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Tag 1 A auf Hetaba

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Sie schliefen die nächsten Stunden auf dem Boden der Halle. Sie waren einfach erschöpft. Zuerst das Auffinden der Kuhle, dann das Einsinken in den feinen Sand, die unmögliche Wellenbewegung des Sandes, die Zeit in der Höhle, die fremden Objekte, das Warten auf das Ende, die Eingabe der Primzahlen auf dieser merkwürdigen Tafel, die geschenkten 15 Sekunden: Das alles hatte sie erschöpft, sie an den Rand der eigenen Kräfte gebracht.

Obwohl es keine sichtbare Lichtquelle gab, blieb die Halle erleuchtet. Ling hatte sich zusammengerollt und den Kopf auf die Arme gelegt. Tim lag zunächst lang ausgestreckt auf dem Boden, bevor er die Knie anzog. Mit beiden Händen hielt er das tafelartige Gebilde fest umklammert. Sie schliefen tief und fest.

Tim wachte als Erster auf. Verwundert setzte er sich auf und versuchte, sich zu orientieren. Wie waren sie in diese Halle gekommen? Ach ja, die Tafel und die beiden Primzahlen. Ling lag neben ihm und atmete leise. Sie schien zu träumen, denn ihre Augäpfel bewegten sich heftig unter den geschlossenen Lidern. Tim fragte sich, wovon sie wohl träumen mag. Vielleicht von der Erde?

Erde? Könnte es sein, dass die unerklärliche Technik sie wieder auf die Erde gebracht hat? Das wäre doch möglich, denn sie hat ja Kontakt mit der Erde aufgenommen. Außerdem war das hier in der Halle einfache Atemluft, wie er sie kannte. Leicht kühl, ohne irgendwelche besonderen Gerüche in ihr. Eine ausgediente Lagehalle irgendwo auf der Erde. Ja, das musste es sein! Vielleicht war das schon das Ende des Abenteuers, wer weiß? Wenn ja, dann war es wenigstens ein für sie gutes Ende.

Doch schon schlichen sich leise Zweifel ein. Überall war Licht, aber es war keine Lampe zu sehen. Dann diese Stille. Kein einziger Laut war zu hören. Gab es auf der Erde überhaupt einen Ort, der völlig still war? Oder hatten die unbekannten Erbauer dieser Technik vielleicht einen Reserveort auf der Erde, der irgendwo unerkannt und unentdeckt lag? Mit einer Rakete und dem Landegefährt zum Mond, dann mit einer unbekannten Technik zurück! Welch ein Abenteuer!

Tim sah sich um. Auf dem Boden lag nur leichter Staub. Die Decke war gewaltig hoch und irgendwie farblos. Das Licht schien einfach von ihr herunterzufallen. Die Wände waren glatt und wiesen keinerlei Spuren auf. Keine Tapeten, kein erkennbarer Beton, keine Baumaterialien, die er sofort einordnen konnte.

Er stand vorsichtig auf, was im Astronautenanzug nicht einfach war. Zuerst schnallte er das Technikpaket vom Rücken ab. Hier gab es ja genügend Luft. Nun fühlte er sich schon besser. Da meldete sich zum ersten Mal ein neues Gefühl: Durst! Wie lange hatte er nichts getrunken? Sechs Stunden, zehn Stunden, drei Stunden? Er schaute auf die Multifunktionsuhr an seinem Handgelenk. Er hatte die Kontrollzeit auf null gestellt, als er die Landefähre verlassen hatte. Sie zeigte nun vier Stunden und 18 Minuten. Er wusste aber, dass er um 2 Uhr 10 die Fähre verlassen hatte, und die Hauptuhr zeigte 21h 35Minuten, nicht 6h 28.

Das war unmöglich. Diese Uhren waren die besten, die es gab. Sie konnten sich nicht so irren! Da stimmte etwas nicht.

