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3.1 Der Siegeszug des naturwissenschaftlichen Paradigmas

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Die Medizin wandte sich von naturphilosophischen Spekulationen ab. Die genaue Beobachtung des kranken Körpers und die Einbeziehung physikalischer, chemischer und experimenteller Methoden gehörten zum neuen Paradigma. „Die experimentelle Methode“, sagte der französische Physiologe Claude Bernard (1813 – 1873), „ist, genau betrachtet, nichts anderes als eine logische Schlussfolgerung, mit deren Hilfe wir unsere Ideen methodisch der Prüfung durch Tatsachen unterwerfen!“ 1.

René Descartes (1596 – 1650), der erste Denker der Moderne, hatte eine Voraussetzung für das experimentelle Verfahren geschaffen, indem er den Menschen in zwei Substanzen, das denkende Ich (res cogitans) und die Körpermaschine (res externa), zerlegte.

Ernst von Leyden 2 diagnostizierte in seiner Eröffnungsrede zum Internistenkongress 1887: „Die Naturwissenschaft, welche in der Gegenwart die größten Triumphe feiert, prägt auch den Versammlungen den Charakter auf. Unter ihrer Flagge segelt auch die Medizin. Pathologie und Therapie sollen mechanische Wissenschaften werden.“ Die Medizin begann exakt zu werden.

Die an den heutigen Universitäten gelehrte Medizin, die Schulmedizin, verdankt ihre Erfolge der konsequenten Anwendung der Naturwissenschaften und Technik. Krankheit ist nicht mehr, wie Religionen glaubten, eine Folge der Sünde, eine Gottesstrafe oder die Auswirkung dämonischer Kräfte, sondern ein veränderter und labiler Zustand des Körpers, der durch Umwelt- und genetische Faktoren verursacht wird. Der Begriff Schulmedizin ist erstmals 1876 in der homöopathischen Literatur im abwertenden Sinn nachzuweisen 3 . Als Schulmediziner und Internist benutze ich den Begriff neutral.

Schulmedizin ist nicht zu verteufeln, ihre naturwissenschaftlichen und technischen Methoden tragen dazu bei, Krankheiten besser zu erkennen und zu behandeln.

Die Medizin und die mit ihr eng verbundene Hygiene steigerten und steigern die durchschnittliche Lebenserwartung in unserem Kulturkreis.

Drei wichtige Prinzipien der Schulmedizin sind: die Falsifizierbarkeit medizinischer Hypothesen im Sinn von Karl R. Popper. Zweitens die Evidenz-basierte Medizin und drittens das Prinzip des Reduktionismus.

Falsifizierbarkeit. Die Philosophie Karl Poppers unterscheidet sich von dogmatischen Weltanschauungen, indem er wie Albert Einstein Experimente vorschlägt, die manche Theorie als unhaltbar erweisen. „So kam ich“, formuliert Popper in der Beschreibung seiner intellektuellen Entwicklung 4, „gegen Ende des Jahres 1919 zu dem Schluss, dass die wissenschaftliche Haltung die kritische war; eine Haltung, die nicht auf ›Verifizierung‹ ausging, sondern kritische Überprüfungen suchte: Überprüfungen, die die Theorie widerlegen konnten; die sie falsifizieren konnten …“

Was bedeutet das für die Diagnostik? Nachdem ein Patient seine Beschwerden und Symptome dem Arzt berichtet und der Arzt ihn gründlich untersucht hat, wird beispielsweise die Vermutungsdiagnose einer Schilddrüsenunterfunktion gestellt. Diese Vermutung ist durch eine Hormonbestimmung zu überprüfen. Ergibt sie normale Werte, ist die ärztliche Hypothese widerlegt. Allerdings gibt es falsch-normale Laborteste, sodass bei einer begründeten klinischen Verdachtsdiagnose die Hormonbestimmung zu wiederholen ist.

Kritische Überprüfungen, wie sie Popper für die Wissenschaft anmahnt, tragen zu genauen Diagnosen bei und nützen dem Kranken.

Evidenz-basierte Medizin. Dieses zweite Prinzip fragt nach Beweisen für das ärztliche Handeln, die vor fragwürdigen diagnostischen und therapeutischen Techniken schützen. Evidenz-basierte Medizin setzt auf rationale Diagnostik und Behandlung, die auf wissenschaftlichen Nachweisen beruhen. Bildgebende Verfahren wie Röntgenaufnahmen und Ultraschall (Sonografie) sind wertvolle Hilfsmittel, aber sie sind überlegt anzusetzen, damit es nicht zur Idololatrie, zu einem unkritischen Bilderdienst, kommt 5.

