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3.3 Fortschritte und Fallgruben: Gen-Diagnostik

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Die Propheten des Alten Testaments hatten oft Unglück prophezeit. Genetisches Screening ist eine Form der säkularen Prophetie. „Zum früheren religiösen Welt- und Menschenbild“, sagt der Medizinethiker Hartmut Kreß 26, „gehörte die Vorstellung einer Determination oder Prädestination des Menschen durch Gott. Im heutigen, weitgehend postreligiösen, medizinisch-technisch bestimmten Zeitalter wird dies säkularisiert. Bei manchen Menschen entwickelt sich das Gefühl, ihr persönliches Zukunftsschicksal sei durch ihr Genom, also durch genetisch-biologische Vorgaben, geradezu determiniert.“ Das kann zu dem Gefühl von Ohnmacht und dem Schicksal Ausgeliefertsein führen. Der folgende Text wird sich mit der Gen-Diagnostik Erwachsener beschäftigen.

Nehmen wir das Beispiel eines dreißigjährigen gesunden Menschen. Durch genetische Tests kann er erfahren, dass er ein geringes genetisches Risiko für Prostatakrebs und Alzheimerkrankheit, aber ein hohes für Dickdarm- und Lungenkrebs hat. Er kann, falls er Raucher ist, mit dem Rauchen aufhören. Ein anderer mag erfahren, dass kein genetisches Risiko für Lungenkrebs besteht, und setzt das schädigende Rauchen fort. Wenn wir zu viel von den Genen erwarten, vernachlässigen wir möglicherweise die Umwelt und unseren Lebensstil. Bekommt ein eineiiger Zwilling Dickdarmkrebs, entwickelt der andere Zwilling mit weniger als 15 % Wahrscheinlichkeit ebenfalls Dickdarmkrebs 27 . Das zeigt die Macht der Umweltfaktoren. Die Alzheimer-Krankheit tritt bei weniger als 30 % der Personen auf, die ein bestimmtes Gen in sich tragen 28 . Trotzdem wurden von der Industrie Tests mit der Behauptung eingeführt, sie könnten die Krankheit voraussagen. Eine Überschätzung der Gen-Diagnostik mag bei einem pathologisch ausgefallenem Ergebnis zu einer fatalistischen Haltung, bei einem normalen zu unbegründeter Sorglosigkeit führen.

Befürworter von Tests für komplexe Krankheiten, die durch mehrere Gene (polygen) mitbestimmt werden, argumentieren folgendermaßen 29: Eine gesunde Person lässt sich testen und entdeckt zum Beispiel, dass sie ein geringes genetisches Risiko für Prostatakarzinom und Alzheimer Krankheit hat, aber ein erhöhtes für Herzkranzgefäßkrankheit, Kolon- und Lungenkarzinom. Nun könne sie ihr Verhalten ändern. Möglicherweise werden zusätzlich regelmäßige Darmspiegelungen und Computertomogramme der Lunge mit hoher Strahlendosis gemacht.

Wenn aber eine zweite Person ein größeres Risiko für Prostatakarzinom und Alzheimerkrankheit, jedoch ein geringes für Herzkranzgefäßkrankheit, Kolon- und Lungenkarzinom hat, bleibt ihr nicht mehr viel übrig, als regelmäßig das Prostata-spezifische Antigen (PSA) auf ein beginnendes Prostatakarzinom untersuchen zu lassen. So kann das Leben dieser Person durch eine unsichere Zukunft und Sorge bestimmt werden.

Komplexe, polygene Krankheiten wie Asthma, Herzgefäßkrankheit, Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, Fettsucht, Alzheimerkrankheit und Karzinome werden durch viele Gene beeinflusst, die nicht überschätzt werden dürfen. Bei einem übergewichtigen Typ-2-Diabetiker sind Lebensstil und Gewichtsnormalisierung für eine Besserung entscheidend. Eine unkritische Propagierung genetischer Tests ist kommerziell motiviert. Viele Firmen in Amerika wenden sich direkt an den Kunden, damit sie solche Tests nutzen, obwohl die Voraussage einer polygenen Krankheit ungenau ist 30 . Auch bei einem positiven Test auf Alzheimerkrankheit muss sich das Leiden nicht manifestieren, dennoch bleiben Verunsicherung und Ungewissheit. Die Person mit einem solchen Testergebnis vermeidet vielleicht einen notwendigen Wohn- und Berufswechsel. Sie kann Schwierigkeiten mit der Krankenversicherung bekommen und riskiert einen Verlust sozialer Beziehungen, falls der Test bekannt wird 31.