Tim ging leise und vorsichtig durch die Halle. Ob er hier den Erbauern begegnen konnte? Wie sollte er sich da verhalten? Die Hand ausstrecken und „Hi“ sagen war wohl nicht angebracht. Darüber hatte er nie nachgedacht. Wie konnten die Aliens denn aussehen? Er hatte keine Vorstellung. Die Filme, in denen sie als abartige Kreaturen auftauchten und mit Laserwaffen um sich schossen, waren so dumm und fantasielos, dass er nicht einmal über sie lachen konnte. Nun war er aber mittendrin im Alien-Land und musste damit rechnen, dass sie gleich auftauchen. Was also tun?

Er hatte beschlossen zu warten und zusammen mit Ling zu trinken. Jeder von ihnen hatte einen Reservebeutel mit einem halben Liter Wasser in der rechten Beintasche, dazu eine Notration. Er tastete sicherheitshalber nach der Tasche. Alles war vorhanden. In der linken Beintasche war die medizinische Notration untergebracht, aber die brauchte er jetzt nicht.

Vorsichtig machte er sich auf den Weg, die seltsame Tafel immer noch fest in den Händen. Er klammerte sich an sie, als sei sie das Verbindungsglied zu seinem früheren Leben. Der Weg führte vorwärts, zum Ende der Halle hin, oder besser gesagt auf das zu, was er für das Ende der Halle hielt. Es sah aus wie eine Wand aus Licht, nur etwas dichter. Er konnte nicht hindurchsehen. Er sah zurück zu Ling. Sie lag immer noch schlafend auf dem Boden.

Langsam ging er auf die vermeintliche Wand zu. Noch zwei Schritte, dann konnte er dieses irgendwie feste Licht berühren, das offenbar das Ende der Halle markierte.

Noch einen Schritt. Nun war er angekommen. Vorsicht streckte er die Hand aus, neugierig, wie sich dieses merkwürdige Lichtgebilde anfühlen würde. War es so eine Art Vorhang, der die Halle von der Außenwelt abtrennte?

Langsam tauchte der Finger in das Nebellicht.

Nichts geschah. Tim spürte nichts. Hinter dem Nebellicht war offenbar nichts, was er spüren konnte. Er wagte noch einen Schritt. Das Nebellicht schien ihn sanft zurückzustoßen. Verwundert drehte er sich um und sah zu Ling.

Ling lag ganz anders da! Eben noch hatte auf ihre Füße gesehen, jetzt sah er auf ihren Rücken und Kopf! So schnell konnte sich Ling nicht umgedreht haben, ohne wach zu werden.

Was geschehen?

Zügig ging er auf Ling zu, passierte sie und marschierte weiter auf das vermeintliche Ende der Halle zu. Kurz vor der Lichtwand blieb er stehen, drehte sich um und sah genau auf Lings Füße. Schnell berührte er das Licht und machte einen kleinen Schritt in das Licht hinein. Dann drehte er sich wieder zu Ling um.

Er sah auf ihren Rücken und ihren Kopf!

Das war unmöglich!

„Ich leide an den Folgen des Versinkens auf dem Mond“, beschloss er für sich. So hatte er wenigstens eine Erklärung für das hier. „Um mir zu beweisen, dass das so ist, gehe ich zum anderen Ende.“

Er analysierte seine Situation. Wie sollte er die Zeit nutzen, bis Ling aufwachte? Er musste hinter das Geheimnis kommen. Vielleicht gab es ja eine einfache Erklärung, obwohl bisher alles Geschehene durchaus nicht einfach war. Zügig ging er zurück, wurde dabei immer schneller. Er drehte sich um und sah Lings Rücken. Dann berührte er die Lichtwand und ging weiter.

Die Lichtwand drückte ihn sanft zurück. Er drehte sich wieder um und sah Lings Füße!

Es war keine Täuschung! Da wurde er offenbar wie ein Tischtennisball von einem Ende der Halle zum anderen geworfen, wenn er versuchte, die Halle zu verlassen. Der Rückwurf erfolgte ohne Zeitverzögerung! Das widersprach aller Logik!

Schnell lief er zu Ling und schüttelte sie sanft. Er wollt sie vorsichtig aus ihrem Schlaf wecken. Was hier auf sie wartete, war schon merkwürdig genug. Sie taumelten von einem unverstandenen Effekt zum anderen. Was würde als Nächstes kommen?

