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Der antike und der mittelalterliche Europabegriff
ОглавлениеEuropa wurde von den Phöniziern entdeckt, deren Seefahrten, Piratenzüge, Handelskontore sich über die Säulen des Herkules, die Meerenge von Gibraltar, bis zu den Kanarischen Inseln, zur Bretagne, den Britischen Inseln und der Nordsee erstreckten und ausbreiteten. Die Griechen waren es, die dem Kontinent den Namen der von ihrem Gott den Phöniziern geraubten Prinzessin gaben. Im Drama »Der gefesselte Prometheus« des griechischen Dichters Aischylos beschreibt ein Held den Übergang über den Bosporus mit den Worten: »Du hast den Boden Europas verlassen und stehst von jetzt ab auf dem Kontinent Asien.«
Seitdem reicht für die Geographen der Antike bis Strabon († 19 n. Chr.) Europa von Gibraltar bis zum Schwarzen Meer. Asien-Kleinasien und Europa sind ihrer Entstehung nach zwei Begriffe der Mittelmeerwelt, in der die Wiege der europäischen »Kultur« steht, so wie wir sie heute verstehen. Von dort ist dieser Begriff gewandert und hat sich mit der Ausdehnung der von der Antike und dem Christentum mitgeprägten Kultur gleichsam die ganze Halbinsel am äußersten Rande des asiatischen Kontinents erobert, die heute den Namen Europa trägt.
In der Römerzeit war die Idee eines gemeinsamen Europa, die bei den Griechen Hippokrates (Arzt), Aristoteles (Philosoph), Isokrates (Redner) anklingt, verdrängt vom Römischen Reich, das Orient und Okzident als zwei geographisch und verwaltungsmäßig abgegrenzte Gebiete des nämlichen Staates umschloß. In einer Inschrift, die auf der Insel Phylae in Ägypten gefunden wurde, wird Augustus »Herrscher von Europa und Asien« genannt.
Die Begriffe Orient und Okzident haben im Laufe der Zeiten aber noch mehr geschwankt als das Wort Europa; sie bezeichneten nicht nur Verwaltungshälften des Römerreiches seit der Reichsteilung durch Arcadius und Honorius (395), sondern seit der Trennung Roms von Byzanz auch kirchliche Hälften.
In mystischer Schau werden dem Orient alle geistigen und lichtbringenden Eigenschaften, dem Okzident das Dunkle und Materielle zugelegt. Erst im 2. Jahrhundert n. Chr. nannte der Christenfeind Celsus die Europäer wieder; er sah im Universalismus der Christen den grimmigsten Feind des Nationalismus. Doch erst der Aquitanier (Südwestfrankreich) Sulpicius Severus († 410), der Verfasser der Biographie des größten »europäischen« Heiligen der Frühzeit, des Martin von Tours, wies Europa eine Stelle im »Reiche des Heils« an.
Indem Martin von Tours, der aus Pannonien (Ungarn) stammte, und Vitalis von Ravenna, Ambrosius von Mailand oder die Märtyrer der Thebaischen Legion, die nach einer Reise durch Europa in Agaunum (St. Maurice, Schweiz) um des Glaubens willen hingerichtet wurden, den Mystikern des »Orients« ebenbürtig zur Seite traten und Europa eine neue heilsbetonte Würde gaben, verlor der Okzident seinen schlechten literarischen »Ruf« und wandelte sich zum christlichen Europa.
Name und Begriff Europa tauchen bis zum Reich Karls des Großen immer häufiger in feierlichen Anreden an Päpste, kirchlichen Lobgesängen, Heiligenleben auf. »Blume ganz Europas« nennt der Ire Columban um 600 n. Chr. Papst Gregor den Großen; im 7. Jahrhundert umschreiben die burgundischen Annalen von Avenches die fränkischen Völker und den Kontinent, den Rhein und Donau bewässern, mit dem Namen, und nach Isidor von Sevilla, dem letzten Enzyklopädisten der ausklingenden Antike, zitterten die Völker »Europas« vor den Goten.
Der anonyme Fortsetzer der Chronik Isidors, dessen Text heute die Mozarabische Chronik von 754 heißt, beschreibt die große Araberschlacht Karl Martells bei Poitiers (732) und bezeichnete dabei erstmals die Europäer als kontinentale Gemeinschaft (Europenses) der Völker nördlich der Pyrenäen und der Alpen, die sich gegen einen gemeinsamen Feind verteidigten. An die Stelle eines entwerteten Begriffes »Okzident« trat ein europäisches Bewußtsein, das vor allem durch das Großreich Karls des Großen und seine Eroberungen 768 – 814 ausgeweitet und vertieft wurde.
