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1.4 Auswege aus der Krise?
ОглавлениеDie Frage, ob es Auswege aus der Krise der Medizin gibt, ist nicht leicht zu beantworten. Es gibt keine schnellen Rezepte, sondern es wird ein Umdenken nötig sein, das die Medizin erneuern würde. Das ist schwer. Trotzdem mache ich einige Vorschläge, die in den folgenden Kapiteln näher ausgeführt werden. Was wäre zu beachten?
Erstens: Es gibt viele Fortschritte der Medizin. Wenn ihre Hightech-Interventionen und diagnostisch-therapeutischen Methoden wie Herzkathetereingriffe, medikamentöse Behandlungen und Computertomogramme mehr Nutzen als Risiken bringen sollen, dann sind sie mit Augenmaß und Besonnenheit einzusetzen. Das ist heute leider nicht immer der Fall. Wenn Anamnese und körperlicher Untersuchung individuell und kritisch durchgeführt werden, können sinnlose und teure Überdiagnostik sowie Nebenwirkungen, wie Röntgenstrahlenbelastungen durch ein unnötiges Computertomogramm, vermieden werden.
Zweitens sind die Krankheitsdiagnose und die Aufklärung über ihre Mechanismen wichtige Aufgaben, damit der Arzt helfend eingreifen kann. Dieses Paradigma hat sich in mehr als hundert Jahren als erfolgreich erwiesen. Aber diese krankheitszentrierte Medizin ist durch eine Patient-zentrierte Medizin ▶ 19 zu ergänzen. Dazu gehört, dass der Arzt sich eingehend um das Befinden, die Perspektive und Probleme des Patienten kümmert, damit er sich nicht zurückgestoßen und einsam fühlt. Patient-zentrierte Ärzte hören genau zu, unterstützen die Kranken auch emotional und geben Hoffnung. Eine solche Patient-zentrierte Medizin ist nicht bloß ein Desiderat der Ethik, sie führt zu besseren Krankheitsverläufen und zu größerer Zufriedenheit von Patienten und Ärzten.
Drittens: Spezialisten wie Kardiologen, Herzchirurgen, Transplantationsmediziner und Gastroenterologen werden gebraucht. Da sind sich alle einig. Neben den Spezialisten ist jedoch der Allgemein- und Primärarzt stärker als bisher zu beachten. Er hat die wichtige Aufgabe, verschiedene und komplexe Krankheiten bei einem Patienten zu koordinieren und darauf zu achten, dass sich die Medikamente miteinander vertragen. Chronische Krankheiten wie Herz-, Lungen- und Gelenkkrankheiten, Diabetes, Depression und Karzinome gelten heute mit Recht als erstes medizinisches Thema. Patienten mit chronischen Krankheiten brauchen einen guten Hausarzt. Sie bevorzugen eine ganzheitliche Sicht, zu der die Fragen gehören: Wie sieht der Patient seine Krankheit? Was erwartet er vom Arzt? Welche psychosozialen Aspekte sind zu beachten? In hoch spezialisierten universitären und städtischen Kliniken der Inneren Medizin kommt heute die Ausbildung zum Generalisten zu kurz, der Allgemeinmediziner wird unterbewertet. Das Einkommen der Allgemeinärzte ist im Vergleich zum Spezialisten relativ gering ▶ 20. Technische Prozeduren werden viel höher bewertet und bezahlt als eine ausführliche Beratung. Da die Arzt-Patient-Kommunikation, Beratung und Information in der Sprechstunde schlecht honoriert werden, fassen sich viele Ärzte kurz. Zu viele Patienten müssen durch die Praxis geschleust werden.
Viertens: Naturwissenschaften erklären Krankheiten, sie verstehen aber nicht den einzelnen Kranken, das Subjekt, das sich mit seiner chronischen Krankheit auseinandersetzt und das mit ihr umgehen und zurechtkommen muss. Die Naturwissenschaften wären daher durch Geisteswissenschaft und Philosophie zu ergänzen. Aber ist das nicht eine unnötige Komplizierung der Ausbildung? Das braucht nicht so zu sein. Nach Aristoteles beginnt die Philosophie mit dem Erstaunen. Wenn wir erstaunt fragen, warum die Medizin trotz ihrer Fortschritte und Erfolge in die oben beschriebene Krise geraten ist, sind wir der Philosophie ganz nahe. Philosophie sollte in einer klaren und verständlichen Sprache einige Grund- und Lebensfragen an die moderne Medizin stellen. Ohne diese Fragen schmort die Medizin im eigenen Saft. Wer nur innerhalb der Medizin und ihrer technischen Routine arbeitet, kann sie nicht so objektiv und vorurteilslos wie einer beschreiben, der sie auch als Patient erlebt hat.
Literatur
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