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Das fränkische Königtum
ОглавлениеDas Merowingerreich wurde sehr oft als Epoche der Barbarei im moralischen Sinn, der Dekadenz und Korruption abgewertet. Man vergaß dabei, daß Niedergang und Neuwerden hier fast zusammenfallen. Das Grab der alten Welt wurde die Wiege der neuen, Gallien wurde zum Schauplatz des Werdens einer neuen Gesellschaft und Kultur. Chlodwigs Reichspolitik zwang die Franken, sich dem Milieu der Umwelt anzupassen, alte Sitten und Einrichtungen aufzugeben. Das Frankenreich war Chlodwigs persönliches Werk und sein Besitz. Dieser aus Frankentum, Gallorömertum, Christentum zusammengesetzte Bau war so festgefügt, daß er die Zerreißprobe der Streitigkeiten innerhalb der Dynastie überlebte und aus sich selbst ein neues politisches Ordnungssystem entwickelte.
Das Frankenreich hatte genug Zeit zum Ausreifen und zum Ausleben seiner Geburtswehen in den ersten Jahrhunderten der Merowingerherrschaft. Italien lag in Anarchie, von Germanien war keine Offensive zu befürchten und zum Teil stand es noch auf frühgeschichtlicher Kulturstufe. Das Westgotenreich in Spanien verlor zusehends an Kraft. Byzanz, vollbeschäftigt mit seinen inneren Nöten und der Abwehr barbarischer Invasionen von außen, konnte im Westen kaum mehr eingreifen. Die Rückeroberungen Kaiser Justinians (527– 565) erreichten nur noch die Küste Spaniens, aber nicht mehr Galliens.
Zentrale Macht und geistiger Mittelpunkt der im Frankenreich geeinten Völker und Stämme war das Königtum. In der neuen zivilisierten Umgebung mußte es die Lebensformen von Klein- und Großstämmen, das System der Gefolgschaftshaufen und Heeresversammlungen aus der kriegserfüllten Wanderzeit in neue Institutionen und Dauereinrichtungen überführen. Die Institutionen des römischen Staates waren zusammengebrochen oder ließen sich nicht übernehmen; trotzdem waren sie vielfach Hilfe und Stütze für den Aufbau einer archaischen Herrschaftsordnung. Die Art ihres Ausbaus und der dabei erfolgten und notwendigen Veränderung spiegelt Kulturwandel und Neuschöpfung zugleich.
Die Franken hatten vor allem keinen Sinn für die abstrakte Idee von Staat und Christentum. Ihr Denken war personal, symbolisch; das Reich war persönliche Leistung, persönlicher Besitz des Königtums, sanktioniert und geweiht durch Sippendenken und Glauben.
Der germanische Heerkönig, dessen göttliches Heil allen offenkundig geworden war, vertrat auch den römischen Kaiser und galt als der Auserwählte der Kirche, die seit dem 4. Jahrhundert Reichskirche war. Chlodwigs Königtum war erblich, schloß aber die gewohnte Mitsprache des germanischen Adels nicht aus; denn dieser erhob den Heerkönig und Herrscher auf den Schild und kürte (wählte) ihn so.
Je tiefer die Risse in der Dynastie wurden, um so größer wurden Macht und Einfluß eines neuen Hof- und Dienstadels. In der fränkischen Königsherrschaft, die das Volk als heiligen, von den Vätern ererbten Besitz betrachtete, flossen die ursprünglich archaischen und patrimonialen Formen germanischer Herrschaft zusammen: Haus-, Grund-, Gefolgschafts-, Leib-, Schutz- und Kirchenherrschaft. Sie alle wuchsen aus der urtümlichen Herrschaftsgewalt des »Hausvaters« einer Großfamilie, die seinem Schutzrecht unterworfen war und dafür abgestufte Dienste leistete. Dieser Hausvater hatte auch absolute Verfügungs- und Gerichtsgewalt über seine Hausgenossen. Aus der gleichen Wurzel erwuchs auch der archaische römische Staat wie vermutlich alle »Staatlichkeit« nicht nur im indogermanischen Raum.
