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Niedergang des Römerreiches im 4. Jahrhundert

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Das Römerreich ging an seiner Größe zugrunde, weil es seine Gesellschaft nicht mehr mit Leben erfüllen konnte. Aus der Not der Zeit und der Anfälligkeit des Reiches nach innen und außen erwuchs der Zwangsstaat, der persönliche Freiheit, aber auch schöpferische Kraft hemmte oder tötete. Immer kleiner wurde der Kreis der Menschen, die noch in Freiheit, Anmut und Würde leben und sich der geistigen Bildung, Literatur und Kunst hingeben konnten. Je mehr die Werte der Bildung ihre Wirkung verloren, um so stärker wurden Form und Wort zur leeren Hülle, die, durch Tradition zwar geheiligt, den Zusammenhang mit den geistigen Nöten der spätantiken Menschen verlor.

Der griechische Osten war im 4. Jahrhundert noch lebendiger und kraftvoller als der lateinische Westen, in dem die geistige Regsamkeit in breiten Volksschichten erstarb. Die Folge war, daß der personale Mensch, auf der Suche nach neuen Gehalten alter Form, nur noch in der Religion Zuflucht und Anregung fand. Deren große Stunde kam jetzt; denn der Bund des kaiserlichen Zwangsstaates mit der christlichen Religion gab den Priestern eine neue Funktion in einer Reichskirche, die nach dem Absterben des Staates im Westen die Reste der alten Formen mit neuem Inhalt und neuer Zielsetzung an neue oder verwandelte Herren, Menschen, Völker als Erbe und Bausteine für eine neue Welt weitergab. Freiheit flüchtete sich in Religion, wo allein noch Freiheit in der Verehrung dessen bestätigt werden konnte, was man sich kraft eigener Entscheidung erkor. Ein ähnlicher Vorgang wie nach dem Sieg der Goldenen Horde in Rußland, die das Leben der Menschen so knechtete und verelendete, daß ihnen allein Kirche und Religion als Freistatt des Fühlens und Denkens blieb! Die Folge waren reichste Schenkungen an sie und letztlich sogar die Anerkennung der Gewaltherren.

In Vollendung der Staatsformen Diokletians überwand Konstantin das Chaos durch absolute Monarchie und theokratischen Zwangsstaat und schuf damit Voraussetzungen dafür, daß das Reich des Westens sich noch 150 Jahre am Leben erhalten konnte. Dieser Zeitgewinn aber steht an weitreichender Wirkung in keinem Vergleich mit seiner anderen Tat, die das alte Reich mit dem neuen Leben einer jungen Religion und Ethik erfüllte; denn dadurch wurde das Christentum nicht nur Kirche, sondern auch Staat, und deswegen ist wohl das mittelalterliche Europa bis zum 18. Jahrhundert christlich gewesen und europäische Kultur christlich erfüllt worden.

Der Niedergang Roms ist ein vielschichtiger Prozeß aus vielerlei Ursachen. Der Wandel seines Volksbestandes und seiner Ethik, das Schrumpfen des Handels, der bürokratische Despotismus, die lähmenden Steuern und vernichtende Kriege sind Hauptursachen der Umschichtung und des Verfalls. Man muß weiter an die Barbareninvasionen, an das Absinken der Edelmetallzufuhr nach Rom infolge jahrhundertelangen Abbaus der Vorkommen, an Einschrumpfung des Bauernstandes, an Verwaltungschaos besonders in Mittel- und Süditalien denken, wo Entwaldung, Erosion, Zusammenbruch des Bewässerungssystems schlimmste Folgen zeitigten. Das Nachlassen der agrarischen Produktion und Bodenkultur ist aber nicht auf Erschöpfung der Erde oder Klimawechsel, sondern auf das Nachlassen der Arbeitsmoral und die sinkende Kinderzahl entmutigter Menschen zurückzuführen. Menschenmangel und Entvölkerung ganzer Landstriche in Ost und West verursachten Masseneinfuhr und -ansiedlung von Barbaren und Orientalen; Freie und Sklaven nahmen zahlenmäßig ab. Pest, Revolutionen, Kriege, Geburtenbeschränkung auch im Proletariat und sogar beim gallischen Bauerntum dezimierten die Bevölkerung. Moskitos und Malaria in Latium und in der Toskana forderten weitere Verluste an Menschenleben.

Das römische Weltreich wurde von innen her besonders im Westen barbarisiert; man sprach von einem »Inneren Proletariat«. Während sich Italien orientalisierte und die geistig überlegenen, körperlich unterlegenen Orientalen die Kultur zersetzten, assimilierten sich die Germanen Norditaliens und im Heer sehr schwer und blieben körperlich und sittlich unberührt und überlegen. Wenn auch das Christentum an dem chaotischen Religionswirrwarr Roms beteiligt war, ist sein Aufstieg doch eine Folge von Roms Zerfall. Nicht christliche Hoffnung auf das Jenseits oder christliche Ethik der Friedensliebe und Widerstandslosigkeit, sondern die unsoziale, das heißt profeudale Haltung des Staates vor allem in der Besteuerung und der Privilegisierung der Oberschichten, zerstörten das Vertrauen in seine Gerechtigkeit und Funktion. Diesen Mangel an Kredit konnte er nur wettmachen, indem er zum mildtätigen Versorgungsstaat wurde. Die Religion sollte in diesem »Jammertal« Trost spenden und die Menschenwürde erhalten. So kam es, daß das Christentum die Seele, die Germanen vor allem der Leib der auslaufenden und der neuen Gesellschaft und Kultur wurden.

Dem Wandel der Volkssubstanz und der gestörten sozialen Ordnung traten gefährliche Symptome wirtschaftlicher Auflösung zur Seite. Das auf Rom zentralisierte Wirtschaftssystem brach zusammen, Handel und Verkehr gingen zurück, die Provinzmärkte gingen an provinziale Konkurrenten verloren, die Provinzen erstarkten und wurden immer selbständiger.

Mit der Wirtschaft verlagerte sich auch das militärische und politische Schwergewicht in die Provinzen. Provinzgeneräle rivalisierten um das Kaisertum; Roms Heere wurden zu Provinz- und Barbarenarmeen, die nicht mehr für Heimat und Götter kämpften, sondern um Geld, Sold, Beute. Die Söldner aus Bauernstand und Arbeiterklasse ließen in ihrem sozialen Haß den fremdländischen Eindringlingen nur noch wenig zur Zerstörung übrig. Die Residenzen wurden in die an Bedeutung zunehmenden Grenzgebiete verlegt. Die Vielzahl dieser Hauptstädte und Hand in Hand damit die Aufsplitterung der Gewalten machte eine zentrale Regierung und Verteidigung des Reiches zunichte und leitete seine Auflösung ein. Da Gallien und Britannien sich der Germanen- und Schotteninvasionen selbst erwehren mußten, gewannen Feldherren mit unumschränkter Macht dort die Oberhand, während Spanien und Afrika den Barbaren kaum Widerstand leisteten.

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