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Odoaker, König der »Barbarenvölker«
ОглавлениеDer Skire Odoaker wurde zum eigentlichen Vollstrecker des geschichtlichen Schicksals an Rom. Dieser Sohn des Königs Edeka trat nach Attilas Tod in die Westarmee ein. Ein Wikingerleben führte ihn mit Herulern auf Piratenfahrt in das Mittelmeer, mit sächsischen Seeräubern in den Atlantik von Gibraltar bis Nordengland, loireaufwärts bis Angers in Gallien, das er plünderte. Der Beutezüge müde, ging er auf dem Balkan wieder an Land. Zwischen Wiener Wald, Salzach und Inn (Provinzen Pannonien und Ufernoricum) wirkte damals der Eremit Severin, den Odoaker um Rat fragte, bevor er 470/471 seine Dienste in Italien anbieten wollte. Severin starb 482; er war der Prototyp eines defensor civitatis, eines Verteidigers von Stadt und Staat, in dem sich die nahe Verschmelzung von Römern und Germanen, von kirchlicher und weltlicher Herrschaft ankündigte.
Odoaker gab 488 den Befehl, die römische Bevölkerung aus den gefährdeten Donauprovinzen nach Italien zurückzuführen. Als »Flüchtlingskommissar« hatte der Heilige dort den letzten Widerstand organisiert. Severins Schüler nahmen beim Rückzug die Leiche ihres Meisters mit und übergaben sie in Lucullanum bei Neapel der geweihten Erde eines Klosters. Dessen Abt Eugippius hat in einer Biographie Severins das eindrucksvollste Zeugnis des Zusammenbruchs der Römerherrschaft in den Donauländern und zugleich des Wirkens großer geistlicher Führer niedergeschrieben, die aus Pflichtbewußtsein und unter dem Gebot der Stunde höchste Verantwortung für ihre leidenden Mitmenschen übernahmen.
Die Donaulinie war härtestem Druck der Germanen und der Asiaten ausgesetzt, mehr als der Rhein. Aufgegeben von der Reichsverwaltung und ohne den Schutz eines Reichsheeres waren Dörfer und Städte Pannoniens, Ufernoricums und des östlichen Rätiens (Westungarn, Nieder- und Oberösterreich und Ostbayern bis zum Inn) sich selbst überlassen.
Die obere Donau konnte sich länger als die untere Donau halten, da dort als eine Macht der Bewahrung die kirchliche Organisation bestehen blieb. Auf den Trümmern des Westreiches übten nur noch Barbaren und initiativfreudige Kirchenmänner wirkliche Macht aus.
Odoaker ließ sich für die Armee in Ligurien anwerben, wo Orestes, ein halbbarbarischer Provinziale aus Pettau an der Drau Provinzstatthalter war; Orestes richtete seine Loyalität immer nach dem politischen Wind; am Hunnenhofe Attilas war er Barbar, im römischen Pannonien gab er sich als Römer, ein Bürokrat reinsten Wassers, der überall und so lange diente, als es Vorteil brachte und gefahrlos war. In seiner Leibgarde verhielt sich Odoaker als Lanzenträger so lange loyal, bis dieser seinen graziösen Sohn Romulus Augustulus zum Kaiser ausrufen ließ.
Die ligurischen Truppen, die sich aus Herulern, Franken, Burgundern, Alanen und Skiren zusammensetzten, traten in den Aufstand, da man ihnen kein Siedelland versprach, riefen 476 Odoaker zum König aus und töteten den widerstrebenden Orestes. Der Skire wies dem schönen Romulus Lucullanum als Zwangsaufenthalt an, wo er sich den Tafelfreuden ergeben durfte. Nach der kurzen, blutigen Revolte war Odoaker Herr in Ravenna, Rom und in Italien.
Außerhalb der Apenninenhalbinsel gab es kein römisches Reich mehr, und deshalb war es auch für Odoaker sinnlos geworden, sich zum Imperator Augustus = Kaiser ausrufen zu lassen; er hatte auch kein Reichsvolk, da ihn Söldner, kein Reichsheer auf den Schild erhoben hatten. Als Königssohn wollte er König sein und nannte sich rex gentium (= König der [Barbaren-]völker). Als Militärdiktator suchte er Ruhe und Ordnung herzustellen und ließ in legaler Form seinen Soldaten Land anweisen. Seine Absicht war es, vom rechtsmäßigen Kaiser in Ostrom in seinem Königsamt legal investiert, eingeführt und bestätigt zu werden. An Kaiser Zeno übersandte er die kaiserlichen Insignien und anerkannte ihn damit als Oberherrscher, den er bitten ließ, ihm den höchsten Amtstitel des Patricius zu übertragen. Da der Kaiser zögerte, legte sich Odoaker den Titel selbst bei und übernahm die Regierung Italiens im Namen des Kaisers Zeno.
