Читать книгу Tranquillitatis - Karlheinz Vonderberg - Страница 31
1.April, 9.oo h, Erde
ОглавлениеIm hermetisch abgeschotteten Konferenzraum der CALCAG herrschte eisige Stille. Mike Salbowski trommelte auf der Tischplatte. Er war von bisherigen Ereignissen auf dem Mond einfach überrollt worden, und das mochte Mike überhaupt nicht. Bisher war es immer so gewesen, dass er die Ideen geliefert, die Ziele definiert und die Aufgaben verteilt hatte. Wenn sie sich dann nach getaner Arbeit hier versammelten, verteilte er Lob, nicht mehr und nicht weniger. Aber diesmal war alles schiefgelaufen.
„Wir müssen klären, was geschehen ist und wieso es geschehen ist“, presste er mühsam heraus. „Dieses Unternehmen hat uns einen dreistelligen Millionenbetrag gekostet.“
Er sah in die Runde und beendete das Trommelfeuer mit den Fingern. Nun galt es, die Scherben zusammenzufegen und einen neuen Plan zu entwickeln.
„Erst Herlith, dann Wolfhardt, dann Conny und schließlich Ferenzi, bitte.“
Herlith drückte einen Knopf auf ihrem Laptop. Der Beamer projizierte eine Skizze auf die große Leinwand. Sie sah etwas mitgenommen aus, denn sie hatte es nie richtig gelernt, mit Niederlagen umzugehen.
Eigentlich kannte sie dieses Wort nicht. Es war ein Begriff für Versager und Schwächlinge, doch bei diesen Ereignissen kam ihr zum ersten Mal in den Sinn, dass es bei Planungen auch Rückschläge geben konnte. Doch welcher Anteil entfiel dabei auf sie? Diese Frage hatte sie in den letzten Stunden am heftigsten geplagt. Mike entschuldigte vieles, aber kein Versagen seiner Spitzenkräfte. Sie drückte die ON-Taste des Laptops, um auf Daten zurückgreifen zu können. Doch Mike bevorzugte Worte mehr als Bilder.
„Ich hatte herausgefunden, dass die Erscheinung auf dem Mond mit einem mathematischen Problem zusammenhängt, genauer gesagt, einem Primzahlproblem. Dieses Problem wurde von Tim, dem NASA – Astronaut, gelöst. Dank unserer Möglichkeiten verfügten wir auch über die Lösung, die er gefunden hatte, konnten aber nicht viel mit ihr anfangen. Wir brauchten Zeit. Dieses Problem gab ich an Wolfhardt weiter. Ich selbst kümmerte mich um mögliche Verbindungen zwischen der NASA und Hainan in China. Der Zugriff auf den Computer von Tim stellte kein großes Problem dar. Die NASA ist ja so naiv, was diese Dinge angeht. Ich stellte dann fest, dass auch China an unserem Projekt arbeitet, und zwar mit der Astronautin Ling. China war noch nicht in der Lage, eine Rakete zum Mond zu starten, obwohl immer eine in Bereitschaft gehalten wird. Die ESA verfügte in Kourou über eine Trägerrakete, aber nicht über Astronauten. Auf unsere russischen Quellen konnten wir nicht zurückgreifen, denn das hätte den Kreis der Mitwisser in erheblichem Maße erweitert und die Geheimhaltung mehr als gefährdet. Zur Wahrung unserer Interessen mussten wir schnell vor Ort präsent sein. Conny übernahm diesen Teil zusammen mit Ferenzi, der das Problem des Erstzugriffs auf die unbekannte Technik lösen sollte. Im Wesentlichen ging es dabei um die Sicherstellung unseres Erstzugriffs. Die Koordination des Projekts verlangte von mir eine präzise Zeitvorgabe, da das Zeitfenster klein war. Diese Gruppe hat die Zeitvorgabe sogar unterschritten. Es ist uns durch gezielte Maßnahmen gelungen, den Start der ESA-Rakete vorzuziehen.“
Wolfhardt übernahm das Wort. Er fühlte sich nicht wohl, denn die Ereignisse auf dem Mond liefen seinen inneren Überzeugungen, es dürfe kein Menschenleben verschwendet werden, zuwider. Doch das sagte er in dieser Runde nicht. Solche Schwächen durften nicht zugegeben werden.