„Aufwachen. Ling! Hier passieren merkwürdige Dinge“, flüsterte er ihr zu und strich über ihr Gesicht.

Ling öffnete mühsam die Augen. Sie hatte Mühe, sich zu orientieren. Langsam streckte sie ihren Körper, setzte sich hin und gähnte.

„Ich habe gerade so schön geträumt, Tim,“ murmelte sie. „Ich war in einer Lichthalle, in der für das Auge alles gerade war, aber trotzdem verhielt sie sich wie ein Kreis. Merkwürdig!“

„Merkwürdig ist, dass du das geträumt hast, Ling, denn ich habe es gerade erlebt. Es ist hier so. Steh auf und sieh es dir an. Ich verstehe das nicht.“

Ling sprang auf. Plötzlich schien sie Kräfte mobilisieren zu können, die sie vorher nicht hatte.

„Was sagst du da? Du hast es erlebt?“

Sie wischte ihre Augen, so, als wollte sie eine Erinnerung vertreiben. Dann war sie hellwach. Schnell berichtete er, was er erlebt hatte. Sie sah ihn ungläubig an. Einen derart zweifelnden Blick hatte er in ihren dunklen Augen noch nie gesehen.

„Das werde ich selbst probieren, Tim“, entschied sie rasch. „Bleib so stehen, ohne dich zu bewegen, bitte.“

Sie eilte zum vermeintlichen Ende der Halle, und Tim sah, wie sie die Nebelwand berührte. Dann sah er sie nicht mehr, hörte aber ihre Stimme in seinem Rücken. Sie schien alles so zu erleben, wie er es beschrieben hatte.

„Unglaublich, Tim! Wie wird das gemacht? Und überhaupt, wo sind wir hier? Das ist nicht mehr die Höhle auf dem Mond. Sind wir irgendwo auf der Erde?“

Darauf wusste Tim auch keine Antwort. Diese Fragen hatte er sich auch schon gestellt.

„Ich fürchte, wir sind nun in dieser Halle gefangen,“ stellte er fest. „Langsam bekomme ich Durst. Meine Uhren spinnen, und mir fällt nichts mehr ein.“

Schnell erklärte er Ling das Problem mit den Uhren. Sie überlegte nicht lange, schaute nicht einmal auf ihre eigene Uhr. Tim wunderte sich immer, woher sie so schnell die passende Antwort nahm.

„Das lässt nur einen Schluss zu“, stellte sie fest. „Wir sind relativistisch gereist, Tim. Das ist das Zeitparadoxon. Erinnerst du dich?“

„Was willst du damit sagen. Ling?“ Tims Stimme klang nicht gerade begeistert. Zeitreisen gehörten in Romantexte, nicht in das reale Leben.

„Wo immer wir sind, Tim, kann ich nicht sagen, aber eines ist sicher. Wir sind nicht auf der Erde. Wir sind Lichtjahre von ihr entfernt. Ich weiß nicht, wie viele, aber wenn dieses Problem bei der Uhr auftrat, dann ist es schon gewaltig weit weg! Wir sind schon wieder die Ersten! Die ersten Zeitreisenden. Doch das macht mir noch mehr Sorgen, denn wie sollten wir jemals von hier wieder zurückkommen?“

Tim musste das erst einmal verdauen. Ihm fielen die Vorlesungen zur Relativitätstheorie ein, aber dass es ihn selbst einmal damit treffen würde, damit hatte er nicht gerechnet.

„Dann haben wir nur drei Möglichkeiten“, sinnierte er. „Wir können oder müssen hier bleiben und das war’s dann mit uns. Wir werden vielleicht verhungern, verdursten oder irgendwie ums Leben kommen. Oder wir können diesen Raum verlassen und nachsehen, ob der Planet für uns geeignet ist. Dann werden wir ein einsames Paar sein, das auf einen fremden Sternenhimmel blickt und sich fragt, warum es sie hierher verschlagen hat. Oder aber wir finden den Weg zurück zu unserem eigenen Mond und warten dort auf Rettung.“

Er sah Ling an. Nun waren sie aufeinander angewiesen und mussten ihre Kräfte bündeln.

