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ОглавлениеVorwort des Herausgebers
Es war in den frühen Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als mir Name und Leistung des Historikers Karl Bosl (1908 –1993) erstmals nahegebracht wurden. Im Anschluß an eine gemeinsame Arbeit bei der Redaktion unserer Fachzeitschrift Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung kam mein Lehrer und Chef Heinrich von Fichtenau (1912 – 2000) aus einem mir nicht erinnerlichen Anlaß auf die seiner Meinung nach bedeutendsten Vertreter des Fachs zu sprechen. Fichtenau – selbst ein Mediävist von europäischem Ansehen – nannte neben Georges Duby (1919 –1996) drei deutsche Gelehrte: unter den älteren Percy Ernst Schramm (1894 –1970), unter den jüngeren Peter Classen (1924 –1980), von seinen engeren Zeitgenossen aber Karl Bosl. Er hob ihn als einen Wissenschaftler hervor, der sich bei regionalgeschichtlichen Themen ebenso souverän erweise wie auf dem Gebiet der Reichsgeschichte. Darüber hinaus zeige er seine Meisterschaft bei Problemen, zu deren Lösung es einer wahrhaft europäischen Fundierung bedürfe. Diese wissenschaftliche Spannweite würde durch eine ebenso imponierende Tätigkeit in Funktionen größerer und kleinerer gelehrter Gesellschaften ergänzt, die auch eine Vortragstätigkeit bedingten, der Bosl unverdrossen nachkomme, gleichgültig ob im Bayerischen Wald (Bosls engerer Heimat) oder in Übersee. Bosl erfülle mit staunenswerter Energie die Aufgaben des Wissenschaftlers als Forscher, Lehrer und Administrator.
Verfassungs- und Sozialgeschichte waren die beiden Säulen, auf denen der dynamische Bayer das Gebäude seiner Forschung errichtete. Hier erbrachte er die größten und innovatorischen Leistungen. Dass er diese beiden Aspekte der Mediävistik aber nicht isoliert sah, sondern sie in ihrer untrennbaren Gemeinschaft erkannte, machte er schon in seiner Habilitationsschrift Die Reichsministerialität der Salier und Staufer (1951) deutlich. Bosls besonderes Talent zeigte sich in der Fähigkeit, mit methodischer Klarheit einzelne Phänomene auf ihre Historizität hin zu befragen, um die dabei erzielten Ergebnisse vor dem Hintergrund eines großen geschichtlichen Horizonts in einem sinnvollen Zusammenhang zu verstehen und zu vermitteln.
Bosl verfügte über die Begabung bildhafter Darstellung. Die geographischen und chronologischen Ausschnitte der mittelalterlichen Geschichte, die er gerade behandelte, verdichteten sich jeweils zum Bild. In seinen großen gesellschaftsgeschichtlichen Werken wurde daraus eine Abfolge von Bildern, die unerhört einprägsam waren, obwohl er auch genug theoretische Diskussion lieferte.
Der klassische Philologe Karl Bosl wiederum hatte nicht nur ein feines Sensorium für die Differenziertheit von Quellenaussagen; er zeigte sich auch hellhörig für eigene Formulierungen und deren stilistische Tragfähigkeit. Daß er dabei zu einer kraftvoll barocken, ornamentalen Ausdrucksweise neigte, entsprach wohl im Sinne des bekannten »Le style, c’est l’homme« seinem Charakter.