„Wir wussten, dass die ESA an einem Roboter für Tiefseeprojekte und Mondprojekte arbeitete. Dieser Roboter musste nur geringfügig ergänzt werden, um auch auf dem Mond agieren zu können. Da wir erhebliche Mittel in die ESA investiert haben, konnten die dortigen Kräfte gebündelt werden. Der Roboter war mit einer Sprachsoftware ausgestattet, die unsere Rechte an der fremden Technik gesichert hätte. Als die unerwartete und unerklärliche Abweichung der Landesysteme erkannt wurde, startete das Notsystem des Roboters. Wegen der großen Abweichung von den Zielkoordinaten mussten wir viel Zeit aufwenden, um die Flugbahn über dem Mond zu korrigieren. Das war übrigens Connys Idee.“
Er machte eine kleine Pause. „Außerdem hatte ich schon Rechtsanwälte damit beauftragt, die Frage der Eigentumssicherung durch sprachgesteuerte Roboter hieb- und stichfest zu machen. Natürlich wussten sie nichts von unserem Vorhaben.“
Er gab Conny einen Wink. Die Narbe auf seiner linken Wange glühte. Er hatte sich schon Stunden vorher ausgemalt, wie Mike reagieren würde. Wer hier seinen Job verlor, bekam keinen anderen mehr, es sei denn, er verzichtete auf so gut wie alle Vorteile. Es gab Beispiele genug in der CALCAG, wie Versager endeten. Plötzlich hatte er Lust auf einen guten Wein. Er wollte all diesen Ärger einfach nur herunterspülen!
Conny griff nach ihrem großen blau-goldenen Indianerschmuck, den sie nur selten trug. Doch die Feder an dem Kronensymbol sollte ihr inneren Halt geben. Das war ihr Talisman für die dunklen Stunden, obwohl sie alles getan hatte, um die anfallenden Arbeiten in der EDV schnell und effizient umzusetzen. Sie konnte keinen Fehler erkennen, denn letztlich hatte alles so funktioniert, wie es vorgesehen war. Sie nahm sich vor, dem Ingenieur, der die Idee mit dem Notstart des Roboters hatte, einen Bonus zukommen zu lassen. Dem konnte Mike nicht widersprechen
„Nachdem ich eine Problemanalyse durchgeführt hatte“, fuhr Conny fort, „musste ich erkennen, dass im schlimmsten Fall nur der Roboter auf dem Mond landen musste. Er war robust genug, um mit dem Prallsack-System abgesetzt zu werden. Seine Leistungsfähigkeit war auch hoch genug, um den einen oder anderen Kilometer auf dem Mond zurückzulegen, wenn das nötig sein sollte. Doch es musste auch ein Versagen in Betracht gezogen werden, das unsere wahren Absichten aufgezeigt hätte. Das musste nach den Vorgaben verhindert werden. Dafür nahm ich das Ziel-und Angriffssystem der Cruise-Missiles zur Hilfe, gab die Daten der Landestelle von Apollo 11 ein und ließ es in den Roboter einbauen. Das erledigten unsere Techniker, indem sie auf einen geheimen Fundus zurückgriffen. Wenn wir nicht in den Besitz der fremden Technik kommen konnten, dann sollte das auch keinem anderen gelingen. Außerdem musste alles wie ein Versagen der Satellitensysteme aussehen. Der Aktivierungsbefehl musste von der Erde aus gegeben werden. Dafür war Ferenzi zuständig.“
Ferenzi strich über seinen kleinen, schmalen Despotenbart, nahm noch einen Schluck Wasser und legte dann los.
