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Das Ende des Westreiches
ОглавлениеZur selben Stunde, da Geiserich auf dem Höhepunkt seiner Macht nach der Ewigen Stadt griff, pochten auch die Hunnen an Italiens Tore. Der Mösier Aëtius (s. u.), der als Geisel und seit 432 als Emigrant bei ihnen gelebt hatte, konnte sich auf ihren Beistand stützen und die Macht in Westrom an sich reißen. Zum Dank wies er ihnen als Gästen des Imperiums Westungarn (Pannonien) als Siedelland an. Solange der östliche Balkan und Kleinasien den plündernden Horden dieses Reitervolkes noch etwas zu bieten vermochten und der Kaiserhof zu Byzanz in der Form der Subsidien schmachvolle Tribute zahlen konnte, war das Verhältnis zu ihnen gut.
Doch als aus Byzanz nichts mehr herauszupressen war, wandte sich der schlaue und leidenschaftliche Hunnenheerkönig Attila nach dem Westen und stieß quer über die Mittelzone Europas bis an die Küsten des Atlantiks vor. Sein Hof wurde zum Asyl aller Feinde des Westreiches, das ist Ravenna, und auch die Germanen suchten seinen Schutz. Aëtius trat Attilas Ansprüchen auf die Hälfte des Westreiches kraftvoll entgegen. Und als darauf 451 der Hunnensturm mit einem großenteils germanischen Heer (Gepiden, Ostgoten, Rugier, Skiren, Heruler, Sueben, Thüringer, Burgunder, Franken) über Gallien hereinbrach, da trat ihm der weströmische Generalissimus ebenfalls mit einem germanischen Heer von Burgundern (Sapaudia), Franken (Anführer vielleicht Merowech), Alanen, Sachsen, Sarmaten, Armorikanern entgegen, die er zum größten Teil aus in Gallien bereits ansässigen Stammesangehörigen ausgehoben hatte. Vermutlich bei Troyes (gewöhnlich spricht man von den Katalaunischen Feldern, die aber bei Châlons liegen) besiegte er (451) den Hunnenkönig, wobei die Westgoten sich hervorgetan haben sollen, und ließ ihm den Rückzug offen. Aëtius, Prototyp eines sich germanisierenden Reiches, trieb die Politik eines Barbarenführers im gleichen Geiste; er endete auch wie ein Barbarenführer durch Mord, den ein Römer verübte. Der Sieg von Troyes aber verlieh ihm bis heute den Nimbus des Verteidigers Galliens und eines Retters Europas. Wäre Gallien verloren gewesen, wäre jedenfalls jetzt schon das Imperium zusammengebrochen.
Attila fiel nach seiner Niederlage in Italien ein und zerstörte dabei die Grenzmetropole Aquileja so gründlich, daß sie sich nicht mehr erholte. Verona und Vicenza kamen besser weg, und Pavia sowie Mailand kauften sich mit ihrem ganzen beweglichen Vermögen los; der Weg nach Rom lag dem Eroberer offen. Aëtius vermochte keinen Widerstand aufzubauen. Da Attila am Po zu lange verharrte, konnte der unfähige Kaiser Valentinian III. aus Rom eine Gesandtschaft des Papstes Leo I. und zweier Senatoren an ihn abordnen, die den Hunnenkönig zum Rückzug bewogen.
Es ist ein Symptom dieser Zeit, daß in höchster Not und Unsicherheit die Bischöfe immer stärker in den Städten die Verantwortung für die Verteidigung, Ernährung und Ordnung übernahmen. Diese Übernahme politisch-verantwortlicher Führung hat die Verselbständigung der Kirche des Westens in den Zeiten des Niedergangs gefördert. Durch ihre selbständige Initiative wuchs sie aus einer dienenden Rolle dem Reiche gegenüber in eine herrschende, mindestens in eine Teilhabe an der Herrschaft hinein. Deshalb fand sich der römische Bischof nach dem Untergang des Westreiches zum Teil in die Stellvertretungsrolle des Westkaisers hinein, auch wenn Byzanz in Ravenna noch einen Brückenkopf hielt und im griechischen Unteritalien seine Herrschaft aufrechterhielt. Deshalb entwickelte sich auch auf Grund solcher Vorbedingungen seit Leo I. (450) eine politische Theorie des Papsttums, die Gelasius I. in seiner Zweischwerterlehre niedergelegt und konzipiert hat.
Attila führte seine Streitmacht in die ungarische Tiefebene zurück und starb plötzlich (453), bevor er ein zweites Mal auf der Apenninenhalbinsel einfallen konnte. Seine unfähigen Söhne teilten das mächtige Reich, das in wenigen Jahren auseinanderbrach und sich auflöste, bevor allen Griechen und Römern, Germanen und Galliern recht zu Bewußtsein gekommen war, welche Gefahr ihnen gedroht hatte.
Selbst ein so fähiger Mann wie Aëtius konnte das blutleer gewordene Reich nicht mehr am Leben erhalten; es schrumpfte auf Italien ein, da Aëtius den Wandalen Mauretanien und Numidien abtreten, die Sueben in Andalusien einmarschieren, die Unabhängigkeit der Westgotenherrschaft in Aquitanien anerkennen, die Alanen in Valence und Orléans, die Burgunder in der Sapaudia (Savoyen), die salischen Franken in Tournai und die Sachsen in Britannien sich festsetzen lassen mußte.
Aëtius war gezwungen, das Westreich zu liquidieren. Er fiel in Ungnade, weil ihm die militärische Macht und das Geld fehlte, um Attila von der Apenninenhalbinsel fernzuhalten. Aëtius verlor alles Prestige, und das Westreich befand sich nach Attilas Tod in einem Zustand der Erschöpfung. Der unfähige Kaiser Valentinian III. tötete den Heermeister in seinem Palast 454 mit eigener Hand. Mit Valentinian endete ein Jahr später die Dynastie des Theodosius, in Wirklichkeit aber erlosch damit auch das Reich.
Fortan waren Barbarenführer die einzigen Herren, die nicht einmal mehr den Kaiserthron zu besetzen brauchten, da Kaiser sowieso nur noch Werkzeug oder Strohpuppen waren. Ein solcher Herr war der Suebenprinz Rikimer, Enkel des Westgotenkönigs Wallia, Onkel des Burgunderkönigs Gundobad; nach Erfolgen im Kampf gegen die Wandalen auf Korsika und Sizilien wurde ihm das Kommando der mehr germanischen als römischen Armee in Italien übertragen. Dort genoß er in den sechzehn Jahren seines Wirkens mehr Autorität als Stilicho und Aëtius. Er ging den Hofintrigen aus dem Wege und starb 472 eines natürlichen Todes. Während seiner Diktatur (457– 472) setzte er nach Willkür Kaiser ein und ab.
In seiner Hand wurde die Herrschaft germanisch, er regierte mit seiner Gefolgschaft im Westen wie ein Barbarenkönig. Politisches Gewicht hatte ihm gegenüber nur der grundbesitzende Feudaladel, der eine absolute Macht über seine schollegebundenen und zur Leibeigenschaft absinkenden Pachtbauern ausübte und sich selbst mit einer Leibgarde von Getreuen umgab. Doch war diese »Kaste« nicht mehr stark genug, ihr Recht der Kaiserwahl auszuüben. Rikimer, der Suebe, war der letzte Träger der Herrschaft in Italien und Rom; vier Jahre nach seinem Tode war alles zu Ende.