Читать книгу Tranquillitatis - Karlheinz Vonderberg - Страница 27
1.April 23.04h Bordzeit
ОглавлениеSanfte Musik weckte sie auf. Sie kletterten aus ihren Schlafsäcken, erledigten die Morgentoilette, aßen und tranken. Dann kontrollierten sie alle Systeme und meldeten sich auf der Erde.
„Erkundet zunächst weiter die Umgebung“, kam das Kommando von der Erde. „Wir lenken euch dann zu der Stelle, an der die Gravitationsanomalien am stärksten waren.“
Von der Erde aus wurden sie in Richtung des Kraters Moltke dirigiert, als Ling nach links sah und etwas bemerkte, das ihr fremd vorkam.
„Kontrolle,“ sprach sie, „ich sehe eine Vertiefung links von mir, etwa 50m entfernt. Dem Schattenwurf nach scheint sie mindestens einen Meter tief und 4m lang zu sein. Könnt ihr das bestätigen.“
„Negativ!“ Die Antwort kam sofort. „Kannst du die genauen Koordinaten sagen?“
Ling sah auf ihren rechten Arm und las die Koordinaten ab. Einen Moment war es still, während sie und Tim schon in Richtung Vertiefung gingen.
„Ling,“ meldete sich die Stimme von der Erde. „Unter diesen Koordinaten ist keine Vertiefung vermerkt. Geht näher heran und überprüft noch einmal die Koordinaten. Sendet uns ein Bild der Vertiefung.“
Ling richtete ihre Helmkamera auf die Vertiefung und drückte die Taste SENDEN auf dem Bedienfeld des linken Armes.
„Wir sehen die Vertiefung, aber sie ist nirgends dokumentiert“, hörten sie. „Wir haben alle Unterlagen geprüft. Die Vertiefung ist neu, das ist sicher. Geht näher heran und überprüft, ob es ein kleiner Meteor gewesen sein kann, der für die Senke verantwortlich ist. Es könnte sein, dass er schräg eingeschlagen ist.“
Doch das war unmöglich, denn es hätte in einer Richtung einen Schubwall geben müssen. Es gab keine Erklärung für die Vertiefung. Ling und Tim schauten genauer hin.
„Das ist merkwürdig, Wu-Shi“, meldete sich Ling. „Ich habe das Gefühl, als ob der Sand in der Senke sich bewegt. Es sieht aus wie leichte Wellen.“
„Ich kann das nicht bestätigen“, warf Tim ein. „Vielleicht war die Aufregung der letzten Stunden zu stark und Ling benötigt Ruhe. Wir sollten zur Landefähre zurückkehren und uns ausruhen. Später können wir die Stelle hier noch genauer untersuchen.“
„Wartet!“, kam die abgehetzte Stimme von der Erde. „Wir haben eine Mitteilung von der CALCAG. ESA hat die Kontrolle über den Satelliten verloren. Er verliert an Höhe und wird sehr schnell abstürzen. Der Auftreffpunkt liegt mit 80% Wahrscheinlichkeit in eurer Nähe. Kehrt sofort zur Landefähre zurück. Notstart vorbereiten! Sofort!“
Tim und Ling wurden bleich, als sie das hörten. Jetzt zurück? Was war mit dieser Stelle? Wo war der Reflektor? Wer hat die Signale gesendet?
„Sofort!“, hörten sie Wu-Shis Stimme, die diesmal überhaupt nicht beherrscht klang. „Sofort Notstart vorbereiten. Sofort!“
Tim drehte sich schon um, um schnell zur Landefähre zulaufen. Er machte drei, vielleicht vier Schritte, als er Lings Aufschrei hörte.
„Tim! Ich stürze in die Grube!“
So schnell der Anzug es zuließ, drehe sich Tim um. Nun sah er es: Der Boden unter ihren Füßen wellte sich wie Wasser, in das ein Stein hineingefallen war. Ling kämpfte mit dem Gleichgewicht, aber sie rutschte langsam vom Rand der Vertiefung nach unten. Wie in Zeitlupe. Tims Herz blieb stehen, als er das sah. Darauf hatte sie keiner vorbereitet!
„Tim, hilf mir!“, hörte er sie rufen.
