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Vielfalt der Nationen und Bekenntnisse
ОглавлениеSeitdem die geistige Einheit Europas, das seit Karl dem Großen ein kirchliches Reich war, im Investiturstreit Mitte des 11. Jahrhunderts zerfiel und Europa zum geographischen Begriff wurde, rangen Kaiser und Päpste um die Vorherrschaft; sie beide erhoben den Anspruch, die Idee der Christenheit zu vertreten, die in diesem Streit trotz allem das gemeinsame Band war. Im 14. Jahrhundert kamen als dritte Kraft die nationalen Königsherrschaften hinzu, nachdem das Papsttum die schützende Universalmacht des Kaisertums ausgeschaltet hatte, das Papsttum selbst aber der Gefangene des stärksten nationalen Königtums auf dem Kontinent, Frankreichs, geworden war.
Zur selben Zeit, da die Kreuzzüge des französischen Königs Ludwig IX. des Heiligen scheiterten (nach der Mitte des 13. Jahrhunderts), erweiterte sich der geographische Horizont der Europäer mit der Entdeckung Chinas durch Marco Polo ganz beträchtlich. Dem christlichen Bewußtsein Europas waren seit dieser Zeit zwei Aufgaben gestellt: Sicherung des Friedens unter den christlichen Völkern sowie gemeinsamer Kampf gegen die Ungläubigen, den Islam. Europäische Unions- und Friedenspläne hängen deshalb bis in das 18. Jahrhundert mit der Idee des Verteidigungskrieges gegen die Türken und der Wiedereroberung des Heiligen Landes zusammen.
Von dem französischen Juristen Pierre Dubois (um 1250 –1320) und dem Böhmenkönig Georg Podiebrad (1420 –1471) bis zu Papst Leo X. und dem Universalgenie Leibniz (1646 –1716) begegnen wir als europäischen Leitgedanken: Friede unter den Christen, Kreuzzug, Kampf gegen die Hegemonie einer Macht in und über Europa.
In der Welt der harten Tatsachen traten die regionalen, dynastischen, staatlichen Sonderinteressen immer stärker in den Vordergrund, und die Spannungen nahmen nationalen Charakter an. Erstmals nannte Aeneas Silvius Piccolomini (Papst Pius II., 1405 –1464), einer der bedeutendsten Humanisten seiner Zeit, Europa wieder. Unter dem Eindruck der Eroberung Konstantinopels durch die Türken (1453) wurde ihm der geographische Begriff Europa wieder zur menschlichen und historischen Einheit. Seine Länder- und Kulturkunde rechnete den Balkan und Byzanz zu Europa. Christentum und Europa wurden dem Papst wieder identisch. Griechenland, Italien, Christenheit, anders ausgedrückt Athen, Rom, Jerusalem, waren Grundelemente Europas und seiner gemeinsamen Kultur.
Das 16. Jahrhundert veränderte die alten Vorstellungen von der Welt und den Beziehungen der Völker. Die großen Entdeckungen, die Reformation und das Mißlingen einer neuen Reichsgründung hatten auch Rückwirkungen auf das traditionelle Europabild. Die Eroberungen förderten das Bewußtsein einer überlegenen europäischen Zivilisation, aber der Wirtschaftsimperialismus tötete die Idee eines heiligen Reiches auf dem Kontinent. Die Entdeckungen erzeugten kein vertieftes Bewußtsein der überragenden Stellung Europas. Gesetz des Handelns wurde das Staatsinteresse. Den großen Geistern der Zeit waren Europa und seine universale Vormachtstellung eine unbestrittene Selbstverständlichkeit.
Die schwere geistige Krise der Reformation bedrohte nicht Europa, höchstens das Christentum, in Wirklichkeit nur die kirchliche Einheit, die nach dem universalen Kaisertum und Papsttum und der Aufsplitterung in nationale Königsherrschaften eine Vielfalt der Bekenntnisse in der religiösen Einheit des Glaubens an Christus brachte. Weder Calvin noch Luther, noch Ignatius von Loyola sprachen von Europa und seiner Einheit. Nur einem Campanella (1568 –1639) wurde es am Ende des 16. Jahrhunderts bewußt, daß die Reformation die Einigkeit der Völker und Fürsten in einem einst nur katholischen Europa zerbrochen und darum die Widerstandskraft gegen die Türken geschwächt hatte. Beim Tode Karls V. (1558), der bei seiner Thronbesteigung (1519) über drei Viertel des westlichen Kontinents gebot, befand sich das Reich in voller Auflösung, war die Vision einer neuen Universalmonarchie mit einem geeinten europäischen Mutterland zerflossen, war die Einheit der Kirche dahin. Europa erlitt in der schamlosen Ausbeutung der Neuen Welt durch die Eroberer seine folgenschwerste Niederlage.
Der ehedem mythologische Begriff wurde zur geographischen Bezeichnung, die sich ständig weitete, wurde parallel zum Begriffspaar Orient und Okzident eine religiöskirchliche Idee, reicherte sich mit politischen Elementen an und bezeichnete schließlich die gemeinsame Kultur und Zivilisation einer Vielfalt von nationalen Königsherrschaften und christlichen Bekenntnissen nach dem Zusammenbruch eines kaiserlichen, eines päpstlichen und eines kirchlichen Universalismus.