„Du weißt, dass es nur zwei Möglichkeiten sind“, schloss sich Ling an. „Die letzte Möglichkeit ist ausgeschlossen, weil wir auf dem Mond keinen Sauerstoff mehr haben. Wir müssen diesen Weg auf alle Fälle vermeiden, bis wir eine Lösung für das Luftproblem gefunden haben.“

„Und wie stellst du dir diese Lösung vor?“, wollte Tim wissen.

„Eine alte chinesische Weisheit sagt: Ziehe die Schuhe erst aus, wenn du am Fluss angekommen bist. Das geht wohl auf Laotse zurück, den ich sehr verehre, wie du weißt. Ich meine damit, dass wir zuerst einmal hier raus müssen. Lass uns überlegen. Bisher war nichts zufällig, was geschehen ist. Wir sind auch nicht zufällig hier, sondern weil wir mit der Tafel den Weg hierher gewählt haben. Das war auch unsere Rettung, daher will ich mich zunächst auch nicht beklagen.“

Sie setzten sich auf den leicht staubigen Boden und besprachen noch einmal alles, was sich bisher ereignet hatte. Schnell kamen sie auf die Idee, dass Tims Tafel eine Art Schlüssel sein könnte. Mehr als ihn hatten sie auch nicht. Doch was sollten sie nun mit ihm anfangen? War er nur die Fahrkarte vom Mond an diesen Ort oder noch mehr?

„Der Zusammenhang zwischen Tafel und unbekannter Kultur ist nicht zu übersehen, Ling“, meinte Tim. „Die Tafel ist fast wie Aladins Wunderlampe, falls du die Geschichte kennst. Man muss die Lampe reiben, dann erscheint ein Geist, der alle Wünsche erfüllen kann. Diese Tafel hat unseren Wunsch, an einen Ort mit Luft zum Atmen zu kommen, offenbar erfüllt. Die Primzahlen ersetzten das Reiben. Nun gilt es, mit dieser Erkenntnis weiterzumachen.“

Ling nickte und fand, dass der Vergleich gar nicht so übel sei.

„Nimm die Tafel in die Hand und berühre mit ihr das Nebellicht“, schlug Ling vor. „Mal sehen, was passieren wird. Vielleicht findet die nächste Zeitreise statt, daher sollten wir uns an der Hand fassen. Ich will ja nicht alleine hier zurückbleiben.“ Sie grinste Tim an. „Und du?“

„Es wäre töricht von mir, dieses Abenteuer ohne dich antreten zu wollen, Ling. Gemeinsam sind wir stark, denke ich!“

Da meldete sich wieder der Durst.

„Wollen wir nicht vorher etwas trinken?“, fragte er. Ling nickte und wollte nach der Reserve greifen, entschied sich aber anders. „Lass uns erst den Versuch mit der Tafel wagen“, schlug sie vor. „Wer weiß, wie dringend wir noch die letzten Wassertropfen brauchen werden.“

Sofort standen beide auf, zogen die schweren Handschuhe aus und gingen zum Ende der Halle. Sie merkten die schweren Raumanzüge, wagten es aber nicht, sie jetzt schon auszuziehen. Darunter trugen sie nur einen dünnen Anzug und Unterwäsche. Doch dann entschlossen sie sich, wenigstens die schweren Raumschuhe ausziehen, was sich als nicht einfach erwies. Sie mussten sich gegenseitig helfen, aber das Gefühl der freien Füße ließ sie aufatmen. Der Boden war nicht kalt, eher lauwarm. Nun fühlten sie sich schon besser. Tim hielt die Tafel vor sich, als sie sie ein Geschenk, das er überreichen wollte. Als sie kurz vor dem vermeintlichen Ende der Halle standen, begann die Tafel aufzuleuchten. Es war ein blasses Licht, über das sich langsam Lichtwellen hinwegbewegten. Vorsichtig näherten sie sich dem Lichtnebel.