Die meisten akuten Rücken- oder Kreuzschmerzen ohne Zeichen der „Roten Flagge“, d. h. ohne stärkere neurologische Symptome und ohne klinische Hinweise auf Entzündungen, Systemkrankheiten, Karzinome und andere organische Ursachen, haben eine gute Prognose und benötigen keine bildgebenden Verfahren wie Computer- oder Magnetische Resonanztomografie. An diese Leitlinie der Evidenz-basierten Medizin sollte sich der Arzt halten, denn eine Bildgebung der Wirbelsäule ohne Begründung (Indikation) bessert nicht das Ergebnis. Im Gegenteil: Es gibt schädliche Auswirkungen einer Überdiagnostik wie die Strahlenbelastung eines Computertomogramms. Außerdem stehen abnorme Befunde der Bildgebung oft nicht mit den aktuellen Beschwerden in einem ursächlichen Zusammenhang. Solche Befunde vermindern das Bewusstsein der eigenen Gesundheit, verunsichern und führen zu unnötigen Operationen 5.

Wegen der großen praktischen Bedeutung akuter Kreuzschmerzen werde ich auf dieses Problem etwas ausführlicher zurückkommen. Nur so viel an dieser Stelle: Wenn die Leitlinien der Evidenz-basierten Medizin bei unkomplizierten Rückenschmerzen keine bildgebenden Verfahren empfehlen – warum erfolgen sie so häufig? Patienten mögen sie wünschen, weil sie das Visuelle überzeugt, Ärzte wollen den Kranken zufriedenstellen oder fürchten juristische Prozesse, falls etwas übersehen wird. Das Patient-Arzt-Verhältnis in der Hightech-Ära sollte ein Gespräch darüber einschließen, wie unnötige und schädliche Überdiagnostik zu vermeiden ist.

Ein wichtiger Bezugspunkt für die Evidenz-basierte Medizin sind randomisierte kontrollierte Studien oder, wie sie angloamerikanisch genannt werden, Randomized Controlled Trials (RCTs). Um zu testen, ob ein neues Medikament einem Placebo (Scheinmedikament) überlegen ist, werden zwei Gruppen nach dem Zufallsprinzip, gegenübergestellt. Nach vorheriger Aufklärung und Einwilligung der freiwilligen Versuchspersonen erhält die eine Gruppe das neue Medikament, die andere Placebo. Um Vorurteile, psychische Einflüsse und Verzerrungen der Ergebnisse auszuschließen, wissen weder Arzt noch Patient, wer Placebo oder das aktive Medikament genommen hat (Doppelblindversuch). 1948 wurde in Großbritannien die erste RCT mit dem Tuberkulosemittel Streptomycin veranstaltet. Der deutsche Internist Paul Martini (1889 – 1964) sprach sich in einer „Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung“ schon früh für eine vergleichende und kritische Medikamentenbeurteilung aus, obwohl der Name Evidenz-basierte Medizin erst um 1995 entstand 6 . Da diese sich auf RCTs bezieht, kommt es auf ihre Verlässlichkeit an. Für viele trifft das zu. Allerdings gibt es Hinweise, dass von pharmazeutischen Unternehmen finanzierte RCTs im Vergleich zu unabhängig von den Firmen durchgeführte Untersuchungen häufiger ein Ergebnis haben, das für den Wirkstoff der Firma günstig ausfällt 7 . Wenn umgekehrt RCTs zu Resultaten kommen, die für das neue Medikament des pharmazeutischen Herstellers ungünstig sind, dürfen die Studien oft nicht publiziert werden 8 . Dadurch kommt es zu einem „Bias“, zu einer verzerrten Einschätzung des therapeutischen Wertes. Randomisierte kontrollierte Studien sind für eine Evidenz-basierte Medizin essenziell. Deshalb benötigen wir mehr RCTs, die unabhängig von pharmazeutischen Firmen finanziert werden.

Reduktionismus. Was bedeutet dieses dritte Prinzip für die Hochleistungsmedizin? Frühere metaphysische Theorien wurden von der Empirie abgelöst, der es auf Beobachtung und Messung ankommt. Deshalb geht die Schulmedizin analytisch vom Symptom zur Diagnose vor. Ihr Ziel ist die Lokalisation von Krankheiten in Organen, Zellen und Molekülen. Der leidende Mensch als Subjekt und Person steht dabei nicht im Fokus dieses effektiven, jedoch einseitigen Reduktionismus.

Seine Methode ist angebracht auf der Ebene der Krankheitsmechanismen mit ihrer Anatomie, Biochemie und Pathologie. Dabei führt das objektive Vorgehen des Messens, Zählens und Quantifizierens zu einer überzeugenden Krankheitsbekämpfung.

Man hat beispielsweise erforscht, dass bei der Parkinsonkrankheit (Schüttellähmung) der Nervenbotenstoff Dopamin fehlt, der therapeutisch verabreicht wird.

Reduktionismus, Evidenz-basierte Medizin und kritische Überprüfungen von Vermutungsdiagnosen (Falsifizierbarkeit) sind wertvolle Elemente der naturwissenschaftlich-technischen Medizin. Allerdings lassen diese Methoden den Patienten mit seinem Befinden, seinem Umgang mit chronischer Krankheit und seine persönliche Perspektive aus dem Spiel. Reine naturwissenschaftlich-technische Medizin hat Grenzen und muss durch Kommunikation mit dem Kranken, durch Empathie und Beratung ergänzt werden.

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