„Entgegen meiner Hoffnung musste ich den Aktivierungsbefehl geben, denn die Überwachung der Kommunikation zwischen Mond und Erde ergab, dass sich einiges getan hatte. Unbedingtes und schnelles Handeln war erforderlich. Für eine vollständige Analyse der Situation hätte ich viel mehr Zeit gebraucht. Die hatte ich nicht. Ich musste sofort entscheiden und handeln. Ich konnte Bilder abfangen, die vom Mond gesendet wurden. Sie sind bis heute nicht veröffentlicht. Das sollten wir uns alle ansehen. Seid aber auf das Unmögliche gefasst. Datei MOND.Gravi. B1 bitte.“
Auf dem Bildschirm erschien alles, was Ling und Tim mit den Helmobjektiven aufgenommen hatten. Der Ton wurde eingespielt. Alle erlebten, wie Ling die Vertiefung fand und in sie hinabsah. Die Bilder der beiden Kameras liefen synchron ab. Lings Kamera zeigte die Senke, Tims Kamera die leichten Wellen, die sich unter Lings Stiefeln bildeten.
„Was ist das?“, wollte Mike wissen. „Auf dem Mond kann es so etwas nicht geben.“
„Es dürfte auch keine Gravitationsanomalien geben, und doch gibt es sie. Es darf keine Sandbewegung geben, und doch gibt es sie. Das hat mich zum Handeln gezwungen.“
Sie diskutierten das Phänomen und sahen zu, wie Tim und Ling in der Senke verschwanden.
„In diesem Moment habe ich den Sprengbefehl gegeben“, erklärte Conny. „Die NASA und die Chinesen dürften nun keinen Anlass haben, unmittelbar eine neue Mission zur Rettung oder Bergung der beiden zu senden. Dann wäre unser Projekt gescheitert.“
Er ließ die Bilder wieder abspielen und sah in ratlose Gesichter.
„Wir haben über alle Kanäle entsprechende Erklärungen über das Auftreten neuer Gravitationsschwankungen als Ursache für den Absturz unseres Satelliten an die Presse und die NASA gegeben. Das kann niemand überprüfen, daher gibt es keine Vorwürfe. Selbstverständlich haben wir Hilfsangebote an China und die NASA gemacht. Wir haben sogar einen Fond gestiftet, den wir nach Tim und Ling benennen wollen. Er soll der Förderung der friedlichen Mondnutzung dienen. Allerdings ist das nur eine Idee, die wir in den nächsten Monaten nach und nach wieder begraben werden. Momentan sind wir jedenfalls auf der korrekten Seite, was die Öffentlichkeit angeht.“
„Und wie soll es nun weitergehen?“, wollte Mike wissen, der nun schon zufriedener aussah. Das Dunkle, das sich über sein Gemüt gelegt hatte, war nun schon deutlich aufgehellt.
Herlith öffnete eine neue Grafik. „Das hat der Roboter aufgenommen, als er zum letzten Mal die Rückseite des Mondes überflog. Beim Passieren der Tag-Nacht-Grenze hat er die Informationen gesendet.“
Die Grafik baute sich auf und zeigte ein Muster mit vielen Zacken und noch mehr Zahlen.
„Das sind ja auch Störungen des Schwerefeldes“, stellte Mike sofort fest. „Was hat das zu bedeuten? Ist das wirklich ein aktuelles Ergebnis von der Rückseite des Mondes?“
Herlith bestätigte die Angaben. Sie zeigte wie üblich ihr überhebliches Lächeln, als sie hinzufügte, dass das dem Rest der Welt verborgen ist.
„Alle Analysen lassen nur einen Schluss zu, Mike. Kurz vor dem Absturz muss etwas unter der Oberfläche von MATRA, wie die NASA die Landestelle nennt, passiert sein. Diese Ursache hatte die Störungen auf der Rückseite zur Folge. Es gibt keinen anderen logischen Zusammenhang. Folgerung: Auf der abgewandten Seite des Mondes muss es ein zweites künstliches Objekt geben, von dem nur wir wissen.“
Stille.