Die Tafel begann immer stärker zu leuchten, bis plötzlich ein heller Funke aus der Tafelleiste sprang. Das neblige Licht wurde sofort heller und heller, und Tim und Ling konnten nun sehen, was auf der anderen Seite lag.

Es war wieder ein heller Raum, aber er hatte eine andere Lichtfarbe. In der Mitte waren diese eigenartigen, würfelartigen Objekte gestapelt, die sie schon auf dem Mond gesehen hatten. Ohne zu zögern ging Ling weiter und zog Tim mit sich.

„Deine Tafel ist so eine Art Schlüsselkarte, wie mir scheint“, stellte sie fest. „Du solltest sie unter keinen Umständen irgendwo vergessen! Sonst stehen wir ohne Helm, Handschuhe und Schuhe in einer fremden Umgebung.“

Tim nickte, dann ging er langsam um den Stapel der würfelartigen Objekte herum. Schnell bemerkte er, dass sie auch diese Auskerbungen an den Rändern hatten. Doch da gab es einen Unterschied, der ihm auch sofort auffiel.

„Siehst du diese merkwürdigen Ausbuchtungen auf den Seitenflächen?“, meinte er zu Ling und zeigte auf die Würfel. „Sieht so aus, als könnte man sie so sicher aufeinanderstapeln.“

Lings Hand glitt über die glatte und kühle Oberfläche der Objekte. Sie hatte wieder das Gefühl, als strömte von ihnen etwas Vertrautes in sie hinein, aber sie konnte es nicht in Worte fassen. Besonders stark war dieses Gefühl, als sie mit den Händen zwei verschiedene Objekte gleichzeitig berührte. Als sie Tim davon berichtete, stellte auch er dieses Gefühl fest.

„Lass uns logisch an die Würfel herangehen“, schlug er vor. „Wir wissen nicht, wozu sie gedient haben oder immer noch dienen. Aber es muss etwas sein, das für uns erfassbar ist, sonst wären wir nicht hier.“

Ling stimmte ihm zu. Sie war von diesem Gefühl, das sie erfasst hatte, so beeindruckt, dass sie immer wieder zwei verschiedene Würfel anfasste. Es war, als würde Meister Laotse persönlich zu sprechen:

„Vertraut man nicht genug, so findet man kein Vertrauen.“

Sie berührte zwei weitere Würfel. Vielleicht kamen auch von dort Worte des Meisters zu ihr, wer weiß?

„Tim!“, rief sie plötzlich. „Die Intensität der Empfindung ändert sich, wenn ich andere Würfel berühre. Probiere es selbst aus.“

Tim ging zur anderen Seite des Stapels und fasste verschiedene Würfel an. Es stimmte, was Ling sagte. Es war so, als läge an den verschiedenen Objekten eine unterschiedliche Spannung an, die er fühlen konnte. Er genoss die Stimmung, die sich in ihm breitmachte. Als Ling ihm auch noch von den Worten berichtete, die ihr eingefallen waren, fühlte er sich noch besser.

„Offenbar waren die Konstrukteure der Objekte sensible Wesen“, vermutete er. „Fehlt uns nur noch das Verständnis für das, was wir da fühlen. Ob das so eine Art Mitteilung ist? Worte des Meisters Laotse oder Konfuzius werden es ja wohl nicht sein.“

Ling wusste es nicht. Sie ging um den Stapel herum zu Tim, und da verspürte sie auch zum ersten Mal Durst. Ganz schnell wurde ihr klar, dass abgesehen von den neuen Gefühlen ihr Leben von je einem halben Liter Wasser abhing.

„Mir wäre es lieber, die Konstrukteure wären von Wasser abhängig gewesen“, sagte sie. „Genau das fehlt uns nämlich. Wasser!“

Ihre Erinnerungen wurden plötzlich von den vielen Bildern überflutet, die mit Wasser zu tun hatte. Da gab es die Quellen im Wald, die Bäche und Flüsse, die Regenfälle, die Meere, das Schwimmbad, der tropfende Wasserhahn…

Sie konnte die Bilderflut nicht stoppen. Und sie fühlte, dass diese Flut nicht in ihr verblieb, sondern in das merkwürdige Objekt hineinfloss. Was geschah mit ihr? Waren das schon Folgen des Wassermangels?