Unter diesen Voraussetzungen war es naheliegend, Karl Bosl das Angebot zu unterbreiten, einen Überblick über die mittelalterliche Geschichte Europas zu verfassen. Sein großes Ansehen, das er jenseits des akademischen Bodens durch zahlreiche Radio- und Fernsehsendungen, Zeitungsartikel, Podiumsdiskussionen und populäre Vorträge erworben hatte, ließ einen entsprechenden Absatz bei einer interessierten Leserschaft erwarten. Mit wissenschaftlicher Präzision und darstellerischer Anschaulichkeit sollte der Leser durch den gewaltigen Kosmos des abendländischen Mittelalters geleitet werden. Karl Bosl wußte wohl, daß ein solches Buch ein gewagtes Unternehmen war: auf einem Gerüst politischer Ereignisse sollte die Fülle historischer Aspekte ausgebreitet und sinnvoll angeordnet werden. Überlebtes, Absterbendes und neu Entstehendes mußte deutlich sichtbar sein, obwohl der Lauf der Geschichte kein eindeutiges Neben- und Hintereinander kennt, sondern die Erscheinungen einander überlappen, mit einander ringen, bis sie von wieder Neuem überholt werden, ohne daß das Alte gänzlich getilgt scheint. Das fragwürdige Phänomen des historischen Wandels sollte vermittelt und dabei dem Leser nicht die Schilderung einer sinnlos fließenden Zeit geboten werden.
Karl Bosl bekannte sich zur Sinnstiftung des Historikers. Sich mit der Feststellung scheinbar gut abgesicherter Tatsachen zu begnügen, darin gar den eigentlichen Sinn geisteswissenschaftlicher Forschung zu erblicken, war seine Sache nicht. Ein unverrückbares Bild der Geschichte des europäischen Mittelalters konnte niemand entwerfen, aber das Bewußtsein für deren Vielfalt zu wecken, war möglich. Auch der mit den Quellen und ihrer Interpretation nicht Vertraute sollte lernen, daß die Geschichte Europas – wie sie im Mittelalter grundgelegt worden war – nicht als geradliniger Strom anzusehen ist, der sich aus von Anfang an vorhandenen Elementen speist, sondern als Mäander, der zahllose Zuflüsse aufnimmt: große und kleine, tosende und stille, helle und dunkle aus allen Windrichtungen! Um das zu ermöglichen, griff Bosl über die Vorstellung vom lateinischen Abendland, ja über den geographischen Europabegriff hinaus und trachtete auch jene kulturellen Räume zu erfassen, die unserem Kontinent in seiner mittelalterlichen Ausprägung von ihrem Reichtum und ihrer Substanz gespendet hatten. Geschichte des Mittelalters als Weltgeschichte, mit dieser rechtfertigenden Feststellung schließt der Verfasser sein Werk. Er fordert damit auf, sich sehr wohl der abendländischen Geschichte in ihren unvergleichlichen nationalen Eigenarten und mit ihren Gemeinsamkeiten bewußt zu werden und sich dennoch nicht vor den fremden, fernen, manchmal erdrückend scheinenden Einflüssen anderer Kulturkreise zu verschließen.
Daß ein solches Vorhaben nur durch Verzicht auf eine vordergründige Vollständigkeit bei gleichzeitig möglichster Weiträumigkeit einer Aufnahme des wesentlichen historischen Geschehens gelingen könne, war Bosl von vornherein klar. Es war eine Gratwanderung, deren erfolgreicher Abschluß dem Leser aber ein vertieftes Verstehen der mittelalterlichen Geschichte bescheren würde.
Bosls großangelegter Versuch – als Konzept zu seiner Zeit ohne Vergleich – ist nicht in allen Teilen gleichmäßig geglückt. Die Dichte der Darstellung ist nicht überall dieselbe: das ist heute und war schon in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts kaum mehr zu erzielen. Auch lassen sich Bereiche persönlichen Forschungsinteresses und solche, zu denen eine größere innere Distanz besteht, selbst im Rahmen einer Überblicksdarstellung auf keine Weise einheitlich behandeln. Dennoch ist Europa im Mittelalter ein beachtlicher Wurf: die auf einer weitgespannten Erkenntnis geschichtlicher Zusammenhänge aufbauende Gesamtsicht des umfassenden Themas, die den Leser mit einem der größten historischen Prozesse konfrontiert (nicht »vertraut macht«), ermöglicht ihm einen selten humanen Zugang zum Problem des Menschen und seines Ausgeliefertseins an die Gemeinschaft, »des anthropologischen Bezugs alles Menschlichen und Historischen«.
