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Völkerwanderung und römische Kulturwelt (4.– 5. Jahrhundert)

Friedliche Unterwanderung des Reiches

Rom konnte nur mit Mühe die vielen tausend Kilometer seiner Reichsgrenzen verteidigen, hinter denen Völker standen, die auf seinen Zusammenbruch warteten. Mit den Persern sind die Römer nie recht fertig geworden; neben ihnen drängten die Araber, die einmal das halbe Römerreich und ganz Persien erobern sollten. Äthiopier, Libyer, Berber, Numidier und Mauren standen auf afrikanischem Boden zum Sprung ins Reich bereit. Spanien, das Rom fest in seiner Hand glaubte, wurde schon im 5. Jahrhundert germanisch und im 8. mohammedanisch. Gallien, die reiche, wohlgeordnete, nationalbewußte römische Provinz mit einer hohen Blüte lateinischer Literatur stand in hartem Abwehrkampf mit Germanen. Schwache Streitkräfte schützten die Insel Britannien gegen Skoten und Pikten, gegen norwegische und sächsische Seeräuber. Die Goten zogen von Südschweden und vorgelagerten Inseln nach dem Weichselgebiet, als Ostgoten wanderten sie in das Land zwischen Don und Dnjestr (Südrußland), als Westgoten siedelten sie an der Donau. Im Raum zwischen Weichsel, Donau und Rhein saßen und regten sich west- und ostgermanische Stämme, die bald die Nordwestgrenzen des Römerreiches überspülten; aus ihnen wurde mit den Romanen und Slawen die neue Völkerwelt Europas: Thüringer, Burgunder, Angeln, Sachsen, Jüten, Friesen, Gepiden, Quaden, Wandalen, Alemannen, Sueben, Langobarden und nicht zuletzt die Franken.

Wichtiger als die Invasionen und Einbrüche aber wurde die friedliche Unterwanderung des Römerreiches, dessen höherer Lebensstandard die Menschen der geburtsstarken Völker vor den Grenzen anzog; den Germanen war römische Kultur nicht mehr fremd, als sie dessen politisches Erbe antraten, sie lernten früh die Formen einer Herrschaft und Verwaltung nach Gesetzen. Die Stämme wurden von einer adeligen Oberschicht geführt und repräsentiert, die aus ihren Reihen in Notzeiten Heer- oder Sakralkönige kürte. Höhere Kultur reicherte sich an deren Herrschaftszentren an.

Der einzelne Stamm umfaßte viele unfreie Mitglieder. Seine Menschen lebten in einer archaischen Religiosität, sie glaubten an die göttliche Abstammung und das göttliche Heil ihrer Könige und der adeligen Führungsschicht. Dieser »Adel« hatte Sinn und Verständnis für Kunst und Literatur; ja Germanen wie Stilicho und Rikimer, die im römischen Reichsheeresdienst hochkamen, hatten schon ein inneres Verhältnis zur römischen Reichskultur und schrieben ein Latein, das selbst die römische Elite entzückte. Es ist eine bedeutende Feststellung, daß die Goten bereits so zivilisiert und aufnahmefähig waren, daß sie nicht nur die Überlegenheit der römischen Kultur ohne Hemmung anerkannten, sondern sie auch nachzuahmen suchten.

Die Übernahme römischer Kultur setzte bei den Germanen eine durch lange Begegnung und Erfahrung gewachsene Disposition dafür voraus, jedoch auch ein Niveau der römischen Zivilisation, das man bequem aufnehmen konnte. Das ist und war der Weg einer wesensverwandelnden, schöpferischen Kulturübernahme und Einschmelzung ohne Gewalt; indem die Führungsschichten Inhalte und Formen der Fremdkultur übernahmen, wurden sie auch beispiel- und tonangebend für die Unterschichten. Die römischen Kaiser hatten entlang der Grenze südlich der Donau und nördlich der Alpen Germanen angesiedelt oder aufgenommen. Am Ende des 4. Jahrhunderts waren Balkan und Ostgallien bereits überwiegend germanisch, desgleichen die römische Armee. In vielen hohen zivilen und militärischen Kommandostellen saßen bereits Germanen. So versteht man, daß sich nicht nur die Germanen romanisierten, sondern die Römer selbst barbarisierten.

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