„Ling, sieh!“, rief Tim erstaunt. „Da leuchtet ein Würfel auf.“

Ling vernahm kaum, was Tim ihr sagte, denn die Flut der Bilder war viel zu stark. Wellen und Wogen brachen über sie herein, das Rauschen des Meeres und der Quellen hüllte sie ganz ein. Sie sah auch nicht, wie Tim seine Hand auf den Würfel legte und nun ganz zufrieden aussah.

Schlagartig riss die Flut der Bilder ab. Ling schüttelte den Kopf. Sie sah Tim, der mit zufriedener Miene dastand, eine Hand auf dem Würfel, die Augen geschlossen. Noch leuchtete das Objekt.

Ling riss Tim weg.

„Was soll das, Ling?“, fragte Tim entrüstet. „Warum nimmst du mich vom Wasser weg?“

„Vom Wasser? Da ist kein Wasser, Tim. Da ist nur der leuchtende Würfel, der meine Visionen vom Wasser aufsaugt wie ein Schwamm.“

Tim sah sie verständnislos an. Was sollte dieses Gerede von Visionen, die mit Wasser zusammenhingen. Visionen können den Durst nicht löschen. Er aber spürte immer noch das kühle Nass, das seinen Durst hinweggeschwemmt hatte.

„Ich hatte aber Verbindung zum Wasser“, warf er entrüstet ein. „Glaube es mir. Und nun habe ich auch keinen großen Durst mehr, wenn ich auch noch gerne mehr getrunken hätte.“

Ling schaute Tim ungläubig an. Mehr getrunken? Unterlag Tim einer gewaltigen Selbsttäuschung? Ihr Mund war trocken, und die Zunge klebte am Gaumen. Wie konnte er da von Trinken reden?

Tim sah sie zufrieden an, fasste nach ihr und legte ihre Hand auf den leuchtenden Würfel. Sie spürte, wie etwas Kühles, Frisches in sie eindrang. Einbildung? Ihre Hand war doch trocken! Langsam zog das Erfrischende durch ihren Körper, erreicht zuerst die Schulter, dann den Hals und den Kopf, ergoss sich schließlich wie eine kleine Quelle bis zu ihren Füßen.

Wasser! Es war wunderbar. Kühl, köstlich, klar! Aller Durst war gelöscht.

Der Würfel verlor an Licht, bis er so aussah wie alle anderen. Doch Ling hatte das Gefühl, dass sie so viel getrunken hatte wie es ihr möglich war.

„Ich verstehe das nicht“, flüsterte sie. „Welch eine merkwürdige Technik!“

„Du musst irgendetwas getan haben, um den Würfel zu aktivieren“, meinte Tim. „Das Leuchten setzte ein, als du irgendwie wie weggetreten warst. Was hast du da gemacht?“

„Nichts Besonderes“, lautete die Antwort. „Ich hatte Durst und meine Gedanken kreisten um alles, was mit Wasser zu tun hat.“

„Probiere es noch einmal!“, forderte Tim sie auf. „Vielleicht ist es eine Art Telepathie, die uns mit den Würfeln verbindet. Vielleicht kann die fremde Technik auf diesem Wege verstehen, was wir mit Worten nicht übermitteln können.“

Ling strich sanft über den Würfel. Nun wusste sie, dass dies keine feindliche Technik war. Sie waren nur noch nicht in der Lage, sie zu verstehen, mit ihr zu kommunizieren.

„Da musst du warten, bis ich wieder Durst habe“, gab Ling zurück. „Hast du denn genug getrunken?“

Nein, das hatte Tim nicht. So begann er, sich auf alles zu konzentrieren, was mit Wasser zu tun hatte. Er stellte sich eine Badewanne voll mit sprudelndem Mineralwasser vor. Er tauchte seinen Kopf hinein und trank und trank.

Der Würfel leuchtete wieder auf, und Tim legte nun die Hand auf ihn. Genussvoll spürte er, wie das kühle Nass ihn erfrischte.

