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ОглавлениеWas Räuber lernen
Wie die Wüstenheuschrecke zu ihren Streifen kommt
Älter als Charles Darwins epochemachende Publikation über die Entstehung der Arten ist die Beobachtung von A. R. Wallace (1867), dass Träger auffälliger Farbsignale potentiellen Räubern ihre Giftigkeit oder Ungenießbarkeit anzeigen könnten. Doch die Frage, wie solche Warnsignale entstanden sind, zählt zu den ältesten evolutionsbiologischen Rätseln. Denn eines oder wenige Individuen müssen ja den Anfang mit ihrer größeren Auffälligkeit gemacht haben. Sie waren so ungenießbar wie ihre Artgenossen, jedoch durch Mutation auffälliger als diese. Für die Anfänger kann dies nur ein Nachteil gewesen sein, denn die wenigen auffälligen Tiere wurden nicht nur häufiger entdeckt, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass ein Räuber die Bedeutung des Signals bereits kannte, war auch äußerst gering, sodass auf die Entdeckung durch den Räuber höchstwahrscheinlich eine Attacke folgen musste. Die Entwicklung einer lokalen individuenreichen Population, in der durchschnittliche Tiere Vorteile genießen können, weil der Räuber die Signalbedeutung bereits gelernt hat, wird als Modell für die Entstehung von Warnfarben diskutiert. Die Neigung von Vögeln, bei der Futtersuche einem Suchbild zu folgen und bekannte Nahrung zu bevorzugen, könnte den ersten auffälligen Tieren sogar einen Konkurrenzvorteil gegenüber weniger auffälligen Artgenossen geboten haben. Hat ein Vogel erst einmal gelernt, die unscheinbaren von den ungenießbaren auffälligen Beutetieren zu unterscheiden, so vermeidet er zukünftig nicht nur die auffälligen Beutetiere, die er kennt, sondern, und sogar noch mehr, solche, die sich noch deutlicher von den genießbaren Tieren unterscheiden. Ist dieser Prozess einmal angestoßen, entwickeln aposematische Populationen durch diesen Verstärkungsmechanismus grellbunte Warnfarbenmuster.
▲ 14 Die Wüstenheuschrecke Schistcerca gregaria tritt in 2 Formen auf. Die bei geringer Populationsdichte vorkommende grüne solitaria-Form (oben) kann sich in die bei höherer Populationsdicht auftretende gregaria-Form (unten) umwandeln. (Originalfoto Hans Wilps)
Der Effekt der Populationsdichte für die Ausbildung von Warnfarben zeigt sich deutlich bei der Wüstenheuschrecke Schistocerca gregaria. In geringer Dichte lebende Tiere sind kryptisch grün gefärbt. Diese solitaria-Form wird bei größerer Populationsdichte immer seltener und durch die auffällig gelb-schwarz gestreifte gregaria-Form ersetzt (▶ 14). Sword und Mitarbeiter (2000) konnten durch einfache Dressurversuche den verblüffenden Wirkmechanismus aufzeigen: Gelb-schwarz gestreifte Schistocerca gregaria-Individuen erwerben ihre Ungenießbarkeit erst durch Fressen von giftigen Futterpflanzen. Unerfahrene Eidechsen (Acanthodactylus dumerili) probierten alle ihnen vorgesetzten Wüstenheuschrecken. Waren diese nach Fraß an giftigen Futterpflanzen ungenießbar, spieen die Eidechsen sie wieder aus und mieden danach diese Farbmorphe. Die Vermeidung war effektiver bei der auffälligen gregaria-Morphe im Vergleich zu der tarnfarbenen solitaria-Form. Eine auffällige Färbung der ungenießbaren Beute unterstützt also das Vermeidungslernen dieses Räubers. In geringer Populationsdichte ist die Tarnfärbung der solitaria-Morphe ein erfolgreicher Schutz vor Attacken von Prädatoren. Bei höherer Populationsdichte lohnt es sich zunehmend, Ungenießbarkeit zu erwerben, um diese mit einem auffälligen Signal zu koppeln. Die Wahrscheinlichkeit, von einem bereits erfahrenen Räuber gemieden zu werden, steigt mit der Populationsdichte; gleichzeitig sinkt das Verletzungsrisiko durch eine Attacke für die Heuschrecke. Warnfarben lohnen sich also mehr bei hoher Populationsdichte.