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2.5 Was heißt Patient-zentrierte Medizin?

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In Deutschland ist relativ früh das Konzept einer Patient-zentrierten Medizin 22 entwickelt worden. Das Ziel war und ist, nicht die naturwissenschaftlich-technische oder krankheitszentrierte Medizin zu ersetzen, sondern sie zu ergänzen und kompensieren. Während in Deutschland dieses Konzept keine nennenswerte Resonanz fand, wurde es in den Vereinigten Staaten von Amerika Jahrzehnte später entdeckt. Das „Institute of Medicine“ sieht in „Patient-centered care“ die Grundlage einer qualitativ hochwertigen Medizin 23. Zu ihr gehört, die Präferenzen eines Kranken bei Diagnostik und Therapie zu berücksichtigen und ihn eingehend zu beraten.

Eine Barriere ist das finanzielle System, das überall technische Leistungen, aber nicht Zuhören und Beratung honoriert. Patient-zentrierte Ärzte sehen den Kranken nicht nur als Fall mit Gallenstein, Magengeschwür oder Brustkrebs, sondern auch als Persönlichkeit. Dazu ein Beispiel: Ein Arzt kommt bei der Visite zu einer 83-jährigen Frau, die wegen einer Lungenembolie in einer Klinik liegt. Er begrüßt sie freundlich und erfährt, dass sie in ihrer Jugend im Nazi-besetzten Frankreich der „Résistance“ angehörte. Der Arzt hört aufmerksam zu. Das Gespräch dauert nicht länger als fünf Minuten. Für den Arzt war sie plötzlich kein Fall mehr mit Lungenembolie in Raum 8, sondern eine Frau mit einer sehr persönlichen Geschichte 24.

Wie wichtig es ist, bei diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen die Perspektive des Patienten zu berücksichtigen, erfährt der Arzt, wenn er selbst erkrankt und mit einem Karzinom oder einem Herzinfarkt konfrontiert wird. Er muss jetzt lernen, mit der neuen Situation umzugehen, er erfährt unmittelbar, dass es neben dem objektiven Krankheitsprozess gleichzeitig ein subjektives Erlebnis mit Sorge und Angst gibt.

Zur Patient-zentrierten Medizin gehören Umgangsformen: Es ist nicht selbstverständlich, dass der Arzt dem Kranken bei der Visite die Hand gibt und ihn fragt, wie er sich in der Klinik fühlt. Es ist noch weniger selbstverständlich, sich zu dem liegenden Kranken zu setzen, um auf gleicher Augenhöhe mit ihm zu sprechen.

Patient-zentrierte Medizin hat viele Vorteile: Sie befriedigt den Kranken, er hält die empfohlene Therapie besser ein und seine Krankheit verläuft günstiger. Sie nützt auch dem Arzt, weil sie hilft, ein Burnout-Syndrom zu vermeiden 25, 26, das durch Verlust der Freude an der Arbeit (emotionale Erschöpfung), Behandlung der Patienten als Objekte (Depersonalisation) und dem Gefühl des eigenen Versagens charakterisiert wird. Die Arbeit erscheint dann sinnlos. Medizinische Fakultäten lehren vorwiegend krankheitszentrierte Medizin, d. h. die Ursachen und Mechanismen von Krankheiten, aber viel zu wenig die Bedeutung einer persönlichen Arzt-Patient-Beziehung, die heilsam für beide Partner ist.