„Was ist da oben los?“, brüllte Wu-Shi ins Mikrofon. „Sofort zurück in die Landefähre!“
Tim antwortete nicht. Die Frage Wu-Shis zeigte, dass es offenbar Probleme mit der Kamera an Lings Helm gab. Die Übertragung war wohl ausgefallen. Nur ein paar Schritte trennten ihn von Ling, die bereits in die Grube abgesackt war. Er hüpfte wie ein Känguru auf sie zu. Schnell war er bei ihr. Sein Atem ging schnell, viel zu schnell! Er sollte die Atemmischung ändern, vergaß aber, wie er das anstellen konnte. Er erreichte den Rand der Vertiefung, ließ sich vorsichtig auf den Mondboden nieder und griff nach Lings Hand.
„Halte dich fest, Ling. Ich ziehe dich heraus.“
Lings Körper war schon zur Hälfte in die Mulde hineingerutscht. Ihre Hände krallten sich in den wallenden Sand, der aber keinen Halt bot. Tim hörte ihren schweren und ängstlichen Atem. Er sah, wie die Stiefel gegen den Sand arbeiteten, sich immer wieder abdrückten, aber sie rutschte langsam immer tiefer, hinabgezogen von leicht wallenden Sandmassen.
„Nimm meine Hand, Ling!“, rief Tim verzweifelt und streckte ihr den Arm entgegen.
Endlich fand sie seine Finger und krallte sich fest. Ein magisches Band hielt sie nun zusammen. „Wir werden uns dort auf uns verlassen müssen, Tim“, hatte Ling beim Start gesagt. „Was immer geschieht, ich werde an deiner Seite sein.“ „Und ich immer an deiner. Ling“, hatte er geantwortet. Doch dass dieses Versprechen so schnell auf die Probe gestellt werden würde, das hatte er nicht erwartet.
Tim zog mit aller Kraft und schaffte es, sie langsam Stück für Stück noch oben zu ziehen. Er konnte schon nach der zweiten Hand greifen.
„Was ist da oben los?“, hörten sie Wu-Shi. „Warum spielen die medizinischen Werte verrückt? Warum zeigt die Kamera diesen Sand? Zurück in die Landefähre. Es wird eng!“
Tim zog mit aller Kraft. Sein Herz raste. Der Automat erhöhte die Sauerstoffzufuhr und kühlte seinen Körper, aber er fühlte, dass er diesen Kampf vielleicht nicht gewinnen konnte.
„Hilf mit, Ling!“, stöhnte er. „Du darfst nicht aufgeben. Schiebe mit den Füßen, mach dich lang!“
Doch Ling rutschte wieder nach unten und zog Tim ein kleines Stück mit. Die Kräfte, die da arbeiteten, waren immer ein kleines Stück stärker als Tims Kräfte, ganz gleich, wie er sich anstellte. Er wollte und konnte nicht aufgeben, nicht nur des Versprechens wegen. Er spürte, dass es hier auch um ihn ging. Er musste nicht nur Ling retten, sondern auch sich selbst. Nur gemeinsam waren sie stark! Er atmete tief durch und aktivierte den Rest seiner Kräfte.
Vergebens! Ling sackte nach unten, in den wallenden Sand. Er sah ihr verzweifeltes Gesicht durch die vergoldete Scheibe, so dicht war er bei ihr.
„Rette dich, Tim!“, tönte es zurück. „Ich werde nach unten gezogen. Ich kann nicht mehr dagegen angehen.“
„Nein, niemals, Ling! Du bleibst bei mir!“
Sie ließ Tims Hände los und rutschte weit nach unten. Ihre Schuhe berührten schon die Sohle der Vertiefung. Tim rutschte weiter nach vorne, um sie wieder zu ergreifen.
Da spürte er unter seinem Körper ein sanftes Wallen. Wie beim Schwimmen wurde sein Körper bewegt und glitt auf die Kante zu. Er sah, wie Ling im feinen Sand versank. Sie wehrte sich nicht mehr. Vielmehr sah Tim auf ihrem Gesicht ein sanftes Lächeln.
