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Das Vermächtnis der Antike
ОглавлениеRom hat das Mittelmeer und seine Randzonen erobert, dessen Kultur angenommen, Friede und Ordnung dort garantiert für zweihundert Jahre und die Barbaren für weitere zwei Jahrhunderte von seinen Grenzen ferngehalten; dann gab es seine Kultur an den Westen weiter. Es schuf das Modell eines Staates und Reiches, in dem Exekutive und Legislative bereits geteilt waren, in dem zeitweise sogar eine funktionierende Verbindung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie gelang. Rom entwickelte auch einen Idealtypus der bürgerlichen Stadt mit Selbstverwaltung, der aber mit dem Neuansatz der europäischen Stadt im Mittelalter ganz wenig gemein hat. Die Pax Romana, Inbegriff von Wohlstand, Zivilisation und Frieden, ruhte auf dem Grund von Duldsamkeit und Gerechtigkeit; sie war das Herzstück einer hellenistisch-römischen Reichs- und Weltkultur. Rom gab dem Mittelalter seine Sprache, das Latein, das als heilige Kultsprache der Kirche und als Gelehrtensprache zum Gefäß europäischer Geistigkeit und Seele bis in das 13. Jahrhundert wurde. Indem sich Roms Sprache vulgarisierte, wurde sie zum nationalen Idiom Italiens, Rumäniens, Frankreichs, Spaniens, Portugals, Lateinamerikas. Heute spricht die Hälfte der weißen Welt eine lateinische Mundart; Latein blieb die Sprache der Gelehrten bis in das 18. Jahrhundert; Botanik, Zoologie, Medizin gewannen von da ihre internationale Terminologie.
Die siegreiche Kirche übernahm das kirchliche Gefüge des Heidentums, die Tempel und viele Formen, sie schmolz antike Vorstellungen in ihr Denken ein. Das Papsttum übernahm von dem absterbenden Kaisertum den Apparat und die Kunst des Regierens; die Macht des Wortes ersetzte den Schlag des Schwertes. In geistlicher Form erkannten christliche Provinzen Roms Oberherrschaft an.
Für den Aufstieg des Mittelalters wurde es entscheidend – auch das gehörte zum Erbe der Antike –, daß das römische Weltreich endgültig seit 395 in eine West- und Osthälfte politisch zerfiel, daß das Ostreich sich aber am Leben hielt, während das Westreich 476 zu Ende ging und damit führerlos wurde, daß auch innerhalb der Reichskirche sich geistig und politisch immer größere Verschiedenheiten auftaten. Konstantin hatte bei seinem Tode 337 das Reich unter seinen Söhnen geteilt und damit die getrennten Wege von Ost und West eingeleitet. Im Inneren der Kirche herrschte wilder Streit, besonders im Osten, in dem sich theologische Gegensätze und Machtfragen vermengten; das war vor allem bei Athanasios, dem führenden Kirchenfürsten von Alexandria, der Fall, der 328 – 373 die nikäische Rechtgläubigkeit verfocht.
Alexandria war vor Konstantinopels Aufstieg die führende Stadt und die bedeutendste Kirche des Ostens, ja der mächtigste Bischofsitz der ganzen Reichskirche. Darum ging es in den Auseinandersetzungen des 4. und 5. Jahrhunderts. Den Westen beherrschte die Orthodoxie des Nicaenums, der Osten fand lange keine Ruhe, Zeichen seines dynamischen Glaubens. Die Rechtgläubigkeit setzte sich im Osten erst dann durch, als die alten Kämpfer gestorben wären und die großen Theologen der Zeit, vorab in Syrien und Kleinasien, ihr beitraten. Die in sich gespaltenen Arianer blieben schwach.
Endgültige Ruhe in der Glaubenswelt schuf erst Kaiser Theodosius, ein Westler, der 380 durch Edikt den Glauben an die Dreifaltigkeit für seine Untertanen verordnete; das Nicaenum wurde der offizielle Glaube auch des Ostens, das Christentum Reichsreligion. Ketzer wurden fortan verdammt, der Arianismus verfiel der Ausrottung, obwohl dies nicht leicht war und wohl zwei Menschenalter dauerte. Nur bei den Germanen hielt sich diese Lehre, mit Ausnahme der Franken, und die Langobarden hielten in Oberitalien bis in das 7. Jahrhundert an ihm fest.
Die besonders unter Julian Apostata (361– 363) nochmals aufflackernde nationale, heidnische Reaktion war der Kirche weniger gefährlich als die innerkirchliche Auseinandersetzung mit Sektierern und Ketzern seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts; sie bedrohten immer zugleich die Reichseinheit.
Das Christentum war in der westlichen Reichshälfte lange in der Minderheit – die High-Society im alten Rom hielt besonders standhaft am alten Glauben fest; der Osten war dagegen überwiegend christlich und wurde zum Schauplatz heftiger Massenausschreitungen gegen das Heidentum. Doch langsam wurde auch hier aus der pluralistischen Toleranzgesellschaft des 4. die uniforme, homogene Welt des 5. Jahrhunderts, wandelte sich die heidnische Einheit von Glaube und Kultur in die christliche Einheit gegen Heidentum und Häresie.
Kaiser Justinian konnte dann 529 die gefeierte hohe Schule von Athen, die Heimstatt klassischer griechischer Philosophie und Bildung, die die berühmtesten christlichen Denker des 4. Jahrhunderts gelehrt hatte, schließen, weil in Alexandria und Gaza der neue Typ des christlichen Professors entwickelt worden und ein neuer Bildungsbegriff gewachsen war; zwar bereitete man für die Erziehung des Christen die besten Elemente klassischer Tradition, doch sollten sie nur Christen lehren und in christlichem Rahmen darstellen. Das schuf die christliche Gesellschaft, in der nichts rein weltlich sein kann. Justinians Glaube an das Weiterwirken der klassischen Vergangenheit wurde zum Grundelement der byzantinischen Kultur und der Rolle der orthodoxen Kirche im Reiche von Byzanz. Kontinuität der Vergangenheit in die Gegenwart – Einheit von Glaube und Kultur.
Der Kaiser hatte den Titel eines Oberpriesters des staatlichen Kultes abgelegt (Pontifex maximus), der nun auf die Bischöfe überging. Vom Heidentum erhielten sich die in christlichen Kirchen umgewandelten Tempel, wie jenes Minervaheiligtum auf der Insel Ortygia in Syrakus, der heutige Dom mit seinem eingemauerten antiken Säulenumgang. Der Staat schützte die künstlerisch wertvollen alten Tempel vor dem Bildersturm, nahm ihnen aber die religiöse Würde des lebendigen Kultes. In abgelegenen Landstrichen des Westens wie in Syrien und Kleinasien hielten die Bauern noch so zäh am alten Glauben fest, daß das spätantike Wort für Landbewohner gleichbedeutend mit heidnisch wurde. In den Unterschichten lebten noch viele alte Glaubensinhalte und Kultformen unterschwellig weiter.
Der große Konvertit des Westens, Augustinus, aber gemahnte den Staat immerfort an seine Pflicht, im Notfall die Menschen mit Gewalt zur Kirche zu führen. Als sich das Papsttum des 16. Jahrhunderts gegen die Reformation darauf berief, führte das nicht mehr zur Einheit, sondern zum Verlust derselben.