Literatur

1 Bergdolt K. Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute. Beck, München 2004: 151

2 Ackerknecht EH. Kurze Geschichte der Medizin. Enke, Stuttgart 1967: 19

3 Engelhardt K. Das Arzt-Patient Verhältnis im Wandel der Zeit. In: Perspektiven einer zukünftigen Medizin und eines sich wandelnden Arztbildes, hrsg. von M. Engelhardt, C. Wiese u. R. Mertelsmann. Rombach, Freiburg 2007: 71 – 79

4 Psaty BM, Kronmal RA. Reporting mortality findings in trials of rofecoxib for Alzheimer disease or cognitive impairment. JAMA 2008; 299: 1813 – 1817

5 Harris JC. Towards a restorative medicine – the science of care. JAMA 2009; 301: 1710 – 1712

6 Hartzband P, Groopman J. Untangling the Web – Patients, doctors, and the Internet. N Engl J Med 2010; 362 1063 – 1066

7 Floer B, Schnee M, Böcken J et al. Shared decisions making. Gemeinsame Entscheidungsfindung als Patientenperspektive. Dtsch Med Wochenschr 2004; 129: 2343 – 2347

8 Kreß H. Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz – Selbstbestimmungsrechte – heutige Wertkonflikte. 2. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2009: 24

9 Perry JE, Churchill IR, Kirschner HS. The Terri Schiavo Case. Ann Intern Med 2005; 143: 744 – 748

10 Kapp L. Heart transplantat recipient climbs the Matterhorn. Lancet 2003; 362: 880

11 Engelhardt K, Wirth A, Kindermann L. Kranke im Krankenhaus. Grenzen und Ergänzungsbedürftigkeit naturwissenschaftlich-technischer Medizin. 2. Auflage Enke, Stuttgart 1987

12 Arora V, Gangireddy S, Mehrotra A et al. Ability of hospitalized patients to identify their in-hospital physiciens. Arch Intern Med 2009; 169: 199 – 201

13 Engelhardt M. Patientenbetreuung – Forschung – Lehre. Eine mögliche Trias? In: Perspektiven einer zukünftigen Medizin und eines sich wandelnden Arztbildes, hrsg. Von M. Engelhardt, C. Weise und R. Mertelsmann. Rombach, Freiburg 2007: 81 – 86

14 Langwitz W, Denz M, Keller A et al. Spontaneous talking time at start of consultation in outpatient clinic. BMJ 2002; 325: 682 – 683

15 Coulter A. What do patients and the public want from primary care? BMJ 2005; 331: 1199 – 1201

16 Blawar K. Pillen für Liebe, Sport und Job. SZ 28./29. April 2007

17 Wilder J. Praxistipp: Igeln – aber richtig. Nordlicht. Offizielles Mitteilungsblatt der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein 2008; 11: 38 – 39

18 Lee TH, Brennan TA. Direct-to-consumer marketings of high-technology screening tests. N Engl J Med 2002; 346: 529 – 531

19 Illes J, Kann D, Karetzky K et al. Advertising, patient decision making, and selfreferral for computed tomography and magnetic resonance imaging. Arch Intern Med 2004; 164: 2415 – 2419

20 Hipp R, Prengel A, Nebl T et al. Der Patient als Kunde – Chancen und Risiken einer neuen Positionierung für den Patienten im Krankenhaus. Dtsch Med Wochenschr 2010; 135: 251 – 255

21 Paternítí DA, Fancher TL, Cipri CS et al. Getting to „No“. Strategies primary care physicians use to deny patients requests. Arch Intern Med 2010; 170: 381 – 388

22 Engelhardt K. Patientenzentrierte Medizin. In: Der Patient in seiner Krankheit. Thieme, Stuttgart 1971: 1 – 14

23 Epstein RM, Peters E. Beyond information. Exploring patients' preferences. JAMA 2009; 302: 195 – 197

24 Schattner A. The silent dimension. Expressing humanism in each medical encounter. Arch Intern Med 2009; 169: 1095 – 1099

25 Krasner MS, Epstein RM, Beckman H et al. Association of an educational program in mindful communication with burnout, empathy and attitudes among primary care physicians. JAMA 2009; 302: 1284 – 1293

26 Schanafelt TD Enhancing meaning in work. A prescription for preventing physician burnout and promoting patient-centered care. JAMA 2009; 302: 1338 – 1340

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