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1.1 Fortschritt und Spezialisierung

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Im 19. Jahrhundert begann die Medizin eine angewandte Naturwissenschaft zu werden. Ernst von Leyden 1 sagte in seiner Eröffnungsrede zum Internistenkongress 1887: „Die Naturwissenschaft, welche in der Gegenwart die größten Triumphe feiert, prägt auch den Versammlungen den Charakter auf. Unter ihrer Flagge segelt auch die Medizin. Pathologie und Therapie sollen mechanische Wissenschaften werden.“ Zwei Jahre zuvor hatte Louis Pasteur seinen Impfstoff gegen Tollwut entwickelt. In den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das erste Antibiotikum, das Penicillin, eingesetzt. 1953 entdeckten Watson und Crick die Doppelhelixstruktur der Desoxyribonukleinsäure (DNS). Der vorläufige letzte Schritt der Genforschung ist das „Human Genome Project“, das die menschlichen Gene auf den Chromosomen genau aufschlüsselt. Fortschritt bringt Nutzen: molekularbiologische Erkenntnisse der Krankheitsentstehung, Labortests, bildgebende diagnostische Verfahren wie Ultraschall, Computertomografie und magnetische Resonanztomografie. Krankheiten werden wirkungsvoller als früher behandelt, beispielsweise Herz- und Lungenkrankheiten, Magengeschwüre und Infektionen. Vielleicht besiegt die Medizin eines Tages, so hofft man, alle Krankheiten und sogar den Tod. Das wird eine Illusion sein, aber Technikfeindlichkeit wäre falsch. Sie vergisst die Hilfe, durch naturwissenschaftliches Wissen und technisches Können vorteilhaft eingreifen zu können. Die moderne Medizin richtet ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf kranke Organe und die physikochemischen Mechanismen der Krankheiten, um effektiv die gestörte Funktion und Struktur dieser Organe wiederherzustellen. Seit mehr als hundert Jahren hat sich dieses Paradigma als erfolgreich erwiesen.

Aber es gibt auch Widerspruch. Eine oft gehörte Kritik an der modernen Medizin bezieht sich auf die mangelnde Zeit und das zu geringe Zuhören der Ärzte. Experten, die viele medizinische Techniken bis zur Perfektion beherrschen, können nicht mehr viele Lebensumstände des Kranken kennen. Ist der heutigen Medizin das Interesse am Subjekt, ist ihr die Kunst des Heilens abhandengekommen 2, 3? Vielen Patienten, Angehörigen und Ärzten ist eine überwiegend krankheits- und nicht gleichzeitig Patient-zentrierte Medizin zu eindimensional 4.

Mit dem Fortschritt sind zwei Dinge verbunden: Erstens ist er teuer. Jede Leistungsexplosion führt zu einer Kostenexplosion. Zweitens ist jeder Fortschritt mit einer zunehmenden Spezialisierung verbunden. Sie hat durchaus Vorteile: Gastroenterologen, Kardiologen und andere Spezialisten beherrschen meistens ihre Techniken und Interventionen. Die Spezialisierung brachte es auch mit sich, dass es viele Psychoexperten einerseits, reine Somatiker andererseits gibt. Dieser zunehmende Trend zur Spezialisierung ist nicht immer günstig, weil es viele Patienten mit chronischen Krankheiten gibt, die eine kontinuierliche Betreuung von einem Generalisten, einem guten Hausarzt, benötigen. Ein alter Mensch hat oft mehrere Krankheiten gleichzeitig. Ihre Integration und ihre Behandlung, die die Verträglichkeit verschiedener Medikamente sorgfältig überprüft, ist eine Aufgabe des Generalisten. Psychologisches und somatisches Spezialistentum, das den psychophysischen Dualismus des Descartes in die tägliche Praxis überträgt, vergisst leicht, dass auch der kranke Mensch eine Einheit ist, die nur künstlich in Psyche und Soma aufzuteilen ist. Der Spezialist hat nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch hierzulande ein höheres Prestige als der Generalist. Zwischen 1997 und 2005 fiel in den USA die Zahl der Studenten, die Allgemein-, bzw. Familienmedizin wählten, um 50 5. Ein wesentlicher Grund: Operative Eingriffe und Prozeduren des Spezialisten werden wesentlich besser bezahlt als das Sprechen des Hausarztes mit seinem Patienten, der von ihm eingehend beraten wird. Das gilt auch für Deutschland. Wenn die Vergütung eines Allgemeinarztes so gering ist, dass er für einen Patienten nur acht Minuten oder weniger erübrigen kann, ist dann ein Eingehen auf psychosoziale und emotionale Themen noch realistisch?

Die Beurteilung der modernen Medizin durch die Bevölkerung erscheint zwiespältig. Einerseits werden naturwissenschaftlich-technische Meilensteine bewundert, andererseits wird von einer „seelenlosen Medizin“ gesprochen. Die Schulmedizin wird nicht selten mit Etiketten wie „böse Chemie“ oder „kalte Apparatemedizin“ versehen. Viele Kranke, vor allem solche, denen die Schulmedizin sagt, sie könne bei ihnen trotz Schmerzen und Leidensdruckes nichts finden, wenden sich der alternativen Medizin zu. Sie suchen offenbar das „Medikament Arzt“, das vertrauensvolle Gespräch und das Gefühl, mit den eigenen Sorgen und Ängsten nicht allein gelassen zu werden. Bei einer Befragung meinten 31 % der deutschen Erwachsenen, das Gesundheitswesen sei dringend reformbedürftig und 58 % stuften ihr eigenes Befinden als schlecht ein 6. Trotz der medizinischen Fortschritte besteht ein „Gesundheitsparadox“ 7: Man ist mit der persönlichen Gesundheit unzufrieden. Je mehr man sich mit Gesundheit und dem eigenen Körper beschäftigt, wozu Medizin, Medien und Pharmaindustrie anregen, umso mehr steigen Besorgnis und Unsicherheit.

Verlorene Patienten?

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