„Es ist einfach wunderbar, so zu schweben, Tim“, hörte er sie flüstern. „Es ist wie im Wasserbecken bei unserem Training, nur viel sanfter und doch so kräftig. Sollte es so enden, unser Abenteuer?“
„Nein!“, schrie Tim. „Du darfst nicht aufgeben, Ling. Das darfst du nicht!“
Dann rutschte auch er weiter nach unten, ergriff wieder Lings ausstreckte Hände und gab den Widerstand auf. Er sah die Landefähre nicht mehr, nur noch den Rand der Senke, der wie ein naher Horizont wirkte.
Das Abenteuer Mond war hier zu Ende. Aus. Alles vorbei. Mission gescheitert.
Er versuchte, für sich selbst den inneren Frieden zu finden. Über den Tod hatte er noch nie nachgedacht. Sein Gefühl sagte ihm, dass er ewig leben würde. Jedenfalls bis jetzt. Nun war alles anders. Der Horizont seiner Gedanken schrumpfte zum engen Gesichtsfeld zusammen, das ihm noch blieb. Mondhorizont als Todeszeichen. Die Berührung von Lings Hand als Garant eines Versprechens, das schon so lange zurückzuliegen schien. Der Sand verschluckte beide. Kurz zuvor hörten sie noch einmal Wu-Shi.
„Seid ihr in der Landefähre? Notstart! Jetzt sofort! Der Satellit stürzt ab, genau auf eurem Landegebiet.“
Dann rauschte es nur noch, bevor es um sie beide dunkel und still wurde. In sanften Rüttelbewegungen wurden sie tiefer und tiefer nach unten gezogen. Noch hatten sie Atemluft, noch berührten sie sich, hielten sich an den Händen, aber es war klar, dass das das Ende war.
Sie hörten und spürten nicht, dass über ihnen ein gewaltiger Einschlag erfolgte. Der Satellit explodierte kurz über dem Mondboden und zerstörte alles im Umkreis von fast 500m. Die Landefähre wurde zerfetzt, die Stücke über den Mondboden gewirbelt, einige bis in die Höhe, in der die Kommandokapsel einsam kreiste.
Dieser Kraft konnte nichts widerstehen. Auch alle Rückstände von Apollo 11 wurden zerstört, der kleine Krater West fast vollständig eingeebnet.
„Bei allen Göttern des Alls“, flüsterte Wu-Shi entsetzt, als er die Bilder sah, die die Kommandokapsel beim Überflug lieferte. „Wie konnte das geschehen?“
Er erkannte auch, dass von der besonderen Senke, die Ling gefunden hatte, nichts mehr zu sehen war. Es macht auch keinen Sinn mehr, weiter nach den beiden zu rufen.
Wu-Shi rang nach Fassung. Noch nie war er den Tränen so nahe wie in diesem Moment. Diese verfluchte CALCAG! Niemand wird es je beweisen können, dass das ein geplantes Attentat gewesen war. Er ballte die Fäuste.
„Wu-Shi“, hörte er den aufgeregten Techniker, der die Gravitationswerte des Mondes überwachte. „Das Signal ist wieder da. Es baut sich wieder auf!“
Wu-Shi schüttelte den Kopf. Das ist verrückt, einfach verrückt!
„Ist es das bekannte Muster?“, fragte er nach einer Weile, die er brauchte, um die Tränen zu unterdrücken. Er dachte an seine Kinder. Was, wenn er von ihnen zwei verloren hätte? Tim und Ling standen ihm genau so nahe. Er ballte die Faust. Das würde China insgesamt und er im Besonderen nicht vergessen. Hier war die macht der CALCAG noch eingedämmt. Er würde alles in Bewegung setzen, diese Mörderbande…
„Nein“, kam die Antwort des Technikers, der nicht wusste, was in Wu-Shi tobte. „Es ist das gleiche Muster, mit dem Tim und Ling die Stelle im Mare angestrahlt haben.“
„Bist du sicher?“, fragte Wu-Shi zurück. „Lass es durch die NASA bestätigen.“
Kurze Zeit später kam die Bestätigung. Es handelte sich exakt um die beiden Muster 1-8-1 und 7-6-1.
„Was kann das bedeuten?“, flüsterte Wu-Shi. „Hoffnung?“ Dann schüttelte er den Kopf. „Ich bin wohl schon selbst verrückt geworden.“