Читать книгу Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer - Страница 143
a) Die grundlegende Entscheidung des Reichsgerichts
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Ausgangspunkt der von vielen wahrgenommenen „Aufklärungsmisere“ ist die Entscheidung des Reichsgerichts vom 31.5.1894,[65] welche die Amputation des Fußes eines 7-jährigen Kindes gegen den erklärten Willen des Vaters trotz absoluter Indikation und erfolgreicher Operation als „Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit“ und damit „tatbestandsmäßige Körperverletzung“ qualifizierte. Dabei wies das Reichsgericht ausdrücklich darauf hin, dass der verfolgte Heilungszweck oder gar der Erfolg des Eingriffs dem Arzt ebenso wenig eine rechtliche Befugnis dazu gewähre wie das Berufsrecht, es vielmehr in erster Linie „der Wille des Kranken ist“, der den Arzt „legitimiert, Körperverletzungen straflos zu verüben“.[66] Seit diesem Urteil und damit seit mehr als 120 Jahren stellt jede mit einer Einwirkung auf die körperliche Integrität des Patienten verbundene Behandlungsmaßnahme, ohne Rücksicht darauf, ob sie erfolgreich verläuft“, und zwar auch die ärztlich indizierte, lege artis durchgeführte Heilbehandlung, also jede Anästhesie, jeder chirurgische Eingriff, jede Applikation eines Medikaments tatbestandsmäßig eine Körperverletzung dar und bedarf daher eines Rechtfertigungsgrundes, der zwar nicht ausschließlich, aber doch im Wesentlichen, in der Einwilligung des Patienten zu suchen ist.[67]
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„Für das Verhältnis zwischen Arzt und Patienten wird innerhalb der Sphäre des bürgerlichen wie des peinlichen Rechtes an der zwischen beiden Personen bestehenden Willensübereinstimmung unter allen Umständen als dem leitenden und entscheidenden Gesichtspunkte festzuhalten sein […] So gewiss der verfügungsfähige Kranke durch Berufung des Arztes zwecks Heilung seines Leidens dem Arzte nicht eine unbeschränkte Gewaltherrschaft über seine Person eingeräumt hat, so gewiss der Auftrag zum Heilverfahren jederzeit von ihm widerrufen, der eine Arzt durch einen anderen ersetzt werden kann, so gewiss ist derselbe Kranke auch befugt, der Anwendung jedes einzelnen Heilmittels, seien es innerlich wirkende Medikamente, seien es äußere operative Eingriffe, rechtswirksam Weigerung entgegenzusetzen. Und mit dem Moment solcher Weigerung des zurechnungsfähigen Kranken oder seiner gesetzlichen Willensvertreter erlischt auch die Befugnis des Arztes zur Behandlung und Misshandlung einer bestimmten Person für Heilzwecke. Folgeweise handelt derjenige Arzt, welcher vorsätzlich für Heilzwecke Körperverletzungen verübt, ohne sein Recht hierfür aus einem bestehenden Vertragsverhältnis oder der präsumtiven Zustimmung, dem vermuteten Auftrag hierfür legitimierter Personen herleiten zu können, überhaupt unberechtigt, d. i. rechtswidrig und unterliegt der solche Delikte verbietenden Norm des § 223 StGB“.[68]
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Mit dieser Begründung wurde das freisprechende Urteil des LG Hamburg vom RG aufgehoben und die Sache in die Instanz zurückverwiesen.[69]
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Diese nun ständige Rechtsprechung hat auch BGH jüngst gerade auch für den „mit den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommenen Eingriff“ nochmals bestätigt.[70] Er hat lediglich hinsichtlich der Verabreichung von Betäubungsmitteln an einen Sterbenden für die Gesundheitsbeschädigung einschränkend eine einzelfallkonkrete Feststellung angemahnt:[71]
„In einer solchen vorsätzlichen Verabreichung liegt nicht notwendig eine Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB. Betäubungsmittel können indes, je nach den Umständen des Einzelfalls, Wirkungen hervorrufen, die sich als Gesundheitsschädigung darstellen. Dies gilt etwa dann, wenn sie zu Rauschzuständen mit weiteren körperlichen Nebenwirkungen, zur Suchtbildung oder zu Entzugserscheinungen führen (BGH […] NJW 1970, 519). Wer Betäubungsmittel verabreicht, hierdurch solche Wirkungen erzielt und dabei vorsätzlich handelt, verwirklicht den Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB ([…] BGHSt 49, 34, 38), sofern dieser nicht bereits durch die Injektion als solche erfüllt wurde […]. Morphin wirkt hauptsächlich auf das Zentralnervensystem, es hat eine sedativhypnotische Wirkung, hebt das Schmerzempfinden auf, führt aber auch zu einer Verminderung der Atemfunktion ([…] BGHSt 35, 179, 181). […] Jedenfalls fehlt es […] für die Annahme, die Angeklagte habe durch die Morphininjektion das Tatbestandsmerkmal einer Gesundheitsbeschädigung erfüllt, an einer tragfähigen Beweisgrundlage. Dies gilt insbesondere für den von der Strafkammer angenommenen, von der Angeklagten verursachten und vom eigentlichen Sterbeprozess zu unterscheidenden pathologischen Zustand, zumal sie die Verursachung des Todes des Patienten durch die Morphingabe nicht feststellen konnte.“