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Eine neue Welt auf den Trümmern des Römischen Reiches (493 – 568)

Theoderich und die Ostgoten

Beim Tode Attilas 453 gewannen die ihm untergebenen Ostgoten ihre Freiheit wieder. Als im nächsten Jahre (454) Theoderich I. zur Welt kam, saßen sie, in drei Großstämmen organisiert, in Pannonien unter der Schirmherrschaft der Königssippe der Amaler; deren Ahnenreihe eröffnete Gaut (Gapt); das war der Beiname des bei den Goten besonders verehrten Gottes Odin. Die Urheimat des Volkes lag in Skandinavien (Gotland). Um die Mitte des 5. Jahrhunderts saßen sie in Pannonien, das zum Römischen Reich gehörte. Dieses achtete ihre Unabhängigkeit, wies sie zu Fremdenrecht in ihr Siedelland ein und zahlte jährliche Hilfsgelder aus der kaiserlichen Kasse. Die mit Ostrom geschlossenen Verträge wurden durch Geiseln garantiert, zu denen auch Theoderich zählte. Er wurde so im Alter von sieben Jahren nach Konstantinopel gebracht und am Kaiserhof erzogen. Hier bildeten sich seine politischen Urteile, hier sammelte er Erfahrungen für seine zukünftige Politik. Er sah die Schwäche Ostroms und die Stärke der Barbaren.

Beim Tode des Vaters ernannte Kaiser Zeno den Siebenundzwanzigjährigen zum Patricius und Chef der Reichsinfanterie, adoptierte ihn zum »Waffensohn« und ließ sein Standbild im Kaiserpalast aufstellen. Der Balkan wurde Theoderich und seinen Ostgoten bald zu eng; nach einer Niederlage am See von Ochrida söhnte er sich mit Kaiser Zeno aus, der ihn gegen die Bulgaren brauchte, und ging ein zweites Mal in die Reichshauptstadt. Der Herrscher spielte ihn dann seit 488 gegen Odoaker in Italien aus und ließ es zu, daß Theoderich die Apenninenhalbinsel eroberte und dann der Welt um die Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert das merkwürdige Schauspiel bot, daß ein germanischer Barbar altrömisches Erbe bewahrte.

Theoderich nannte sich König der Goten und Römer, er wollte damit ausdrücken, daß er mit den Goten das alte Römerreich zu erneuern suchte. Der oströmische Kaiser aber sah in ihm nur seinen Stellvertreter in Italien, das ihm so lange zugehörte, als kein weströmischer Kaiser existierte.

Theoderich gab sich wie ein Kaiser, die italienischen Münzen dieser Zeit tragen auf der Vorderseite das Bild des Kaisers, auf der Rückseite das Monogramm des Theoderich. Daß er Ostrom zu schwach einschätzte, verraten die Ereignisse nach seinem Tode. Seine Goten hielt der König nicht reif für die Früchte römischer Zivilisation; deshalb verbot er ihnen den Besuch von Schulen und das Erlernen der lateinischen Sprache. Er isolierte sie von der Umwelt.

Der Ostgotenkönig Theoderich I. (493 – 526) war der erste Germane, der erste Barbar, der die Idee einer größeren Aufgabe in sich trug. Dieses Haupt der ostgotischen Königssippe der Amaler dachte erstmals an ein germanisches Reich in Nachfolge und in den Formen des erneuten Römerreiches und seiner großen Vergangenheit. Die militärischpolitische Kraft der Germanen sollte die durch den Zusammenbruch entfesselten, anarchischen Triebe bändigen. Kernland des neuen Reiches sollte Italien sein, das darum aufgebaut werden mußte. Von der alten Kaiserpfalz Ravenna aus betrieb der Gotenkönig eine Barbarenpolitik mit Verträgen, Allianzen, Heiraten, bewaffneten Interventionen. Ihr Ziel war es, die widerstreitenden Königsgeschlechter für seine ehrgeizigen Pläne zu gewinnen und sie durch Heiraten zu einer politischen »Großfamilie« umzugestalten, deren Haupt er war.

Der Westgotenkönig Alarich II. war sein Schwiegersohn, der Burgunderkönig Sigismund ebenfalls; seine Schwester Amalafrida verheiratete er mit dem Wandalenkönig Thrasamund und eine Nichte mit dem Thüringerkönig. Er selbst nahm Audofleda, die Schwester des fränkischen Merowingerkönigs Chlodwig, zur zweiten Frau. Im Zentrum des Netzes von Heiratsverbindungen wollte der Amaler das Sippenhaupt, den Schiedsrichter und Protektor spielen und zugleich von Italien aus die westliche Welt gegen den fränkischen Eroberer organisieren sowie gegen die oströmische Macht im Mittelmeer und auf dem Balkan immunisieren.

Nach Chlodwigs Sieg über die Alemannen 496 sammelte Theoderich I. deren Reste in Vindelikien und im östlichen Helvetien. Gegen den oströmischen Kaiser waren Kontakte mit Slawen, Skandinaviern, Finnen und einem Abkömmling Attilas gerichtet. Aber sein Versuch mißglückte, und sein Werk überlebte kaum seinen Tod; es scheiterte an der Macht des Franken Chlodwig und an Ostrom.

