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Das Weltbild des Mittelalters
ОглавлениеDie Überlegung über den Europabegriff des Mittelalters, der sich mit dem modernen vielfach nicht zur Deckung bringen läßt, hat bereits viele Elemente des Mittelalterbegriffes aufgezeigt, der noch einer Klärung bedarf. Da dieser eine wissenschaftliche Konstruktion der Epochenbildung ist und ihn die östliche Geschichtsschreibung in soziologisch-idealtypische Einteilungsschemata aufgelöst und ersetzt hat, da die vernunftstolze Moderne das Mittelalter mit dem Makel der Finsternis und des Dunkels behaftete und eine europäische Geschichtsschreibung sich mit diesem Begriff nicht ganz leicht, eine Weltgeschichtsschreibung aber schon schwer tut, muß man heute vorweg sagen, was man unter Mittelalter versteht.
Man kann weder seinen Anfang noch sein Ende chronologisch genau fixieren. Es gibt sehr gute Gründe dafür, das »Mittelalter« als eine Form der Gesellschaft und Kultur erst mit dem Sieg der Aufklärung im 18. Jahrhundert auslaufen zu lassen; denn erst der Rationalismus, der Absolutismus und die Anfänge des industriellen Zeitalters haben die Grundstrukturen des Lebens der europäischen Völker, die »altständische Gesellschaft« aufgelöst, deren Wurzeln in den Anfängen des Mittelalters stecken. Wer etwa das Mittelalter mit dem Zerfall der kirchlichen Einheit in christliche Konfessionen beenden möchte, muß immerhin feststellen, daß die Reformation eine Intensivierung des religiösen Lebens und Erlebnisses brachte und dem Staat neue religiöse Aufgaben stellte, damit die Trennung von geistlichem und weltlichem Bereich sogar in den katholischen Staaten wieder überwindend (Staatskirchentum); er muß auch feststellen, daß erst mit der Aufklärung eine Säkularisierung des Geistes einsetzte, die das Religiöse als bestimmende Kraft des öffentlichen Lebens außer Kraft zu setzen begann.
Niemand kann heute mehr das Wort »Mittelalter« nur als Epochenbezeichnung chronologischen Charakters für die Zeit etwa von 568 bis 1500 verwenden. Bezeichnet man damit aber besondere historische Formen des Menschseins, des Lebens und Denkens, eine eigene Struktur der Gesellschaft und einen individuellen Abschnitt unserer gewordenen Kultur, dann ist es sehr schwer zu sagen, wann die Antike geendet und das Mittelalter begonnen hat.
Es gibt gute Gründe, im 7. Jahrhundert den eigentlichen Anfang des Mittelalters als Gesellschaft und Kultur zu sehen, weil hier sich erstmalig neue Schichten zeigen, die führend werden, und das Restgut der Antike weitgehend verschwindet. Doch ist es ebenso gerechtfertigt, mit Chlodwig († 511) einzusetzen, der ein neues fränkisches Reich der Eroberung errichtet und zu seinem Auf- und Ausbau sich des vorhandenen Restes an Staats- und Kultureinrichtungen der Alten Welt bedient. Wer aber kann dem widersprechen, der mit Diokletian (284 – 305) die eigentliche Antike beendet und mit dem Toleranzedikt Kaiser Konstantins (313) den Anfang einer Übergangsperiode zum Mittelalter setzt, die im 6. Jahrhundert ausläuft. Zwei Erscheinungen kennzeichnen diese Epoche vor allem, die innere Auflösung von Staat und Gesellschaft und deshalb das enge Bündnis von Reich und institutionalisierter Kirche und dann das allmähliche Zurücktreten der Laien im geistigkulturellen Leben, vor allem der Verlust einer literarischen Laienkultur, der parallel läuft einem Einschrumpfen der Schriftlichkeit des Rechtsverkehrs und des geprägten »Geldvolumens«.
Wer ein Weltbild des europäischen Mittelalters zu zeichnen unternimmt und den Begriff »Welt« nicht nur geistig, sondern auch geographisch, wirtschaftlich, im ganzen gesehen strukturell sieht, kann nicht darauf verzichten, auch die Umwelt zu sehen, mit der menschliche, politische, geistige Kontakte von einem Ausmaß bestanden, daß man von Kulturströmen reden muß. Deshalb wird in einem Weltbild des europäischen Mittelalters Byzanz nicht nur eine Rolle spielen, weil sein Machtbereich sich auch auf den Balkan erstreckte, und wird die Welt des Islam nicht nur bei der Abwandlung der Kreuzzüge zu streifen sein. Es gibt keinen Aufbruch der europäischen Vernunft in der Scholastik ohne den von Arabern und Juden vermittelten Aristoteles, keinen Anfang der Naturwissenschaft ohne die Muselmanen, keinen Handel und Wandel im Mittelmeer und Osteuropa ohne Byzanz und die Muselmanen. In ein Weltbild des Mittelalters gehören schließlich auch die Slawen, und zwar nicht nur weil der hier zugrundeliegende Europa begriff auch deren Staaten- und Völkerwelt umfaßt, sondern weil auch ihre Kultur, besonders soweit sie in den westlich-christlichen Kreis eingegliedert ist (Ostmitteleuropa), zur ganzen Kulturbewegung Europas zählt.
Wenn in diesem Buch das Mittelalter etwa um 1500 mit der Entdeckung der Neuen Welt und der Aufgliederung des kirchlichen Christentums in Konfessionen traditionell beendet wird, so ist das aus oben angedeuteten Erwägungen nur relativ zu verstehen; der Verfasser neigt an sich dazu, die mittelalterliche Welt im 18. Jahrhundert auslaufen zu lassen, übersieht aber nicht im vorreformatorischen 15. Jahrhundert tiefe Einschnitte des geschichtlichen Ablaufs.
Grundsätzlich wird Mittelalter hier als eine Form von Gesellschaft und Kultur verstanden, die eine archaische, eine aufgeklärte und eine kritische Phase hat. Der politische Ablauf ist nur Rahmen; man wird vieles nicht oder anders lesen, als es in den altvertrauten Büchern steht. Niemand aber wird Europa selbst in der Gegenwart verstehen, der nicht seine mittelalterlichen Grundlagen kennt.
Im Sommer 1970
Karl Bosl (1908 –1993)