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7. Allein im Haus

Onkel Dennis und Alexander fahren heute nicht in den Reitstall. Sie haben einen Termin mit einem wichtigen Klienten aus ihrer Rechtsanwaltskanzlei und werden erst spät zurückkommen. Herr Kemper ist informiert, dass er ein Auge auf mich haben soll. Aber das hat er sowieso. Er und ich zwinkern uns zu, dann schlurft er in sein kleines Haus im hinteren Teil des Anwesens und schaltet den Fernseher ein. Ich kann ihn von meinem Balkon aus in seinem Wohnzimmer sitzen sehen. Heute spielt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gegen Polen, das hat mir Noah schon mindestens zwanzig Mal ins Ohr getrötet. Das muss man sehen!

Ich setze mich an meinen Flügel und spiele als erstes eines der federleichten Stücke von Chopin. Das vertreibt die schwarzen Gedanken aus meinem Kopf. Madame Boulet hat mir außerdem vor zwei Tagen Noten von verschiedenen ungarischen Stücken mitgebracht, die ich mir danach vornehme. Sie sind ziemlich schwermütig, aber wunderschön. Dann mache ich einen Abstecher zu Mozart und Schumann.

Draußen wird es langsam dunkel. Die Kirchturmuhr auf der anderen Seite des Parks schlägt zwei Mal, halb zehn. Ich stehe auf, strecke mich und werfe einen Blick zu Herrn Kemper hinüber. Wie ich mir schon dachte, kriegt er außer dem Fußballspiel nichts mehr mit. Ich wundere mich, dass ich ihn nicht mehr in seinem Sessel sitzen sehe, nur die flackernden Lichter des Fernsehers sind zu erkennen. Vielleicht geht er sich gerade noch ein Bierchen holen …

Eigentlich müsste ich jetzt ins Bett gehen, aber ich bin noch kein bisschen müde und spiele zum Schluss River flows in you. Mein Blick fällt auf das Foto von meinen Eltern und mir. Wie glücklich wir alle drei in die Kamera geblickt haben. Es wurde kurz vor dem Unfall gemacht, ich war sechs Jahre alt gewesen. Meine Mama lacht breit, und es tut mir immer ein bisschen weh zu sehen, dass sie die gleichen dunkelbraunen Augen hatte wie Onkel Dennis. Nur hatten ihre Augen einen warmen Schimmer. Die von Onkel Dennis sind giftig. Und mein Papa hatte dieselben hellblauen Augen wie Onkel Richard. Und wie ich.

Als ich fertig bin, fällt mir ein, dass heute Abend noch keine Nachricht von Onkel Richard gekommen ist. Ich schnappe mir mein Handy und versuche ihn anzurufen, aber es geht nur die Mailbox ran. Ich lausche seiner weichen Stimme und hinterlasse dann, dass er mich bitte, bitte gleich anrufen soll. Dass ich es bei Onkel Dennis einfach nicht mehr aushalte. Dass ich zu ihm will. Ganz schnell!

Danach fühle ich mich ein klein wenig besser. Als ich schließlich aufstehe, höre ich etwas. Es kommt aus dem Haus. Nanu …? Habe ich die Rückkehr von Onkel Dennis und Alexander verpasst? Ich werfe einen Blick über den Balkon. Nein, der BMW ist noch nicht da. Von Herrn Kemper sehe ich auch nichts. Komisch. Und er hat auch noch nicht die kleine Laterne mit der Kerze auf seine Fensterbank gestellt. Das tut er jeden Abend, bevor es dunkel wird. Er hat mir nie gesagt, warum er das macht, aber es sieht sehr hübsch aus.

Da!

Sind das Schritte auf der Treppe?

Ich halte die Luft an und lausche angestrengt.

Es sind Schritte!

Und sie kommen näher.

Aber das kann doch nicht sein … Es ist außer mir niemand im Haus, und wenn Herr Kemper herumstapft, hört sich das anders an. Er zieht beim Laufen das linke Bein nach, daran erkenne ich ihn immer sofort.

Während ich mir noch einzureden versuche, dass ich mir das jetzt nur einbilde, weil doch das Tor zu unserem Grundstück alarmgesichert ist und überall Bewegungsmelder und Kameras hängen, sehe ich, wie der Griff von meiner Zimmertür langsam heruntergedrückt wird. Ich öffne den Mund, kriege aber keinen Ton heraus. Mein Herz trommelt gegen meine Rippen, und ich bekomme keine Luft mehr. Ich klebe mit den Füßen am Boden fest. In meinen Armen sind Bleigewichte, ich kann sie nicht mehr bewegen. Starre bloß auf die Tür, die sich Zentimeter für Zentimeter öffnet. Und sehe …

Den Mann aus der Stadt!