Zu ungleich waren die Welten, die Theoderich I. vereinigen wollte, die von ihm verfolgte Politik der Trennung der Völker und Rassen und deren Verschmelzung in seiner Person schlug fehl. Die Goten haßten die Römer und verteidigten darum ohne innere Zustimmung die römische Welt; die Römer verachteten das ihnen fremde, arianische Volk. Ein Ausgleich zwischen dem schwachen Arianismus der Eroberer und dem starken römisch-italienischen Katholizismus glückte nicht; die religiösen Leidenschaften verhinderten das, und Theoderich I. verkannte das Gewicht der religiösen Frage. Ohne Einheit des Glaubens gab es keine Verschmelzung. Der innere Grund seines Versagens war sein unbeherrschtes Temperament. Aus Angst vor einem Komplott ließ er seinen Freund und Minister, den Philosophen Boëthius, hinrichten; Papst Johannes I. überantwortete er bei dessen Rückkehr aus Konstantinopel dem Gefängnis, und zuletzt sagte er 526 dem Katholizismus den Kampf an. Noch im gleichen Jahr starb der Amaler Theoderich I. vermutlich durch Gift. Der bedeutende byzantinische Historiker Prokop rühmt ihn in einem Nachruf als Hüter von Recht und Gesetz, als Verteidiger des Landes gegen die Barbaren, als einen weisen und tapferen »Tyrannen«, der in Wirklichkeit Kaiser war.

Die territoriale Basis seiner Politik war Italien; seine Goten massierte er im Raum zwischen Alpen und Po mit Vorposten in den Rätischen Alpen (Südtirol); so konnte sich sein germanisches Heer rasch nach allen Seiten bewegen. Er selbst rückte von der Kaiserstadt Ravenna nach Verona herauf; deshalb nennt ihn auch die Heldensage Dietrich von Bern (= Verona).

Um die Einwohner Italiens zu gewinnen, mußte sich Theoderich I. als Römerkönig geben, er umgab sich mit römischen Räten, vornehmlich gelehrten, wie dem Philosophen Boëthius, dessen Büchlein »Über den Trost der Philosophie« zu den meistgelesenen Büchern des Mittelalters zählt; sein Privatsekretär war der universalgebildete Literat Cassiodor, der eine Gotengeschichte schrieb, die in Auszügen erhalten ist. In dem Bestreben, sich selbst zu kultivieren, näherte sich der Häretiker Theoderich I. der römischen Aristokratie sowie der Kirche und dem Papst. Noch intensiver als Chlodwig regierte er Italien in den Formen römischer Staatsverwaltung und nach römischem Gesetz. Ganz im alten Stil der römischen Kaiser zog er Mitte Mai 500 in der Stadt Rom ein, ließ sich von den Senatoren in feierlichen Ansprachen begrüßen und hielt im Circus Maximus Spiele ab. Selbst der Papst zog ihm entgegen, und der Arianer Theoderich I. kniete am Petersgrab nieder. In einer Ansprache feierte er auf dem Forum Romanum begeistert die Ruhmestaten der Heiligen. Sodann übertrug er einem Baumeister die Denkmalpflege.

Ravenna, das Theoderich I. großzügig erweiterte, sollte zur Rivalin von Konstantinopel werden; in Italien sollte der Wohlstand wieder einkehren. Dazu mußten die Bewässerungsanlagen wiederhergestellt, die Campagna getrocknet, die verfallenen Bergwerke wieder in Gang gesetzt, Handel und Verkehr neu belebt werden. Es schien, als setze eine Renaissance der Antike, ihres geistigen und künstlerischen Erbes, ein. Theoderich I. verbrauchte sich an diesem Werk; aber seine Absicht überdauerte als Leitbild seinen Tod, sie blieb im Gedächtnis der Nachwelt. Seine Politik scheiterte an einer Fehleinschätzung Ostroms. Deshalb wurde Italien für achtzehn Jahre zum Schauplatz eines harten Krieges, als 535 der große Kaiser Justinian (527– 565) seine Wiedereroberung einleitete. Unter ihren Königen Vitigis, Totila, einer bedeutenden Gestalt mit großer Seele, und Teja leisteten die Goten verbissenen Widerstand, bis sie im Frühjahr 553 bei Neapel endgültig kapitulieren mußten. Verona und Brescia hielten sich noch zehn Jahre, aber das Volk verschwand aus der Geschichte. Die Byzantiner rissen Theoderichs I. Leichnam aus seinem Grabe in Ravenna, das seitdem leersteht, und zerstreuten seine Gebeine. Sein Bild aber verschwand nicht aus dem Gedächtnis der Menschen. Es war eine große Geste, daß Karl der Große, der fränkische Nachfolger Konstantins und des Augustus, sich aus Ravenna das Reiterstandbild des germanischen »Römerkönigs« Theoderich holte und inmitten des Haupthofes seiner Pfalz in Aachen aufstellen ließ. Er hat damit bekundet, daß Theoderich einen Anfang gesetzt habe in der Übertragung des Reiches an die Germanen, an die Franken, und zwar im Kernland Italien.

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