Der angelsächsische Kirchenhistoriker Beda (673 –735) benannte Gallien, Germanien und Spanien, später auch Italien als Teile Europas, schloß aber die Britischen Inseln und den skandinavischen Norden noch aus. Karl der Große war nach der Eroberung des Langobardenreiches faktisch König von Italien, vorher war er König von Neustrien (Nordwestfrankreich), Aquitanien (Südwestfrankreich) und Austrasien (Nordostfrankreich und Eifelgebiet, Maas- und Moselraum). Sein Reich ging über den alten Limes weit hinaus und überschritt die Pyrenäen, im Westen hatte es seine Grenze am Kanal und an der Nordsee, im Norden an Eider und Schlei. Die Chronisten feierten ihn als »Herren Europas« und setzten Reich und Europa in eins; sein »Weltreich« ruhte auf römisch-antiken, christlichen, imperialistischen und universalistischen Vorstellungen, Ideen, Theorien und Glaubensinhalten. Schon 775 galt Karl der Große als der zum »Ruhme des Reiches Europa« von Gott Erwählte, und am Ende des 8. Jahrhunderts pries ihn der Hofpoet Angilbert als König, Vater Europas.
Dieses Reich, das nicht Europa im geographischen Sinne umfaßte, war im Bewußtsein der führenden Geister der Zeit ein einziges, christliches Reich, das außerhalb Roms und des Römerreiches, dessen Nachfolge es antrat, geschaffen wurde und unter fränkischer, d. h. frankogermanischer Vorherrschaft stand. Es war keine Rede mehr von einem Teil der Alten Welt, die aus Europa, Libyen-Afrika und Asien bestand. Dieses mit dem Reich Karls des Großen identische Europa war ein autonomer Lebensbereich mit eigenem geistigen Gesicht geworden.
In ungezählten Aufrufen und Festkundgebungen kündigte sich ein europäisches Selbstbewußtsein an. Dem gab der größte Geist an Karls Hofe, sein angelsächsischer Hoftheologe Alkuin (735 – 804), Ausdruck, als er Europa den Kontinent des Glaubens nannte, der dem Orient Jesu Christi näherstünde als dem antiken Okzident, der unterbewertet war. Selbstbewußt maß sich der Westen, das neue germanisch-romanische »Europa«, am Mutterland des christlichen Glaubens und der Kultur. Europa war als neue Gesellschaft und Kultur geboren.
Das Königtum Karls des Großen versteht sich deshalb als Davidskönigtum und greift zu seiner geistigen Begründung viel mehr auf das Alte als auf das Neue Testament oder die römische Reichsideologie zurück.
Diesem ersten Aufbruch einer europäischen Idee tut es keinen Abbruch, daß in den Reichsteilungen seines Nachfolgers Ludwig des Frommen das Bild Europas wieder verblaßte und die Königsherrschaft Karls über Europa beim Spanier Theodulf den Reichen Europas Platz machte. Indem sich aber die Idee der Vielfalt begrenzter Königreiche, des weltlichen Staates mit mehreren Reichen entfaltete, wandelte sich die karlische Idee des »Reiches Europa« in die Mittelalterliche Vorstellung der christianitas, der Christenheit des Reiches der Seelen unter geistlicher Führung des römischen Bischofs und unter dem weltlichen Schutz des (deutschen) König-Kaisers.
Karls geistlich und weltlich zugleich geeintes Europa zerfiel in eine Gemeinschaft von Fürsten, an deren hegemonialer Spitze der Römische Kaiser Deutscher Nation stand. Diesem weltlichen Bund setzte das Papsttum seine geistliche Einheit entgegen. Schon 843 rief Papst Gregor IV. »alle Kirchen Europas« gegen das Reich der Byzantiner auf. Das Mittelalter selbst aber lebte vom sehnsüchtigen Traum der karolingischen Vergangenheit, als Kaiser und Päpste die »europäische« Welt mit ihrem Kampf erfüllten. Der Sinn des Wortes »Europa« wurde dabei immer rhetorischer und nahm einen geographischen Inhalt an.
Nur kurz war die Idee eines »europäischen Volkes« nach Kaiser Otto III. aufgelebt, der römischer »Imperator« sein wollte. Als der sächsische Kaiser Heinrich II. (1002 –1024) Italien 1022 eiligst verließ, da begleiteten ihn nur jene, die »Mutter Europa« ihm zu Hilfe geschickt hatte. Auf seinem Sternenmantel wurden die Worte eingestickt: »Heiliger Kaiser Heinrich Du, Zier Europas, der Herr des ewigen Reiches möge Dir gewogen sein.« Ein rheinischer Dichter brach bei seinem Tode in die Klage aus: »Es beweine ihn das enthauptete Europa.« Das folgende Mittelalter hatte ein europäisches Bewußtsein. Erst Mongolen- und Türkengefahr weckten wieder die Ideen Europas und der Christenheit.