Es bedarf wohl keines besonderen Hinweises darauf, daß Einzelheiten der Feststellungen Bosls durch die Forschung aus vier Jahrzehnten fraglich geworden sind, oft auch nur, weil sie auf Grund anderer Prämissen oder unter anderen Blickwinkeln erfolgt sind. Verlag und Herausgeber sind aber zu der Überzeugung gekommen, hier nicht erneuernd oder ergänzend einzugreifen, weil solche Korrekturen einen wesentlichen Wert des Buches beeinträchtigen würden: die Geschlossenheit und Anschaulichkeit der Darstellung beruhend auf einer thematischen Klarheit. Bosls Werk verdient in seiner Ganzheit Respekt und Anerkennung, das von ihm entworfene Bild soll durch das Einarbeiten der Resultate neuer Sichtweisen nicht verfälscht werden. Jene müssen sich erst als Elemente anderer Entwürfe bewähren und dort allenfalls nahtlos einfügen.
Anders verhält es sich mit faktischen Irrtümern und offensichtlichen Druckfehlern, deren Beibehaltung den Informationswert des Werks geschädigt hätten. Auch fremdländische Eigennamen, die heute anders übersetzt oder transkribiert werden, wurden den modernen Begriffen angepaßt. Freilich ging es dabei nicht um eine Generalrevision, sondern ausschließlich um wesentliche Beispiele, wo ein Ausbleiben der Korrektur zu einem mangelhaften oder falschen Verständnis geführt hätte. Auch das allzu detaillierte Inhaltsverzeichnis mußte gestrafft werden. Gänzlich geopfert wurden die historischen Konkordanzen am Ende des Buches, deren subjektive und gelegentlich auch sporadische Angaben wenig hilfreich sind. Sie stammen wohl nicht von Karl Bosl und haben somit nichts mit der Substanz des Werks zu tun. Genealogien, Päpsteliste und Personenregister wurden neu bearbeitet. Eine Auswahl neuerer Fachliteratur (fast ausschließlich ab 1970) kann bei dem umfassenden Thema nur eine aktuelle Ergänzung sein.
Der Herausgeber ist mit Karl Bosl nur ein einziges Mal zusammengetroffen: 1980 beim Deutschen Historikertag in Würzburg. Mehr als ein paar höfliche Worte hat der Wiener Assistent mit dem Münchner »Großmeister« nicht gewechselt. Dieser Mangel an persönlicher Nähe, die vielleicht mit den Intentionen Bosls bekannt gemacht hätte, mag für die Herausgabe des vorliegenden Werks als Nachteil erscheinen; hatte er doch viele und nicht unbedeutende Schüler. Obwohl mir diese menschliche Ferne durchaus bewußt war, als der Primus-Verlag mir eine Neuedition des Buches von 1970 vorschlug, schien mir die persönliche Distanz zum Autor und seinem Kreis letztlich eher positiv. Ich war weder genötigt, den Meister nostalgisch zu verklären noch mich schroff von ihm abzusetzen. Auch die Erkenntnis, daß ich in manchen Fällen die Meinung Bosls nicht teile, bestärkte mich, die Herausgabe zu übernehmen. Galt es doch andere, wohlbegründete Auffassungen gelten zu lassen, zumal der Gesamteindruck ein bedeutender war.
Wieder habe ich Herrn Wolfgang Hornstein, dem Geschäftsführer des Primus Verlages, und der Lektorin Frau Regine Gamm herzlich zu danken. Sie schufen über ihre Verpflichtungen und Aufgaben hinaus ein angenehmes Klima der Zusammenarbeit, das hoffentlich der neuen Fassung des Werks zugute gekommen ist.
November 2004
Georg Scheibelreiter