich triumphierend an. „Italien ist wundervoll, du solltest dankbar sein.“

„Ich würde lieber zu Onkel Richard fliegen.“

Onkel Dennis knallt die Handfläche auf den Tisch, dass sogar Alexander zusammenzuckt. „Jetzt fang nicht schon wieder mit diesem Quatsch an! Das steht nicht zur Debatte. Wir drei werden die kommenden vierzehn Tage nutzen, um uns ein wenig näherzukommen. Fernab vom Alltagstrott, unter liebenswerten Menschen, die eine wundervolle Sprache sprechen.“

Mir wird schlecht.

„Unser Flug geht morgen Nachmittag um 16.55 Uhr. Du solltest schon mal anfangen einzupacken, was du mitnehmen willst.“

Ich würde jetzt gerne sagen, dass er doch ohne mich fliegen soll, wenn ich ihm sowieso nichts recht machen kann. Oder dass er Onkel Richard die Vormundschaft für mich geben soll. Und dass ich mir nichts Schlimmeres vorstellen kann, als mit ihm zwei lange Wochen in einem fremden Land zu sein. Stattdessen zittern meine Hände, und ich sage nur „Ja“ und zähle die Rosenknospen auf der Tischdecke. Und frage mich, wie lange ich das alles noch aushalten kann.

Alexander drückt mir den Hotelprospekt in die Hand. Auf den Fotos darauf ist der Himmel samtblau, das Meer türkis, und alle Menschen lachen und schwimmen scheinbar den ganzen Tag, wenn sie nicht an einem weiß gedeckten Tisch sitzen und Sachen essen, bei denen mir schlecht wird. Egal, was ich jetzt auch sage, es wird falsch sein. Also halte ich den Mund und warte, bis das Essen zu Ende ist und ich nach oben in mein Zimmer gehen und Klavier spielen kann.

Ich bin Luis!

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