Der klinische Wert der meisten Tests für polygene Krankheiten ist unbewiesen, da eine Genom-Variante nicht die Krankheit manifestieren muss. Trotzdem beginnt oft nach einem positiven Gen-Test mit der geringen Möglichkeit eines Karzinoms oder einer koronaren Herzkrankheit (Herzkranzgefäßkrankheit) eine diagnostische Kaskade 22 . Der Arzt fühlt sich verpflichtet, andere Untersuchungen, eine Darmspiegelung, ein Computertomogramm oder andere Prozeduren, anzubieten.

Doch ist die Umwelt für einen viel größeren Anteil der Krankheiten verantwortlich als genetische Unterschiede. Das gilt ebenfalls für die meisten sporadisch auftretenden Karzinome 33 . Es gibt Ausnahmen des familiären Karzinoms, wozu die „Adenomatöse Polypose“ des Dickdarms zählt.

Zur Umwelt gehören Ernährungsweise, Tabak, Alkohol, Infektionen, Berufstoxine und Röntgenstrahlen. Eine Person mag im Fernsehen über Computertomografie gehört haben und bittet aus Vorsorgegründen um eine solche Untersuchung. Wird diese Person darüber informiert, dass die Strahlendosis eines abdominellen Computertomogramms 250 Röntgenaufnahmen des Brustraums entspricht? 34 . Die Summe aller diagnostischen Röntgenstrahlen mag zu einem Karzinomrisiko beitragen.

Genetische Tests können bei Frauen mit familiärem Brustkrebs angebracht sein. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es pro Jahr etwa 40 000 Neuerkrankungen an Brustkrebs, von denen 5 % familiär bedingt sind 35 . Wenn Mutationen der Gene BRCA 1 und BRCA 2 vorliegen, wird ein engmaschiges Früherkennungsprogramm angeboten. Eine genetische Beratung ist nötig, da BRCA-1- und -2-Mutationen nicht nur mit einem erhöhten Risiko für Brust-, sondern auch für Ovarkarzinom verbunden sind 36 . Viele Frauen erwägen eine vorbeugende Operation, weil sie sich vor der ungewissen Zukunft fürchten. Die genetische Beratung sollte die Familienanamnese, die persönlichen Werte und den Grad der Sorge einbeziehen.

Die Huntingtonsche Nervenkrankheit („Veitstanz“, Chorea Huntington) wird durch autosomal-dominante Gene übertragen, die penetrant sind. Wenn ein Verwandter 1. Grades eine solche Krankheit hat, besteht eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, sie im Verlauf des Lebens ebenfalls zu bekommen 37.

Der Vater und Großvater eines gesunden Mannes Mitte dreißig hatten eine Chorea Huntington 38 . Dieser Vater von zwei Kindern wagte eine genetische Diagnostik. Es wurde ihm ein positiver Befund mitgeteilt, der sein Leben nun belastet, weil es keine adäquate Therapie gibt. Um Suizide zu vermeiden, ist eine genetische Beratung vor und nach dem Test erforderlich. Sie sollte auch das Recht auf Nichtwissen einschließen, denn einige Menschen erfahren durch das positive Resultat einen schweren Schock mit Auswirkungen auf das Ehe- und Berufsleben, sie werden depressiv, persönliche Beziehungen können zerbrechen. Ehegatten von Trägern des Huntington-Gens befürchten, dass die Krankheit bei ihren Kindern ausbricht 39.

Seit einigen Jahren hofft die Medizin, dass durch Gen-Diagnostik eine „personalisierte“ Therapie möglich sein wird. Sie ist nicht mit der früher besprochenen Patient-zentrierten Medizin zu verwechseln. „Personalisierte“ Therapie will durch Gen-Tests erreichen, dass Patienten gewisse Arzneimittel besser tolerieren. Die Tests sollen voraussagen, wie Patienten auf Medikamente reagieren, zum Beispiel auf einen gerinnungshemmenden oder Cholesterin-senkenden Arzneistoff.

Wird man in Zukunft häufiger das ganze Genom sequenzieren und auf Gen-Varianten bzw. Mutationen untersuchen? Wie wird ein Mensch reagieren, wenn er von vielen potenziellen Gefährdungen weiß? Welche Beratung wird gewährleistet und wer soll sie vornehmen? Die komplette Sequenzierung des menschlichen Genoms kostet heute weniger als 10 000 Dollar, in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch wesentlich weniger. Sind diese Summen bei einer Genom-Sequenzierung breiterer Bevölkerungsschichten gerechtfertigt? Die Gesellschaft muss demokratisch entscheiden, welche Schwerpunkte der Prävention, Diagnostik und Therapie sie bei begrenzten Ressourcen setzen will. Falls sich in Zukunft mehr Menschen zu einer Sequenzierung des ganzen Genoms entschließen, müssten sie vorher genetisch beraten werden, welche Folgen die Tests für sie haben.

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