„Und wo genau ist das?“, wollte Mike wissen, dessen Laune sich schon merklich gebessert hatte. Tim und Ling waren leider notwendige Nebenschäden im großen Kampf um den ultimativen Erfolg. Auch für die erste Umsegelung der Erde waren vorher einige Tapfere gestorben. Das lag im Wesen einer jeder neuen Großtat!
Eine Karte der Rückseite des Mondes baute sich sofort auf. Eine Stelle war rot umkreist.
„Es ist direkt im Krater Tsiolkowskiy, dicht an dem hellen Zentralberg. Die gemessenen Werte liegen bei 20,31 Süd und 129,055 Ost.
„Und wer könnte noch davon wissen, wenn wir alle unmöglichen Gründe heranziehen?“,
„Da die NASA dieses Phänomen nicht beobachten konnte, niemand“, stellte Herlith fest. „Von uns hat es niemand erfahren. Alles ist auf diesen Kreis hier beschränkt.“
Mike rieb sich die Nase. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er intensiv nachdachte.
„Herlith“, sagte er anschließend, „du organisierst einen Flug dorthin. Treibe irgendwo eine Rakete und zwei zuverlässige Astronauten auf. Wolfhardt kümmert sich um die Technik und Sicherheit, Conny in diesem Fall um die verschleierte Finanzierung. Ferenzi wird einen unverfänglichen Anlass finden, uns die Erkundung dieses Gebietes zu sichern. Dort wird es doch irgendetwas geben, was man vielleicht eines Tages abbauen kann, oder so. Ihr habt für die Planung des Projektes drei Tage Zeit, also bis zum 6. April, dann muss alles stehen. Ich will in absehbarer Zeit die Landung im Krater Tsiolkowskiy sehen. Das wird Geschichte schreiben, weil es die Rückseite des Mondes ist. Hinterher laden wir die NASA und die Chinesen ein!“
Er wollte schon gehen, drehte sich aber noch einmal um.
„Ihr werdet bis zum Ende der Planung alle in den Räumen D 11 leben. Jeder hat ein Zimmer mit dem benötigten Material. Es gibt nur einen Zentralrechner, der auf meinen Rechner zurückgreifen kann. Alle eigenen Rechner sind dezentral. Keine Kommunikation nach draußen, bitte. Irgendwelche Fragen? Nein. Eine Liste mit euren persönlichen Wünschen bezüglich Essen, Trinken und anderen Dingen bitte in 10 Minuten an mich. Die Konsole in jedem Raum dient dem Zugriff auf alle Bibliotheken dieser Welt. Damit kann nicht gesendet werden. Danke.“
Mike verließ den Raum. Er hatte gerade jetzt den Wunsch, ein Glas Rotwein zu trinken, zumindest an ihm zu schnuppern, denn er versagte sich jeglichen Alkohol. Das war für ihn Schwäche. Doch er spürte dieses Sehnen, gegen das er immer wieder ankämpfen musste. Herlith übernahm zunächst das Kommando. So war es immer.
„Krater Tsiolkowskiy“, dachte sie sich. „Da wollte ich doch schon immer mal hin!“
In ihrem Kopf formte sich sofort eine Idee, eine sehr gute, wie sie fand.
Doch nicht nur in ihrem Kopf formulierte sich eine Idee. Wolfhard hatte sich alles gemerkt, was wichtig war. Wieder einmal griffen Menschen, die nur Geld und Macht in ihrem Kopf hatten, nach dem Aufenthaltsort Gottes. War nicht der Mond eines der Lichter, die er gemacht hatte? Nun sollte dieser Ort schon wieder befleckt werden! Zwei Sünder sind doch gerade vom Mond verschluckt worden! Doch der Allmächtige hatte ihn nicht ohne Plan und Auftrag bis hierhergeführt. Er, Jophiel, einer der Erzengel, würde seine Aufgabe ernst nehmen und seine Bürde tragen. Bald schon würde sich Gelegenheit bieten, Justus Frahm, den Berufenen Gottes, über diese Pläne zu informieren. Die Gelegenheit würde sich bieten.