Читать книгу Verlorene Patienten? - Karlheinz Engelhardt - Страница 21
3.2 Labortests und bildgebende Verfahren
ОглавлениеLabortests und bildgebende Verfahren wie Ultraschall, Herzkatheter, Magnetische Resonanz- und Computertomographie haben die Diagnose organischer Krankheiten präzisiert. Labortests prüfen die Funktion von Nieren, Leber, Herz und anderen Organen. Sie umfassen Untersuchungen zur Früherkennung und Verlaufsbeobachtung von Karzinomen.
Labortests und bildgebende Verfahren haben seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts viel mehr Prestige als Anamnese und unmittelbare Untersuchung. Damit Hightech-Methoden sinnvoll eingesetzt werden können, sind aber Anamnese und unmittelbare körperliche Untersuchung die Voraussetzung. Außerdem muss der Arzt die Grenzen der technischen Methoden kennen. Ihre begrenzte Sensitivität und Spezifität werde ich erörtern.
Welchen Wert technische Methoden haben, sieht man am besten, wenn durch Unterdiagnostik Krankheiten nicht erkannt werden: Leidet eine ältere Frau plötzlich unter starken Rückenschmerzen, dürfen sie nicht als banal abgetan werden. Der Arzt muss an eine Osteoporose und an eine dadurch hervorgerufene Wirbelkörperfraktur denken, für deren Diagnostik ein Röntgenbild notwendig ist. Unterdiagnostik ist auch dann der Fall, wenn bei einem Verdacht auf Tuberkulose oder Lungentumor nicht geröntgt wird. Bei klinischen Hinweisen auf eine Herzgefäßkrankheit ist es ein Fehler, kein Elektrokardiogramm zu schreiben und nicht Blutdruck, Cholesterin und Blutzucker zu untersuchen.
Vorbedingung einer guten Diagnostik, die sowohl Unter- als auch Überdiagnostik vermeidet, sind im Hightech-Zeitalter Anamnese und körperliche Untersuchung.
Unter Anamnese wird die vom Arzt erhobene Vorgeschichte der Krankheit und des Kranken verstanden. Sie umfasst die aktuellen Beschwerden, überstandene Krankheiten und die biografische Anamnese. Die Familien-Anamnese beschäftigt sich mit Krankheiten und Todesursachen in der Familie. So ist bei Herzbeschwerden eines fünfundvierzig Jahre alten Rauchers die Auskunft des Kranken sehr ernst zu nehmen, dass sein Vater mit fünfzig einen Herzinfarkt hatte.
Zur Anamnese gehören Fragen nach vegetativen Funktionen (Appetit, Gewicht, Schlaf, Stuhlgang u. a.), nach dem Alkoholkonsum, nach Rauchen und nicht zuletzt nach eingenommenen Medikamenten. Die eben erwähnte biografische und die soziale Anamnese fokussieren auf die Lebenswelt des Kranken. Wie geht er mit einer chronischen Krankheit um? Irritiert ihn ein Berufsstress? Leidet er unter seinen Arbeitsbedingungen? Bestehen depressive Symptome wegen Arbeitslosigkeit?
Auch Labortests und bildgebende Verfahren werden durch die Anamnese gesteuert. Um technische Zusatzdiagnostik richtig zu beurteilen, müssen wir außerdem ihre Grenzen kennen. Sie werden mit den Begriffen der Sensitivität und Spezifität bezeichnet ▶ 9 . Die Sensitivität gibt den Anteil richtig-positiver Befunde bei Kranken an. Dazu ein Beispiel: Bei 100 Patienten mit einer Herzkranzgefäßkrankheit erfolgt ein EKG mit körperlicher Belastung (Ergometrie). Bei 90 Patienten fällt der Test pathologisch (richtig-positiv) aus. Die Sensitivität beträgt 90 %, und 10 Patienten haben einen falsch-negativen (falsch-normalen) Befund.
Der Begriff der Spezifität gibt die richtig-negativen Befunde bei Gesunden an. Bleiben wir bei der Ergometrie: 100 Personen ohne Herzgefäßkrankheit wünschen eine Ergometrie: 90 Ergebnisse sind richtignegativ, aber 10 falsch-positiv. Die Spezifität beträgt 90 %.