Den mit der Sonnenbrille!

Die er jetzt nicht trägt, aber ich erkenne ihn trotzdem.

Etwas macht „Klick!“ in meinem Kopf. Noah hat Recht gehabt! Dieser Typ ist gefährlich! Verdammt!

Ich drehe mich um, renne auf den Balkon und schaue panisch über das steinerne Geländer nach unten. Das hier ist der erste Stock, es geht scheußlich tief hinunter, aber meine Angst vor dem fremden Mann ist größer. Ich setze mich auf die Mauer, kralle mich mit beiden Händen daran fest und lasse nacheinander meine Beine hinunter. Ich weiß, dass das Wahnsinn ist, was ich vorhabe, aber wenn ich mich jetzt loslasse, lande ich auf dem von Herrn Kemper liebevoll gepflegten und gewässerten Rasen. Ich schließe die Augen. Im gleichen Moment fühle ich zwei Hände auf meinen und bekomme Schnappatmung. Bevor sie richtig zupacken können, lasse ich mich fallen.

Wumms! Der Aufprall tut mehr weh, als ich erwartet habe. Ich lasse mich sofort zur Seite rollen, wie wir es im Sportunterricht geübt haben. Ziehe Luft durch die Zähne, um den Schmerz zu betäuben und riskiere einen Blick nach oben. Der Mann steht da und ruft mir etwas zu, das ich nicht verstehe. Ich rapple mich auf und stelle fest, dass ich mir wohl nichts gebrochen habe, Glück gehabt! Nur die Fußgelenke und Knie fühlen sich an, als hätte sie jemand mit einer Eisenstange weichgeklopft.

Jetzt aber nichts wie weg! Der Mann ist vom Balkon verschwunden und wird wohl jede Sekunde in der Eingangstür auftauchen. Ich humple los, anfangs mit zusammengebissenen Zähnen, dann schneller, denn ich höre wieder die Stimme des Mannes. Er scheint zu fluchen.

Oh, nein! Wohin jetzt? Beim Eingangstor brauche ich es gar nicht zu versuchen, das ist ohne Schlüssel nicht zu öffnen, und bis zu dem Haus von Herrn Kemper ist es zu weit, da erwischt der Mann mich vorher.

Die Eiche neben der Mauer! Das sind nur ein paar Meter. Noah und ich sind ein paar Mal hochgeklettert. Es ist nicht ganz einfach, aber zu schaffen. Dummerweise habe ich die Capri-Leggins an und schramme mir Arme und Beine auf. Aber egal! Jetzt mit voller Kraft hochspringen, dabei mit beiden Händen nach dem Ast über mir greifen und mich mit Hau-Ruck nach oben ziehen!

Ich werfe einen Blick zum Haus und schnappe nach Luft. Der Mann ist auf dem Weg genau hierher! Zwei Sekunden lang kann ich mich vor Schreck nicht mehr bewegen. Dann reiße ich mich zusammen, richte mich mit wackligen Knien auf dem dicken Ast auf und stütze mich mit der rechten Hand an dem Ast neben mir ab. Dann mache ich den Fehler, nach unten zu schauen. Woah! Ist das tief …

„Komm runter!“ Die Stimme des Mannes lässt mein Herz in die Kniekehlen plumpsen. „Ich tue dir nichts!“ Er ist direkt unter mir, schnauft und rudert mit den Armen.

Das ist der Moment, in dem ich weiß, dass ich etwas tun muss. Jetzt! Mit zitternden Beinen, aber zu allem entschlossen, stoße ich mich mit den Füßen ab … und lande bäuchlings auf der Mauer.

Autsch! Aber geschafft! Dann sehe ich den Mann unter mir. Er versucht meine Füße zu erwischen. Mit letzter Kraft ziehe ich die Beine auf die Mauer, wurstele sie irgendwie auf die andere Seite und lasse mich so langsam wie möglich hinunterrutschen. Ich höre den Mann fluchen.

Diesmal lande ich leider nicht auf weichem Gras, sondern auf dem noch warmen Bürgersteig, und das nicht besonders elegant. Meine sowieso schon übel angeschlagenen Gelenke bekommen einen weiteren Knacks.

Aber ich bin drüben!

Und ich kann noch laufen. Na ja, besser gesagt humpeln. Aber egal.

Ich schaue mich um und stöhne. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, den ich um Hilfe bitten könnte.

Ich bin Luis!

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