Herrschaft über Land und Leute, die Grund- und Leibherrschaft, wurde zu einer Grundform von Wirtschaft, Gesellschaft, Herrschaft Europas bis zum 18. Jahrhundert. Der König war der größte Grundherr mit dem meisten Land und den zahlreichsten Leibeigenen. Der Adel, zumeist Dienst- und Gefolgschaftsadel, sowie die reichbeschenkte Kirche, Bischöfe und Klöster, taten es ihm an Größe ihrer Grundherrschaften bald gleich. König, Adel und Kirche erweiterten ihre Herrschaft durch Rodung und Siedlung, zu denen sie ihre Leibeigenen einsetzten. In Grenzgebieten und in menschenleeren, verlassenen Räumen Galliens ging das Königtum durch eine Art «Staatskolonisation» beispielhaft voran. Gerade in der Grundherrschaft mischten sich germanische und provinzialrömische Formen.
In der Staatskolonisation lebte das römische Steuerwesen, zusehends verdünnt, weiter, einst Hauptmittel römischer Reichspolitik. Kopf- und Grundsteuer, wie wir sie am Ende des Römerreiches in Ägypten und Gallien noch am entwickeltsten vorfinden, gaben ein Modell für die fränkische Steuer ab, die überall, auch östlich des Rheins, erscheint, wo der König Herr von Land und Leuten ist oder vorher war. Auch das Wergeld, die Geldbuße für Menschentötung und -verletzung, wurde in gemünztem Geld ausgedrückt. Dieses übernahmen die Germanen von den Römern.
Allmählich gewann in der Merowingerzeit das ungemünzte »Gold« in Barrenform, das gewogen werden mußte, die Oberhand; dadurch verblaßte der monetäre Charakter der alten Wirtschaftsform, wenn sich auch reine Naturalwirtschaft nicht durchsetzte.
Der an der Spitze seiner Gefolgsmannen auf Beute ausziehende und für alle neues Siedelland suchende Heerkönig stand mit seinen Leuten in einer Art Gefolgschaftsverhältnis auf Gegenseitigkeit. Indem sich die römischen Formen der Grundleihe und der Kommendation beim seßhaften Volk damit verbanden, entstand das fränkische Lehenswesen, auf dem eine feudale Gesellschaft aufbaute. Obwohl keltische Formen des Dienstverhältnisses und der Unterordnung dabei eine Rolle spielten, blieben doch die Gedanken der Gegenseitigkeit und der damit verknüpfte Gedanke der Treue aus der germanischen Gefolgschaft wesentlich wirksam; sie wurde sogar verstärkt und parallelisiert durch die christliche Idee des Amtes, des Dienstes und Gehorsams.
Nicht nur die Aussicht auf reiche Beute und die Profitgier hielten die Gefolgschaften zusammen. Da der Gefolgsherr die Mannen unterhielt und sie an der Beute wie am eroberten Land beteiligte, waren sie zur »Treue« schon deswegen verpflichtet, da sie sonst die Fährnisse und Risiken nicht überstehen konnten, die vor allem dann eintraten, wenn weder Beute gemacht noch neues Siedelland gewonnen werden konnte. Der Herr war den Mannen ebenso zur Treue verpflichtet wie diese ihm. Germanisches, Keltisches, Römisch-Christliches mischten sich auf dem lehenrechtlichen Feld herrschaftlich-zwischenmenschlicher Beziehungen zu einer grundlegenden Strukturform von Gesellschaft und Kultur.