So besitzt jede Methode unter Einschluss der Labortests und der bildgebenden Verfahren ihre je verschiedene Sensitivität und Spezifität, die man berücksichtigen sollte, um sich nicht in falscher Sicherheit zu wiegen oder sich unnötig zu ängstigen. Der folgende Fall stellt dar, welche Folgen es haben kann, wenn die Sensitivität einer Methode nicht beachtet wird: Eine Frau bekommt im Alter erstmals epileptische Anfälle, die der englische Neurologe Jackson (1884 – 1911) beschrieben hat und die nach ihm benannt sind. Aufgrund dieses klinischen Befundes ist die Verdachtsdiagnose einer organischen Gehirnkrankheit, vor allem eines Hirntumors, begründet. Es wird ein Computertomogramm veranlasst, das völlig normal ausfällt. Daraufhin diagnostiziert der konsultierte Nervenarzt „psychogene Anfälle“, ohne die begrenzte Sensitivität im Computertomogramm mit falsch-negativen Ergebnissen zu berücksichtigen. Die Jackson-Anfälle treten weiter auf. Ein zweites Computertomogramm Wochen später zeigt einen schon inoperablen, bösartigen Hirntumor, an dem die Patientin stirbt.
Labortests sind wichtig, sie müssen aber gezielt nach Anamnese und körperlicher Untersuchung eingesetzt werden. Außerdem sind ihre Grenzen zu beachten, die durch Sensitivität und Spezifität gesetzt werden. Eine ungezielte „Schrotschuss“-Labordiagnostik ist nachteilig. In einem deutschen Krankenhaus stiegen trotz verminderter Bettenzahl die Laboruntersuchungen von 150 000 im Jahr 1965 auf 2,25 Millionen im Jahr 2007 ▶ 10 . Sehr viele Untersuchungen werden batteriemäßig und unkritisch angeordnet. Das ist eine Ursache dafür, dass die Laborkosten dieses Krankenhauses von 1965 bis 2007 auf das Fünffache anstiegen. Durch falsch positive Ergebnisse der Tests kommt es häufig zu Angst, Sorge und teilweise aggressiven Nachuntersuchungen.
Einer 55-jährigen Frau mit Ermüdbarkeit und Stimmungsschwankungen wurden ohne ausreichende Begründung fünf Röhrchen Blut abgezapft. Dabei fiel ein sogenannter „Tumor-Marker“, das Carcino-embryonale Antigen (CEA), wegen seiner begrenzten Spezifität falsch positiv aus ▶ 10 . Die Frau bekam Angst. Es musste eine Koloskopie folgen, die ein normales Ergebnis hatte. Das CEA ist für die Prüfung des Behandlungserfolgs und für die Entdeckung von Rückfällen eines operierten Magen-Darm-Karzinoms geeignet, nicht aber als Vorsorgeuntersuchung, bzw. als „Screening“-Test, da CEA bei vielen gutartigen Zuständen erhöht sein kann ▶ 11.
Routinemäßig werden vor der Operation eines grauen Stars oft Laboruntersuchungen angeordnet, obwohl ihr Wert unsicher ist ▶ 12 . Auch bei anderen einfachen Operationen sollte mehr Wert auf Anamnese und unmittelbare Untersuchung gelegt werden, um dann Tests selektiv anzuordnen. Zu extensives Testen schadet, weil es häufig zu falsch-positiven Ergebnissen mit Beunruhigung des Patienten und Folgeuntersuchungen kommt. Nur 15 % der Patienten wurden präoperativ von einem Arzt untersucht. Dabei wird übersehen, dass Gespräch und Untersuchung die Furcht des Kranken vor Anästhesie und Operation reduzieren ▶ 13.
2004 wurden in den Vereinigten Staaten von Amerika mehr als eine Million Stents (Metallröhrchen) in verengte Kranzgefäße über Herzkatheter eingelegt, davon 85 % bei stabiler Angina Pectoris, also bei Patienten, die nicht in Ruhe, sondern nur bei körperlicher Belastung Herzschmerzen haben ▶ 14 . Eine stabile Angina lässt sich ohne Katheter optimal mit Medikamenten behandeln. Patienten dürfen deshalb erwarten, dass Kardiologen mit ihnen über verschiedene Optionen sprechen und nicht gleich einen Herzkatheter anraten. Kardiologen haben einen Interessenkonflikt: Auf der einen Seite wollen sie Kranken helfen, auf der anderen Seite lässt die zunehmende Kapazität von Geräten die Zahl unnötiger Herzkatheteruntersuchungen ansteigen. 20 % dieser mit einer Strahlenbelastung und mit potenziellen Nebenwirkungen verbundenen Interventionen erfolgen in Deutschland an Privatpatienten, während man aufgrund des Versicherungsstatus nur mit einem Anteil von 10 % rechnen würde ▶ 15 . Herzkatheter mit und ohne koronare Eingriffe sind finanziell einträglicher als eine ebenso gute medikamentöse Behandlung mit Lebensstilberatung bei Kranken mit stabiler Angina. Zur Lebensstilberatung gehören Normalgewicht, körperliche Aktivität, Nichtrauchen und gesunde Ernährung.
Die hohen Kosten im Gesundheitswesen entstehen nicht nur durch den Fortschritt, sondern auch durch unnötige Übertechnisierung. Bereits 1998 war die Zahl der Herzkatheter mit 6441 pro Million Einwohner in Deutschland die höchste in Europa ▶ 16.