Damit war das Westreich endgültig erloschen. Odoaker wollte ganz Römer sein und als solcher anerkannt werden. Er richtete in der Kaiserpfalz zu Ravenna eine kaiserliche Regierung mit allen Ämtern ein, umgab sich mit einem Rat, pflegte die Zusammenarbeit mit der römischen Aristokratie und stärkte damit seine Autorität; auch vermied er jeden Zusammenstoß mit der Kirche, obwohl er selbst Arianer war. Sein Ziel war die Wiederherstellung der Macht in Italien; deshalb kaufte er von Geiserich die Kornkammer Sizilien zurück. Als die Gallia Narbonensis sich gegen ihn erhob und Kaiser Zeno sie dem Westgotenreich von Toulouse übergab, besetzte Odoaker zur Vergeltung Dalmatien, das bis dahin eine stete Bedrohung Italiens gewesen war. Als er aber bis Noricum vorstieß, witterte Ostrom Gefahr.
Deshalb mobilisierte es gegen den ketzerischen Barbarenherrscher den Ostgoten Theoderich, der auf diese Stunde gewartet hatte. Der Heerkönig eines mächtigen Volkes, der auf das mythische Königsheil einer Amaler-Sippe pochte, verachtete den kleinen Skiren, der ihn am Isonzo besiegte, sich nach Ravenna zurückzog, erneut zum Schlage vor Pavia ausholte und sich wieder in der Kaiserstadt einschloß. Dort wurde Odoaker 493 bei einer Konferenz von Theoderich getötet und seine Familie ausgerottet.
Auf dem Wege der Gewalt wurden die Germanen Erben der Römer. Odoaker setzte an, Theoderich machte einen ersten Versuch, aber erst Karl dem Großen gelang ein neuer Wurf. Um 480 war nicht nur das Imperium, sondern auch die imperiale Würde im Westen erloschen.
Italien war am Ende des 5. Jahrhunderts durch Invasionen, Hungersnöte und Pestepidemien erschöpft; das Land blieb unbestellt, die Bauernhöfe verödeten, viele Städte (Modena, Bologna, Piacenza) waren menschenleer; Norditalien hatte besonders stark gelitten. Aber auch Roms Bevölkerung war in hundert Jahren von eineinhalb Millionen auf dreihunderttausend Einwohner zurückgegangen. Die Einwohner der Campagna um Rom hatten sich hinter sichere Stadtmauern geflüchtet, jedoch auch der Umfang der Städte schrumpfte ein, um sie besser befestigen und verteidigen zu können. Theater, Basiliken, Tempel wurden zu Steinbrüchen. Selbst nach der Plünderung von 455 durch Geiserich war Rom noch wohlhabend; ja Rom und andere Städte Italiens konnten sich unter Theoderich und den Langobarden sogar wieder erholen.
Um 470 herrschte trotzdem allgemeine Armut in Stadt und Land, bei Senatoren und Proletariern. Zynismus, Kinderlosigkeit, Feigheit, Lebensangst beherrschten die Menschen; Unfähigkeit zum Herrschen, Egoismus, Bestechlichkeit kennzeichneten das politische Leben. Die Ostgoten hatten Italien erobert, die Wandalen Afrika, die Westgoten Spanien, die Angeln und Sachsen Britannien, die Franken Gallien. Mit dem Erlöschen des Reiches schrumpften Handel und Verkehr ein, das Wirtschaftsleben bildete sich zurück; Ackerbau, Viehzucht, Jagd, Krieg beherrschten das Feld. Die antike Stadtkultur und Urbanität erloschen oder wurden so bedeutsam gemindert, daß die mittelalterliche Stadt daran nicht anknüpfen konnte, sondern einen Neuanfang darstellt.
Neue Völker entstanden durch neue Mischung. Italien, Gallien, Spanien nahmen starke germanische, der Balkan und Pannonien asiatische Elemente auf. Der Lebensstandard des Menschen sank auf niedrigstes Niveau herab, neue, primitive Lebensformen setzten sich durch. Der Rechtsschutz durch das Gesetz eines hochentwickelten Staates wich der Gewaltherrschaft und Autorität des starken Individuums; die Gewalt wurde zum legitimen Mittel der Politik und Verwaltung. Veraltete und hohlgewordene Lebens- und Kulturformen gingen unter. Der Boden war für einen Neubeginn bereitet. Aus dem erlöschenden Römerreich im Westen erwuchsen die Keime für die romanisch-germanischen Staaten, für die Kulturwelt einer archaischen, mittelalterlichen Gesellschaft.