„Das ist es, Ling“, rief er begeistert. „Der Würfel reagiert auf unsere Vorstellungen. Nun sind wir eine Sorge los.“ Er fühlte sich frisch und frei.

Doch Ling blieb skeptisch. „Wenn wir uns das nur einbilden und unser Körper nicht wirklich Wasser bekommen hat, werden wir noch größere Probleme bekommen. Ich habe einmal von einer Fata Morgana gehört, die den Wüstenreisenden Wasser vorgaukelte. Doch sie tranken staubigen Sand und verdursteten. Warten wir ab, was passiert. Nun sollten wir aber versuchen, diese Halle zu verlassen. Wir können ja jederzeit wieder zurück, wenn der Durst sich meldet.“

Tim war einverstanden. Sie passierten die nächste Lichtnebelwand, fanden aber nur einen leeren Raum vor sich. Im folgenden Raum waren die würfelartigen Objekte an der Wand gestapelt und so fest miteinander verbunden, dass sie sich nicht trennen ließen. Sie konnten keine Funktion erkennen oder ermitteln. Tims Tafel zeigte keine Wirkung, aber sie vermuteten, dass alle diese Objekte eine bestimmte Funktion hatten. Sie mussten nur wissen oder herausfinden, wie sie aktiviert werden konnten. Leichter gedacht als getan! Also verließen Tim und Ling auch diese Halle.

Nun standen sie aber nicht in einer neuen Halle, sondern auf einer freien Fläche. Hinter ihnen bildete das Nebellicht eine geschlossene Tür. Sie sahen einen gewaltigen Würfel aus dem milchigen Material. Es gab keinerlei Trennwände oder Fenster, keine erkennbaren Seiteneingänge.

Offensichtlich war hier Tag. Eine helle Sonne stand kurz unter dem ersten Drittel des Aufstiegs – oder Abstiegs?- am Firmament. Sie schien etwas kleiner zu sein als die irdische Sonne, aber auch etwas heller. Sterne waren in diesem hellen Licht nicht zu sehen.

Sie sahen sich um. Auf einer großen Fläche standen merkwürdig geschwungene Gebilde, die weder Fenster noch Türen aufwiesen. Es gab keine erkennbare Anordnung unter ihnen, und bei genauem Hinsehen schien es, als schwebten sie in der Luft. Sie warfen kaum erkennbare Schatten. Weit hinter diesen merkwürdigen Gebäuden sahen sie einen grünen Schimmer, der aber zu beben schien. Auch glaubten die beiden, dort einen Farbwechsel erkennen zu können. Der Raum über ihnen war erfüllt von Licht. Er hatte einen leicht rötlichen Schimmer. Die Luft um sie herum war die gleiche Atemluft wie in den Räumen.

Pflanzen oder Lebewesen gab es nicht zu sehen. Das helle Licht blendete sie etwas, und beide mussten die Hände über die Augen legen, um weiterhin sehen zu können. Es war still hier, absolut still. Tim konnte das Pochen des Blutes in seinen Ohren hören.

„Ich würde mir gerne dieses Gebilde da vorne links ansehen, das mit dem zipfelartigen Dach oder was das sein mag“, schlug Ling vor. „Wenn es sich um Wohnungen handeln sollte, dann müssen sie uns auch einiges über die Erbauer erzählen können. Was meinst du?“

Sie hatten längst vergessen, dass sie nur dicke Socken an den Füßen hatten. Hier draußen in der Wärme der Sonne machte sich der Raumanzug unangenehm bemerkbar.

„Das ist eine gute Idee“, meinte Tim. „Doch wir sollten immer nur so weit gehen, dass wir bei Gefahr schnell zurückkehren können. Dass wir keine Lebewesen sehen bedeutet nicht, dass es keine gibt.“

Sie sahen sich das merkwürdige Gebäude genauer an. Als sie losgehen wollten, bemerkten sie, dass sich das Gebilde auf sie zu bewegte. Das war doch verrückt. Sicher eine Fata Morgana einer fremden Welt!