Ein 58-jähriger Mann mit stabiler Angina Pectoris wird zu einer „Herz-Perfusions-Bildgebung“ bei körperlicher Belastung (Belastungs-Myocard-Perfusion) überwiesen. Da das Ergebnis leicht krankhaft ausfällt, folgen eine Computer-Koronarangiografie und ein Herzkatheter. Alle drei Tests haben bei diesem Mann einen unsicheren Wert, der Patient könnte aber auch ohne alle Tests medikamentös ausgezeichnet behandelt werden ▶ 17 . Alle drei Tests verursachen hohe Kosten und Strahlenbelastung. Zwei Prozent der Karzinome mögen durch medizinische Strahlen verursacht werden. Unser medizinisches System sieht nichts Falsches in der Diagnostik des 58-jährigen Mannes. Patienten sind oft zufrieden, wenn viel Hightech angewendet wird, aber sie sind nicht ausreichend über die Strahlendosis informiert. Als hohe Strahlendosis gelten 20 Millisieverts (mSv). Die eben erwähnte Computer-Untersuchung der Herzkranzgefäße (CT-Koronarangiografie) mit 22 mSv entspricht 309 Routine-Röntgenaufnahmen des Brustraums ▶ 18 . Viele Patienten wissen das nicht, sie müssten über Vorteile und Risiken besser aufgeklärt werden. Ein modernes Paradigma lautet: Je mehr Tests gemacht werden, umso besser. Aber mehr Technologie bedeutet nicht automatisch gute Medizin. Computertomogramme sollten nur erfolgen, wenn sie wirklich angebracht, d. h. indiziert sind. 30 % oder mehr der Computertomogramme sind jedoch unnötig ▶ 19.
Rücken- und Kreuzschmerzen sind sehr häufig. Fast jeder Erwachsene wird in seinem Leben einmal mit ihnen konfrontiert. Deshalb komme ich auf dieses wichtige Thema zurück. Es geschieht nicht selten, dass bei Rückenschmerzen ohne Anamnese und Untersuchung geröntgt wird und dann dem unglücklichen Kranken Bilder gezeigt werden, die ihm die Hoffnung rauben, ein normales Leben führen zu können ▶ 20 . Von den fünf A der Diagnostik gehört die Anamnese an den Beginn. Es folgen Ausziehen, Anschauen und Anfassen. Wer bei diesen vier A verweilt, zeigt, dass er Arzt ist. Das weithin beliebteste A, die Apparatemedizin, haben Schmerzexperten mit Recht an die fünfte Stelle verbannt. Wenn aufgrund der Bilder Worte fallen wie „Das ist keine Wirbelsäule, sondern ein Trümmerhaufen!“ oder „Bewegen Sie sich bloß vorsichtig, sonst sitzen Sie im Rollstuhl!“, dann tragen sie zur Schmerzsteigerung und Chronifizierung bei ▶ 21.
Bereits 1994 ▶ 22 wurde bei 98 Freiwilligen ohne Rückenschmerzen die Lendenwirbelsäule mit Magnet-Resonanztomografie (MRT) untersucht. Nur 36 % dieser völlig beschwerdefreien Personen hatten normale Bandscheiben. 52 % wiesen Extensionen, 27 % sogar den Vorfall einer Bandscheibe auf.
Bildgebende Verfahren wie MRT sind nur angemessen, wenn Anamnese und unmittelbare Untersuchung den Verdacht auf Nervenschädigung, Metastasen, Entzündung oder eine andere organische Ursache ergeben, wenn also eine „Rote Flagge“ weht. Nicht angebrachte Bildgebung kann Befunde zeigen, die ursächlich nichts mit den aktuellen Beschwerden zu tun haben. Die Zunahme der Operationen an der Lendenwirbelsäule ist teilweise durch nicht indizierte Bildtechniken zu erklären ▶ 23.
Deshalb empfehlen Richtlinien der Evidenz-basierten Medizin bei unkomplizierten Kreuzschmerzen ohne Zeichen der „Roten Flagge“ keine bildgebenden Verfahren. Stattdessen sollte der Arzt mit dem Patienten über die günstige Prognose sprechen, ihn zu Aktivität und einer Übungsbehandlung anleiten sowie ihm ein Schmerzmittel mit den geringsten Nebenwirkungen wie Paracetamol verordnen und weiter beobachten. Die Praxis sieht jedoch anders aus: Ein Viertel der Betroffenen wurde zu Bildtechniken überwiesen, nur 20,5 % wurden beraten ▶ 24 . Gerade die richtige Beratung der Patienten mit Kreuzschmerzen, eine der fünf häufigsten Ursachen für Arztbesuche, ist jedoch für eine gute Prognose entscheidend ▶ 25.