Читать книгу Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer - Страница 148
b) Entwicklung der Aufklärungspflicht
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In der Ärzteschaft ist diese Aufwertung des Selbstbestimmungsrechts auf Kritik, teilweise auch entschiedenen Widerspruch und Unverständnis gestoßen. Man hält die Aufklärungsanforderungen für „praktisch unerfüllbar“[90] und der Sache nach für verfehlt, da sie sich „auf Heilung und Sicherheit ungünstig auswirken“.[91] „Schweigenkönnen und Schweigenmüssen des Arztes“ seien „notwendige Voraussetzungen und Bestandteile seiner Kunst“.[92] Dabei komme „der Kranke zu seinem Recht, aber es ist das Vorrecht seines Arztes, darüber von Fall zu Fall, von Mensch zu Mensch zu entscheiden“.[93] Diese paternalistische, heute überholte ärztliche Grundeinstellung spiegelt sich auch in den ersten einschlägigen Entscheidungen des Reichsgerichts wider. Nachdem zunächst nur die Behandlung des Patienten gegen seinen Willen für rechtswidrig erachtet und die weitergehende Problematik der ärztlichen Aufklärungspflicht zur Sicherung umfassender Selbstbestimmung des Patienten im Behandlungsprozess überhaupt nicht aufgeworfen worden war, tauchte sie erstmals höchstrichterlich im Jahre 1912 im Zusammenhang mit dem Einwilligungsproblem auf. In seinem Urteil[94] verneinte das RG die Rechtspflicht des Arztes zur Aufklärung über eventuell schädliche Operationsfolgen. Denn diese lasse
„sich weder aus der Übung der pflichtgetreuen und sorgfältigen Vertreter des ärztlichen Berufes noch aus inneren Gründen herleiten. Eine umfassende Belehrung des Kranken über alle möglichen nachteiligen Folgen der Operation würde nicht selten sogar falsch sein, sei es, dass der Kranke dadurch abgeschreckt wird, sich der Operation zu unterwerfen, sei es, dass der Kranke durch die Vorstellung der mit der Operation verbundenen Gefahren in Angst und Erregung versetzt und so der günstige Verlauf der Operation und der Heilung gefährdet wird“.
Worüber der Arzt den Patienten zu belehren hat, bleibt in der Entscheidung offen und ganz vom ärztlichen Ermessen abhängig,[95] wobei deutlich eine „Warnung vor Überspannung der Aufklärungspflicht und vor Überforderung des Arztes“ zum Ausdruck kommt.[96]
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Diese – mit der ärztlichen Sicht übereinstimmende – Einstellung der Rechtsprechung hielt sich bis Mitte der 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, ehe das Reichsgericht dann eine „außerordentlich auffallende“ Kehrtwendung vollzog, indem es „überraschenderweise den Gedanken ärztlicher Fürsorge“ gänzlich hintanstellte und einseitig die Pflicht des Arztes betonte, „das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu respektieren“.[97] Dieses sei „so allgemeiner Natur und durch so wohlbegründete Erwägungen gefordert, dass die aus der Sorge um Schonung des Patienten hervorgehenden ärztlichen Bedenken gegen volle Aufklärung“ zurücktreten müssten. Damit war der Primat der Selbstbestimmung begründet, an den der BGH nach dem Krieg nahtlos anknüpfte und 1954[98] erstmals mit dem Rückgriff auf den Schutz des Persönlichkeitsrechts des Patienten untermauerte. Seither lässt sich eine stetig voranschreitende Zurückdrängung pauschal paternalistischer Vorstellungen beobachten, bei der freilich eine bereichsabhängige Notwendigkeit zur Fürsorge zu beachten bleibt – Patienten sind nicht stets zur Selbstbestimmung überhaupt in der Lage.[99]