„Vorsichtig!“, rief Ling. „Es kommt auf uns zu.“

Das merkwürdige Gebilde, das sie später einfach Zipfelhaus nannten, schwebte auf sie zu. Schnell traten sie zurück, um nicht im Wege zu stehen. Die Lichtwand hinter ihnen ließ sie passieren, und sie standen wieder in der leeren Halle.

Sie warteten ein paar Minuten, immer noch erfreut, dass sie keinen Durst verspürten. Dann traten sie wieder hinaus. Das Zipfelhaus hatte seine ursprüngliche Position wieder eingenommen. Nach kurzer Absprache konzentrierten sie sich auf ein Gebilde, das sie Stapelhaus nannten, weil es aussah wie drei Kartons, die aufeinandergestapelt waren. Sie befahlen ihm mit Gedanken, an sie heranzukommen. Sofort schwebte das Stapelhaus auf sie zu.

„Stopp!“, dachte Ling und sprach das Wort sogar laut aus.

Das Gebilde hielt an.

„Zurück!“

Das Gebilde schwebte zurück. Nun wussten Ling und Tim, wie diese „Häuser“ zu bewegen waren. Schnell hatten sie auch herausgefunden, dass sie die Befehle mit Gedanken geben mussten. Auf Sprache reagierten sie nicht.

„Ob die Unbekannten, die hier wohnten, keine Sprache hatten?“, fragte sich Tim. „Oder hatten sie so viele, dass es nicht möglich war, alle Kommandos in ihnen unterzubringen?“

Dazu konnte Ling nichts sagen. Sie war nicht fürs Spekulieren. Sie fühlte sich nur müde und schlug vor, in der Halle des Wassers, wie sie die zweite Halle nannten, einfach eine Runde zu schlafen. Damit war Tim einverstanden. Mit der Tafel vor sich schafften sie es ohne Probleme, durch die Lichtwände hindurchzugehen. Sie hatten sicher hier noch viel Zeit, und diese merkwürdigen Häuser liefen ihnen ja nicht weg, sie kamen ihnen sogar entgegen.

Doch dann hörten sie etwas wie einen wilden Schrei, der von außen gekommen sein musste. Der Schrei war so schrill, dass er durch sie hindurch stieß. Voller Schrecken drehten sie sich um.

Nichts war zu sehen.

Wieder dieser Schrei. Vorsichtig passierten sie die Nebellichtschranken bis zur letzten Halle. Ein unförmiger Schatten lag auf dem Nebellicht. Er tanzte hin und her, erhob sich und fiel wieder auf den Boden. Dann war er verschwunden. Sie sollten ihn nie wieder sehen und hören. Später meinte Tim, das sein eine Spätreaktion ihrer Nerven auf das Unmögliche gewesen.

Noch vorsichtiger traten die beiden hinaus auf die freie Fläche. Sie wollten sich der Quelle des Schattens stellen, doch nichts war zu sehen. Tim entdeckte einen dunklen Punkt im Himmel. Aber als Ling ihn suchte, war er verschwunden.

„Das war sicher nur eine Einbildung von uns“, meinte Ling. „Wir sind übermüdet, und wir wissen nichts von diesem Ort. Vielleicht wirkt er am Anfang so auf unsere Andersartigkeit. Sicher war hier noch nie ein Mensch. Lass uns erst einmal schlafen. Später müssen wir sehen, wie wir an Essen kommen. Vielleicht klappt das ja ähnlich wie mit dem Wasser. Mal sehen.“

Sie gähnte und steckte Tim an, dann gingen sie zurück in die Halle des Wassers. Auch er spürte die Müdigkeit, die ihn langsam niederdrückte. Langsam gingen sie zurück und suchten sich einen angenehmen Platz zum Schlafen. Doch wo gab es den? Der Boden war überall gleich, und gegen die Leuchtwände mochten sie sich nicht lehnen. So legten sie sich neben den Wasser spendenden Quader, wie Ling ihn nannte, nahmen die Raumhandschuhe als Kopfkissenersatz, stapelten die Schuhe und Helme direkt neben sich in Reichweite, rückten dicht zusammen und schliefen einfach ein.


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