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Das westgotische Spanien
ОглавлениеBeim Tode des Westgotenkönigs Eurich, eines hervorragenden Gesetzgebers und Organisators, war sein Reich 484 die bedeutendste Militärmacht des Westens; sie erstreckte sich vom Ebro bis zur Loire, vom Atlantik bis zur Côte d’Azur. Der Westgotenkönig Theoderich II. bewog den gallorömischen Adeligen Avitus, sich 455 in Arles zum Kaiser ausrufen zu lassen; der Heermeister Rikimer zwang ihn aber wieder zur Abdankung und degradierte ihn zum Bischof von Piacenza.
Nach der Niederlage gegen die Franken bei Vouillé (507) waren die Westgoten auf die spanische Halbinsel beschränkt. Kaum daß Theoderich I., der Ostgote, tot war, besetzten Chlodwigs Söhne den letzten Streifen westgotischer Herrschaft nördlich der Pyrenäen, Septimanien. Seit Amalrich, dem Sohne Alarichs II., dem letzten Sproß der Königssippe der Balten, war das Königtum schwach und den undisziplinierten Forderungen des Adels nicht gewachsen; der Arianismus verhinderte eine Integration der römischen und germanischen Untertanen. Erst auf dem Konzil von Toledo 589 erfolgte der Übergang zum Katholizismus, er leitete eine rasche Verschmelzung ein, aus der die spanische Nation hervorging.
Die Westgoten haben sich unter allen Germanen am meisten als aufnahmefähig gezeigt. Der oströmische Kaiser Justinian konnte zwar seit 554 Teile der spanischen Ostküste (Baetica und Cartageniensis) mit den Hauptstädten Malaga, Cartagena, Córdoba und wahrscheinlich auch Sevilla für kurze Zeit zurückerobern; aber seine Truppenmacht war zu schwach, um den spanischen Brückenkopf dem Reich zu erhalten. Die Königsresidenz, die zuerst in Barcelona gewesen war, wurde in das Landesinnere nach Toledo verlegt.
Was von dieser Episode blieb, war eine Stärkung des Reichseinflusses. Am Hofe des Königs Leovigild setzte sich in Kleidung, Münze, Schmuck das oströmische Muster durch. Unter seinem zweiten Sohn Reccared geschah die Konversion zum Katholizismus; König Recceswinth (653 – 672) schuf die bedeutendste barbarische Rechtskodifikation in seinem Liber ludiciorum und stellte darin die Rechtseinheit für Römer und Germanen her. Mischehen, tagtägliche Berührung, gemeinsamer Gebrauch der lateinischen Sprache hatten die Wege dafür bereitet. Im westgotischen Spanien blieben römische Provinzialeinteilung und Fiskalverwaltung erhalten. Die Geistlichkeit rekrutierte sich aus Römern und Germanen, die Kultur trug römisches Gepräge. Allein im westgotischen Adel erhielten sich alte Stammestradition und germanisches Lebensgefühl. Aus der Verschmelzung von Westgoten und Römern erwuchs in einem gemeinsamen Vaterland ein neues Nationalgefühl.
Dieses Westgotenreich brach nach 711 schnell unter den Schlägen der Araber zusammen und war seit 713 offiziell muselmanisch. Die »Ungläubigen« stießen darüber hinaus 719 bis Roussillon und in das untere Languedoc nördlich der Pyrenäen vor. Die in das Bergland von Galizien und Asturien zurückgedrängten Christen eröffneten von Oviedo aus den »Heiligen Krieg« unter Führung des Königs Pelayo (Pelagius); sein Vorgänger war Roderich, der beim Flüßchen Guadalete zwischen Cadiz und Algeciras 711 vernichtend geschlagen worden war; Sevilla fiel danach in die Hände der Araber.
Mit dem Sieg des Westgoten Pelayo begann die große Bewegung der Reconquista, die Spaniens mittelalterliche Geschichte bestimmt. Als legendärer Held tritt darin ein zweiter Rodrigo, der Cid, auf († 1099). Die Persönlichkeiten eines Roderich in Spanien und eines Rurik im Nordosten zeigen den Aufstieg des germanischen Volkselementes im werdenden Abendland und seine Wirkung als Ferment der neuen europäischen Völker und Nationen an. Die Heimat des spanischen Heldenepos ist vermutlich Kastilien, wo sich epische Gesänge der Westgoten erhalten haben müssen. Diese gingen in kastilische Heldenlieder ein, die den Unabhängigkeitskampf des Landes im 10. und 11. Jahrhundert besingen. In den »cantares« lesen wir von germanischen Bräuchen, wie dem der Blutrache.
Die Germanen haben, wie gerade die Westgoten zeigen, zum Aufbau eines neuen europäischen Volkskörpers im Mittelalter wesentlich beigetragen. Die alte Reichsidee der Römer konnten nur begabte und energische Männer aufnehmen, die selbst schon ein antikes Kulturbewußtsein in sich trugen. Die Zahl weitblickender Führergestalten war gering; sie begegneten noch dazu dem Mißtrauen ihrer Völker, die ihre Kulturpolitik nicht verstanden und die in den Römern die Feinde ihrer Rasse, Tradition und Religion sahen. Die Zeiten waren für die Verschmelzung noch nicht reif, die letztlich von religiösen Motiven vorangetrieben wurde. Die Germanen verlangten Siedelland im Reiche, ihre Könige aber wünschten das Reich selbst und bestanden auf den Herrschaftsrechten.