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Chlodwigs Reichsgründung, die Francia

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Im germanischen Verstand war »Reich« Groß- und Überherrschaft über König-, Stammreiche, Völker. Ausgangsbasis der Reichsgründung Chlodwigs war das Land um Rhein und Schelde; der Rhein wurde erst unter den Karolingern zur Reichsachse. Chlodwig war auch an Germanien interessiert und breitete seine Einflußsphäre bis zu den Sachsen und nach Mitteldeutschland, bis nach Augsburg und zu den bayerischen Alpen aus. Der Rhein war fast ganz bis auf das Quell- und Mündungsgebiet in Rätien (Schweiz) und Friesland (Niederlande) in seiner Hand. Er unterwarf die Alemannen, die ihn vom Rücken her bedrohten.

Wie jeden Barbarenkönig faszinierte auch ihn die Idee des Römerreiches. Die Intervention Theoderichs I. verhinderte sein Eingreifen im westgotischen Spanien, verhinderte auch eine verfrühte Überspannung und Schwächung seiner Kräfte. Sein Werkzeug war ein schlagkräftiges Heer, dessen Oberbefehl in seinen Händen lag. Chlodwig rottete den fränkischen Adel nicht aus, er nahm ihm nur seine regionalen Führer. Bereits sein Vater hatte die Expansion nach Westen bis zur Armorica (Bretagne) und zur Loiremündung vorbereitet, wo als letzter römischer Herrscher Syagrius regierte. Der junge Chlodwig eroberte diesen letzten Rest römischer Macht und verlegte seine Residenz von Tournai nach Soissons und schließlich nach Paris.

Dieses Großkönigtum erweiterte er zum gallorömischen Reich durch seine Kriege gegen die arianischen Burgunder und Westgoten. Dabei fand er die Unterstützung der katholischen Gallorömer und des Episkopats, besonders des heiligen Avitus in Burgund (Vienne). Er intervenierte in den blutigen Streitigkeiten zwischen Gundobad und seinen Brüdern und heiratete in die Familie ein. Dann griff er die Westgoten an und besiegte sie 507 unter Alarich II. bei Vouillé; die Westgotenherrschaft in Südfrankreich brach zusammen, die Franken besetzten Aquitanien.

Die Siege Chlodwigs schufen die Francia, das Land der Franken, das zur Hälfte germanisch, zur Hälfte gallorömisch war. Seine Beziehungen zu den Gallorömern waren vorher ohne Beispiel bei den Germanen; sie waren möglich und begründet in seiner legitimen Königsherrschaft schon vor den Siegen. Seine Taufe legte die Mauern des Mißtrauens und der Mißachtung nieder. So erschien Chlodwig den Gallorömern unter burgundischer und westgotischer Herrschaft als Befreier. Für die Bischöfe aber war er Verteidiger des Glaubens und der Kirche; er galt nicht als Eroberer, wie die Germanen in Britannien, Spanien und Italien.

Die Franken waren keine herrschende Minderheit, die eine Vermischung mit der unterworfenen Majorität vermeiden mußte. Sie waren keine Reichsfeinde, da sie in einem Niemandsland ohne Reichsgewalt, Reichsheer, Reichskirche operierten. Chlodwig konnte deshalb von Grund auf eine neue Ordnung aufbauen und eine neue Herrschaft errichten, die fränkisch und gallisch, römisch und katholisch zugleich war und darum eine Synthese brachte.

Grundbesitzeradel und Episkopat der Gallorömer hatten in Chlodwig zunächst einen barbarischen Föderatenführer gesehen, der aber kraft kaiserlicher Delegation die Belgica Secunda, eine gallische Teilprovinz, beherrschte, dort die Einheimischen nach Reichsrecht, die Kämpfer nach germanischem Recht behandelte, der als Funktionär des Reiches Abgaben erhob. So bestand von Anfang an ein Modus vivendi des Zusammenlebens. Choldwig respektierte wie sein Vater das Gesetz. Die Gallier wurden nicht verknechtet und blieben in der gleichen sozialen Stellung wie vorher. Sklaven und Pachtbauern blieben, was sie waren, die »Freien« blieben frei.

Zwar haben die Franken auch geplündert, Gold, bewegliche Güter, Sklaven nach Kriegsrecht beschlagnahmt, aber keinen Boden konfisziert und das Eigentumsrecht der Gallorömer unangetastet gelassen. Die alte Villa (= Gutshof) blieb intakt, sie wurde nicht zwischen gallischen Eigentümern und fränkischen Invasoren aufgeteilt; Aristokratie und Kirche verloren keinen Grundbesitz, der sich des gleichen Schutzes wie der fränkische Adel erfreute. Nach dem Recht des Eroberers galten die Franken als Herren.