Die Frühformen der Herrschaft fanden im merowingischen Königtum noch nicht zur Einheit. Chlodwigs Reich war noch wesentlich germanisch und unterstand der Verfügungsgewalt des obersten Heerkönigs. Es galt das Realteilungsprinzip, das keine Rücksicht auf Raum, Sprache, Volkstum, Religion und Kirchenorganisation nahm. Das hatte Unsicherheit und chronische Anarchie zur Folge. Die Teilreiche selbst waren nicht von Bestand. Die Teilkönige lieferten sich blutige Kriege ohne Erbarmen. Die Teilreiche waren voneinander unabhängig, und man konnte am Hofe des feindlichen Königs Zuflucht nehmen, weil man im Ausland war. Das durchlöcherte die Einheit des Reiches und der Großherrschaft. Regionalismus und Lokalismus setzten sich von oben nach unten in Herrschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur durch. Die integrierenden Kräfte verloschen oder schwanden, die Menschen wuchsen im Denken und in ihren Lebensformen auseinander; sie sahen sich bald mit schwindender Mobilität des Reiches und abnehmender Fluktuation des Verkehrs in die engsten Grenzen von Haus und Hof eingesperrt; der Horizont ihres Denkens wurde immer schmaler und reichte kaum mehr über Kleinstsiedlungen hinaus.
Die Teilungen hatten darin eine ganz reale Ursache, daß das Reich zu schnell gewachsen und die archaische Königsherrschaft eine so große Ausdehnung, wie sie das Reich angenommen hatte, herrscherlich nicht bewältigen konnte; sie war personal, nicht institutionell. In Auseinandersetzung mit den Resten römischer Verwaltungskunst und durch Übernahme einer Reihe ihrer Einrichtungen entwickelten sich auf gallischem Boden Mischformen einer neuen germanisch-römischen Königsherrschaft. Aber bevor die Idee des (römischen) Staates begriffen und ergriffen werden konnte, mußten Bildung und Kultur ein höheres Niveau erreichen. Chlodwigs vier hinterlassene Söhne Theuderich, Chlodomer, Childebert und Chlothar erhielten je einen Teil des väterlichen Erbes zwischen Rhein und Loire; Aquitanien wurde gesondert aufgeteilt. Sie wählten sehr nahe beieinander ihre Herrschaftssitze zu Paris, Soissons, Orléans und Reims, um sich gemeinsam beraten zu können. Die politischen Schwerpunkte des Frankenreiches lagen in den nordgallischen Landen.
Chlodwigs Söhne und Enkel eroberten im 6. Jahrhundert die noch freien Gebiete der Alemannen, dann Bayern, Thüringen, das Königreich Burgund und die Provence. Damit umschloß das Frankenreich ganz Gallien mit Ausnahme Septimaniens zwischen Pyrenäen und Rhône, das Herz Germaniens und seinen Süden. In diesem gentilisch (nach Völkern und Stämmen) zergliederten Reich hatten nur Norden und Osten (= Südniederlande, Nordbelgien, Teile von Nordfrankreich, das Elsaß, ein Teil Lothringens und »Rhenanien«) eine fränkische oder alemannische Bevölkerung. Diese Gebiete hatten daher einen germanischen Charakter angenommen.
Über alle Teilungen hinweg erhielt sich ein gewisses Bewußtsein fränkischer Einheit, das sich nach dem Schrumpfen der Teilreiche wieder verstärkte. Hauptnutznießer der Teilungen war die germanische und gallorömische Aristokratie, die im Herzen des Reiches ihre eigenen Herrschaften ausbaute. Die Teile entwickelten dadurch ein Sonderbewußtsein, da der eingesessene Adel ein Distanzgefühl zur Aristokratie der anderen Königreiche entfaltete.
Die inneren Streitigkeiten um die Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert machten es den Randgebieten (Bayern, Alemannien, Aquitanien, das ist das Land südlich der Loire) möglich, sich weitgehend selbständig zu machen, königsgleiche Stammesherzogtümer zu werden und ein eigenes Volksbewußtsein zu entwickeln. In Aquitanien wurden die wenigen eingedrungenen Germanengruppen von der seit Jahrhunderten romanisierten und christianisierten Bevölkerung rasch assimiliert; das Kollektivbewußtsein einer den Nordleuten überlegenen Kultur fiel dabei entscheidend ins Gewicht.