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Herrschafts- und Stammesbildung der Wandervölker
ОглавлениеSiedlung und Herrschaftsbildung der germanischen Wanderstämme vollzog sich auf römischem Provinzialboden in zwei verschiedenen Formen und mit zwei verschiedenen Ergebnissen. Ost- und Westgoten, Wandalen, zum Teil auch Burgunder errichteten ihre Herrschaften um das westliche Mittelmeer in den dichtest bevölkerten und am intensivsten romanisierten Gebieten des alten Römerreiches. Zahlenmäßig waren diese Germanen eine große herrschende Minderheit; die Verschiedenheit des Glaubens und der notwendige Abschluß nach außen verhinderten eine Germanisierung der Eingeborenen. Bedeutende Teile der Goten und Burgunder waren außerdem schon romanisiert, weil sie schon lange als verbündete Grenzvölker im Reiche gesessen hatten. Die innere Struktur dieser germanischen Großstämme war zwar noch intakt, aber sie waren zu lokal und regional isoliert. Die Germanenreiche im Mittelmeerraum konnten vor allem den Haß der Römer nicht überwinden.
Ganz anders vollzog sich die Herrschaftsbildung der Westgermanen. Die wandernden Franken, Langobarden, Alemannen, Sachsen, Thüringer besetzten die nördlichen Provinzen des Römerreiches, die weniger dicht besiedelt und dünner romanisiert waren. Deshalb waren hier die Voraussetzungen für volksmäßige Siedlung günstiger; diese zog sich über 300 Jahre hin, und zwar in den Formen des Einsickerns und Einströmens aus der germanischen Nachbarschaft. Das Ergebnis war deshalb die Germanisierung dieser Regionen.
Die Franken siedelten im Raum vom Rhein bis zur Somme, die Alemannen am Mittel- und Oberrhein, an der oberen Donau und in einem Teil der Alpenländer; über eine Einwanderung der Bayern ist nichts bekannt. Man muß auch länger dauerndes Einsickern von Germanen verschiedener Stämme in den Raum zwischen Donau und Alpen vermuten, der von romanisierten Kelten besetzt war, die sich in den Oberschichten bis in das 9. Jahrhundert hielten, deren christliche Unterschichten sich mit den christlichen Bayern vermischten; für dieses Mischvolk taucht dann erstmals in der Mitte des 6. Jahrhunderts der Bayernname auf. Die Angeln, Jüten und ein Teil der Sachsen eroberten teilweise Britannien, die einheimischen Kelten wanderten nach Wales oder dem gallischen Festland (Armorica) aus, das sie wieder keltisierten (Bretagne). Der größere Teil der Sachsen, Thüringer und Friesen aber blieb in Germanien. Die Friesen breiteten sich von der Niederweser zum Rhein, zur Mosel und zum Scheldedelta aus.
Seit dem ausgehenden 6. Jahrhundert besetzten slawische Stämme die Länder jenseits der Elbe, Böhmen, das Gebiet der mittleren Donau, aus dem die Germanen zumeist ausgewandert waren. In Pannonien (Ungarn) brachen die Awaren in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts ein; sie überlagerten die Slawen oder schoben sie vor sich her. Nördlich der unteren Donau setzten sich die Bulgaren, ein Teil des hunnischen Reitervolkes fest, und beherrschten dort slawische Untertanen.
Die Mittelzone Europas, einst zum größten Teil dem Römerreich und seiner Einheit zugeordnet, war am Ende des 5. Jahrhunderts von einer Vielzahl verschiedener Völker und Großstämme besiedelt und beherrscht, die voneinander unabhängig waren und sich befehdeten. Die Bevölkerungsstruktur des Westens, der Mitte und des Südens Europas begann ihre mittelalterliche Zusammensetzung und ihr volkliches Gesicht anzunehmen. Das gleiche gilt für Ostmitteleuropa und den Balkan, wenn auch letzterer noch lange unter dem Einfluß Ostroms stand.
Von den umwälzenden Neubildungen des Westens, die von den Wanderungen ausgelöst waren, wurde das römische Ostreich zwar auch oft kräftig berührt, aber nicht grundlegend betroffen und verwandelt. Trotz mancher Gebietsverluste hielt es den verwüstenden Invasionen aus dem Osten sowohl in Europa wie in Asien und Afrika stand. Ohne seine Universalreichsansprüche je aufzugeben, wartete Ostrom nur auf die günstige Stunde, den Barbaren ihre Eroberungen wieder abzunehmen. Odoaker und Theoderich sollten Werkzeuge Ostroms zur Erneuerung der Einheit im Westen sein. Kaiser Justinian aber führte im zweiten Viertel des 6. Jahrhunderts eine aktive Politik um die Rückkehr Afrikas und der spanischen Küste in das Reich. Das war freilich der letzte politische und militärische Versuch zu diesem Zweck.