Der fränkischen Uraristokratie trat der gallorömische Senatorenadel als geschlossene Gruppe gegenüber. Eine neue fränkische Reichsaristokratie hat sich erst durch Dienst und Leistung für König und Herrschaft im 6. und 7. Jahrhundert ausbilden müssen, nicht zuletzt wegen des Aussterbens der gallorömischen Führungsschicht.

Es hat den Anschein, daß in Gallien zwei Völker ohne Unterwerfung nebeneinander lebten, gehorsam dem König, aber nicht den Germanen. Gallorömer und Germanen bewahrten ihre eigene Sprache, ihre Gewohnheiten, ihre Gesetze; im Alltag standen beide auf gleicher Stufe. Die Franken haben die Gallorömer nicht entwaffnet, da diese in den Städten ihre eigenen Milizen weiter behielten. Mit dem Tage der Taufe Chlodwigs begann die Vermischung der Völker, es entstand eine eigenartige Volks- und Herrschaftsstruktur, die organisch wuchs und Nährboden einer neuen Gesellschaft und Kultur wurde.

Chlodwig unterhielt gute Beziehungen zum Reich und seinem Kaiser im Osten. Gregor von Tours erzählt, daß der oströmische Kaiser Anastasios dem Frankenkönig den Titel eines Konsuls verlieh und daß Chlodwig in der Basilika des heiligen Martin in Tours die Purpurtunika und den Mantel anlegte, sich die Krone aufs Haupt setzte, sich zu Pferde dem Volke zeigte und mit eigener Hand Gold und Silber freigebig unter die Menge warf. Von dort zog Chlodwig nach Paris und schlug hier 496 seine cathedra regni, seinen festen Königssitz, seine Pfalz (= Residenz) auf. Ostrom wollte den Franken für seine Siege über die Westgoten auszeichnen, die auch im Sinne Ostroms lagen. Diese Ehrung verfehlte ihre Wirkung auf den König und seine Franken nicht.

Der politische Zweck dieser Kontaktaufnahme war schließlich der Aufbau einer gemeinsamen Front gegen den Ostgoten Theoderich, dessen Reichspläne Byzanz und dessen westgotische Politik die Franken beunruhigten. Politik und Religion schufen bei Franken und Oströmern gemeinsame Interessen; denn unter Kaiser Anastasios obsiegte der Monophysitismus, der gegen den Arianismus, die Religion der Goten und Burgunder, gerichtet war. Trotz Konsulinsignien aber waren Chlodwig und die Franken davon überzeugt, daß ihre Königsherrschaft nur von Gott und ihrem Schwert herrühre; dessenungeachtet aber stellten die Insignien ein Wegzeichen zum Gipfel des Reiches in einem neuen Europa für die Franken auf.

Für die Franken gab es trotz Teilung und Verschwinden des Westkaisers noch ein Reich. Vor 476 nannten sich alle Römer. Da es bis dahin nur einen Kaiser in zwei Personen, Ost- und Westkaiser, gab, bestand noch Einheit, Einmütigkeit. Die Gleichheit der Kaiser war nicht absolut, da sich der Ostkaiser in seiner neuen Hauptstadt Konstantinopel, dem neuen Rom, für christlicher hielt als der im alten und weil er deswegen den Primat für sich in Anspruch nahm. Der Westkaiser holte beim Regierungsantritt die Zustimmung des Ostkaisers ein. Seit 476 war das Reich theoretisch wieder geeint, da es nur noch einen Kaiser hatte; aber seine Macht im Westen schmolz dahin. Es blieb Quelle des Rechts und verflüchtigte sich zu einer Lebens- und Denkform, zu Idee, Ideal, Ideologie, Anspruch, es wurde ein Element der Kultur. Byzanz wahrte sein Ansehen im Westen, vor allem Klerus und Episkopat des Westens betrachteten seine Herrschaft nur zeitweilig als aufgehoben und erwarteten seine Wiedergeburt, wenn Gott es gefiel.

Die Kirche konnte den Großherrscher Chlodwig für berufen, für ein Werkzeug Gottes halten; deshalb feierte ihn Remigius als »Sieger über die Völker«. Kaiser- und Reichsidee blieben im Denken des Westens lebendig; es bedurfte nur des Mannes, der sich als neuer Kaiser darbot. Chlodwigs Königsherrschaft und Großreich, sein Übertritt zum Katholizismus machten die Franken zum auserwählten Reichsvolk von morgen, dessen imperiale Mission es wurde, das Reich zu erneuern.

Trotz Dekadenz und Zwiespalt schuf die Dynastie der Merowinger den Rahmen für dieses neue Reichsvolk, das sich aus Franken und Gallorömern mischte und eine Dauerherrschaft über alle Einzelgewalten aufrichtete. Die Erneuerung konnte nur auf dem Boden der alten römischen Provinz Gallien reifen, auf dem das herrschaftsbegabte Volk der Franken einwurzelte.

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