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2.1 Was hat sich verändert?

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Im 19. Jahrhundert beginnt der Siegeszug der naturwissenschaftlichen Medizin. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden die Ursachen vieler Krankheiten aufgedeckt. Louis Pasteur (1822 – 1895) und Robert Koch (1843 – 1910) begründeten die Bakteriologie. Eine neue Zeit brach an. Früher gepflegte magische und okkulte Praktiken, die Alchemie, Zauberinnen und Teufelsbanner wurden den Menschen fremd. Sie wollten nicht mehr aus der „Heilsamen Drecksapotheke“ behandelt werden. Noch 1696 behauptete der Münsteraner Arzt Paullini, mit Kot und Urin „fast alle, ja auch schwerste giftigste Krankheiten und bezauberte Schäden“ therapieren zu können 1.

Wahrscheinlich wäre es unzutreffend, zu behaupten, die Medizin habe vor der naturwissenschaftlichen Ära gar keine spezifischen Mittel besessen, um rational in gestörte Körpervorgänge eingreifen zu können. Eins ist aber sicher: Eine gute Arzt-Patient-Beziehung und Vertrauen des Kranken auf Hilfe, d. h. positive Kontextfaktoren, müssen die Voraussetzung gewesen sein, dass viele ungesicherte Arzneistoffe das Befinden besserten. „Allen guten Ärzten von Hippokrates (460 – 375) bis Charcot (1825 – 1893)“, sagte der Medizinhistoriker Ackerknecht 2, „war bewusst, dass körperliche und psychische Vorgänge eng zusammengehören, obwohl es das Fach Psychosomatik noch nicht gab.“ Im letzten Teil des 19. Jahrhunderts und später sind alte leibseelische Einsichten „in der Menge faszinierender objektiver Entdeckungen mit der nachfolgenden Übermechanisierung und Überspezialisierung verloren“ gegangen 2.

Ohne Zweifel wollen Patienten mit einem Diabetes, einer Herzkranzgefäßkrankheit oder einem Karzinom nicht wie in früheren Zeiten leben und mit der „Heilsamen Drecksapotheke“ behandelt werden. Durch moderne Medizin und Hygiene hat sich die Lebenserwartung erhöht. Doch gibt es unrealistische Versprechungen und eine scheinbar grenzenlose Medizin, sodass mancher glaubt, die Medizin könne eines Tages alle Krankheiten und vielleicht sogar den Tod besiegen 3.

Im Verlauf des Buches werde ich erörtern, dass in unserer Hightech-Ära Ärzte in Klinik und Praxis von der pharmazeutischen und Geräteindustrie beeinflusst werden. Die Sponsoren von Fortbildungen haben ein Interesse, dass ihre Produkte im besten Licht dastehen. Es ist zweifelhaft, ob von der Industrie bezahlte Fortbildungsredner über neue Medikamente und Techniken wirklich balanciert sprechen. Wir brauchen mehr unabhängige Weiterbildung, die sowohl Vorteile als auch Risiken von Innovationen beim Namen nennt 4.

Gewiss, die naturwissenschaftlich-technische Medizin wird fortschreiten. Bei diesem Fortschritt können Nebenwirkungen auftreten, die nicht zu verschweigen sind. Es ist, um ein Beispiel aus der elektronischen Kommunikation zu nennen, noch nicht genau erforscht, wie der Computer die Patient-Arzt-Begegnung während des ersten Kontakts verändert. Früher erzählte der Patient während der Anamnese seine Beschwerden, der Arzt saß ihm gegenüber. Sie hatten Augenkontakt. Zwischendurch machte er sich Notizen. Heute sitzt der Arzt oft, während der Kranke berichtet, dem Computer gegenüber und gibt Daten ein. Durch die elektronische medizinische Akte wird der Patient-Arzt-Dialog verändert. Hinzu kommt Zeitdruck, der zu einer unpersönlichen Sammlung elektronisch gesammelter Krankheitsdaten führen mag 5.

Auch durch das Internet hat sich die klinische Praxis geändert. Ärzte und Nichtärzte benutzen zunehmend das Web. Früher floss einseitig Information vom Arzt zum Patienten. Heute kann der Nichtarzt viel über das Netz erfahren, das virtuell unbegrenzte Mengen von Informationen liefert. Populäre Suchmaschinen wie Google vermitteln Daten aus medizinischen Zeitschriften. Positiv ist zu werten, dass dadurch der Macht- und Wissensgraben zwischen Patient und Arzt verringert wird. So machen manche Patienten durch Internetkenntnisse ihren Arzt auf eine neue Therapie aufmerksam. Aber es gibt auch widersprüchliche und falsche Angaben. Nicht richtig ist beispielsweise die Behauptung im Netz, dass durch eine besondere Diät ein Lymphdrüsenkrebs geheilt werden könne. Ärzte müssen heute fähig sein, verschiedene Informationen abzuwägen und ihre Patienten ausgeglichen zu beraten 6.

Verlorene Patienten?

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