Читать книгу Verlorene Patienten? - Karlheinz Engelhardt - Страница 11
1.3 Probleme im Krankenhaus
ОглавлениеDas Diagnosis Related Groups (DRG)-System wurde 2003/2004 zur Kostensenkung im Krankenhaus eingeführt ▶ 15. Die ökonomische Logik wurde damit zum Maß der Dinge. Die Krankenkassen rechnen bei Klinikpatienten nicht mehr in Tagessätzen ab, sondern auf der Basis diagnosebezogener Fallpauschalen. Viele ältere Kranke haben aber mehrere Krankheiten gleichzeitig, für das Krankenhaus ist es jedoch aufgrund des DRG-System weniger wirtschaftlich, mehrere Krankheiten eines Patienten während seines stationären Aufenthalts zu behandeln, da nur eine Hauptdiagnose abgerechnet werden kann. Zeit für menschliche Kommunikation zwischen dem Arzt und seinem Patienten ist unter DRG-Bedingungen nicht vorgesehen. Ärzte und Pflegekräfte berichten, dass sie immer weniger Zeit haben. Erklärungen, Information und persönliche Betreuung kommen zu kurz. Krankheiten werden anvisiert, aber der kranke Mensch mit seinen Problemen gerät aus dem Blickfeld.
Was sind die Ursachen? Durch das DRG-System ist die Verweildauer drastisch verkürzt worden, die Patienten werden also wesentlich schneller als früher durch die Klinik geschleust. Um bei der kurzen Liegezeit nichts zu versäumen, werden zu Beginn viele, teils unnötige technische Untersuchungen angeordnet, durch die Zeit und Aufmerksamkeit der Ärzte absorbiert werden. Ärzte und Krankenschwestern verbringen weniger Zeit als früher auf den Stationen ▶ 16. Ihre Zeit wird zunehmend von den Aufgaben der Funktionsräume, von Sonografie, Gastroskopie, Echokardiografie etc. beansprucht. Dadurch besteht weniger Zeit, sich dem individuellen Kranken zu widmen.
Auch die bürokratische Arbeit der Verschlüsselung und Kodifizierung des DRG-Systems verkürzt den ärztlichen Kontakt mit dem Patienten. 25 bis 40 % der ärztlichen Arbeitszeit wendet der Kliniker für artfremde Dokumentationstätigkeiten auf ▶ 17.
In einer groß angelegten medizinsoziologischen Studie ▶ 18 untersuchte Werner Vogd die Folgen des DRG-Systems: Auf der Inneren Abteilung war 2004 im Vergleich zu 2000/2001 die durchschnittliche Liegezeit von elf auf sieben Tage zurückgegangen. Anstelle der persönlichen Begegnung mit dem Patienten spielte die von der Aufnahmestation übernommene Krankenakte eine zunehmende Rolle. Vogd beobachtete: „Im Sinne des Primats der kurzen Liegezeiten wird versucht, Patienten schneller zu verlegen …“ Es „wird nun schneller und häufiger (invasive) Diagnostik angefahren. Der Internist erscheint weniger verantwortlich für den ›ganzen‹ Patienten, sondern bedient oft nur noch ein Teilsegment der Behandlung, ohne – wie vor einigen Jahren noch die Regel – dabei den Gesamtprozess überblicken zu können …“ Der Internist sieht sich „nur noch bedingt in der Lage, so zu arbeiten, wie es seinem ärztlichen Ethos entspricht.“ Die ärztliche-professionalle Identität ist bedroht: „Im Sinne der Kriterien, wie sie die klassische Professionstheorie beschreibt, erfahren sie (die Internisten) eine Deprofessionalisierung vom Arzt zum technokratischen Spezialisten.“
Für ältere Patienten ist es charakteristisch, dass sie oft mehrere Krankheiten gleichzeitig haben, die alle zu berücksichtigen sind. Gerade für sie wird, wie Vogd hervorhebt, das DRG-System problematisch: „Da pro Krankenhausaufenthalt nur jeweils eine DRG abgerechnet werden kann, lohnt es sich für das Haus aus ökonomischer Sicht nicht mehr, verschiedene Krankheiten gleichzeitig zu behandeln.“ Polymorbide Menschen mit mehreren chronischen Krankheiten werden für das wirtschaftlich denkende Krankenhaus zur Last. Auch psychosoziale Aspekte sind wegen Zeitmangels kaum noch zu berücksichtigen ▶ 18. Ein Medizinsystem, in dem der Arzt nicht mehr zum Aufatmen und zur Besinnung kommt, ist ungesund.
Was ist in den letzten Jahrzehnten mit der Medizin geschehen? Das vergangene Jahrhundert war Zeuge einer mächtigen Entwicklung der naturwissenschaftlich-technischen Medizin, der allerdings der Patient abhandenzukommen drohte ▶ 2. Um die hohen Kosten der modernen Medizin zu senken, wurde das DRG-System eingeführt, das den Patienten noch mehr an den Rand drängt. Ein Teufelskreis!