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Rituale — Wie sieht es denn heute aus? Wie hat es angefangen?

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Was eigentlich so schlimm ist in unserem Leben? Von den Ritualen habe ich schon geschrieben. Die gibt es in jeder Familie. Rituale und ungeschriebene Vorschriften. „Vor dem Essen, nach dem Essen, Hände waschen nicht vergessen.” Und wenn sich mal jemand nicht daran hält? Das Kind oder der Partner etwas vergisst? Beim Kind gibt es eine freundliche, erzieherisch gemeinte Ermahnung. Beim Partner vielleicht nur des guten Vorbilds wegen einen mehr oder weniger versteckten Hinweis. Und dann? Dann ist alles gut.

Bei uns sieht es anders aus. Alles, wirklich alles ist durchgeplant. Jeder Ablauf während des Tages und der Nacht ist inzwischen ganz genau von Katrin durchdacht. Jede Aktivität auf ihr Risikopotential hin analysiert. Es sind so Schritt für Schritt die Regeln entstanden, die unser Leben vollkommen logisch absichern. So durchdacht, dass von draußen im Grunde kein Dreck ins Haus kommen kann, wenn sich alle an diese Regeln halten. So durchdacht, dass im Idealfall tatsächlich kaum ein Putzmehraufwand entstehen würde. Und draußen? Nun, auch da gibt es Vorsichtsmaßnahmen. Maximale Risikoreduzierung. Da wird nicht einfach irgendwo ein Ausflug gemacht. Ausflugsziele und Wege werden von den Regeln der Risikoreduzierung geprägt. Natürlich darf Niklas nichts, was einfach auf einem Weg liegt, aufheben. Und falls doch: Die Hygienetücher sind ständig griffbereit im Kinderwagen und den Jackentaschen verstaut. Das Abwischen der möglicherweise kontaminierten Flächen und Hände geübte Routine.

Alles ist geregelt: An welcher Stelle meine Laptoptasche liegen darf. Was mit der Post passiert. Wie der Müll nach draußen gebracht wird. Wo die Schuhe gewechselt, wo sie hingestellt werden, wo und wie das Jackett aufgehängt, ein Koffer gepackt oder das Handy benutzt wird.

Wo die Schuhe ausgezogen werden. Wie die Schuhe ausgezogen werden. Wie danach die Hände zu waschen sind. Wie der Hausschlüssel abgelegt wird. Und wenn der Hausschlüssel angefasst wurde, muss bis zum darauffolgenden Händewaschen darauf geachtet werden, dass nichts weiter angefasst wird.

Wie Niklas gesäubert wird – in der Dusche – nachdem er draußen war. Alles ist reglementiert. Ein Gang in den Garten? Nur über die Haustür. Nur über die gesicherte Dreckschleuse des Windfangs. So gibt es eine schier unzählbare Reihe von strengen Vorschriften und Rituale. Diese gestalten nicht nur unser Leben. Sie bestimmen es. So sehr, dass fast nichts mehr vom ursprünglichen fröhlichen, glücklichen Zusammenleben übrig ist.

Vor der Hochzeit wusste ich nichts von Katrins Krankheit oder den Problemen von ihr. Ich weiß auch heute nicht, ob es damals schon wirklich krankhaft war, oder nur ein gelerntes Verhalten. Ich wusste auch nichts von der Krankheit ihrer Mutter. Ich wusste von einem Hörsturz. Ich wusste, dass Bettina, die Mutter meiner Schulfreundin Katrin, Probleme hatte. Sie hatte auch aufgehört, als Lehrerin zu arbeiten – was bei drei Kindern zur damaligen Zeit sicherlich auch vollkommen nachvollziehbar war. Noch dazu, wo doch ihr Mann Rainer eine gut bezahlte Managementposition in einem Pharmaunternehmen hatte. Dass diese Probleme die Auswirkungen einer Zwangserkrankung waren, das wusste ich nicht. Dass Katrin etwas pingeliger ist, als andere Frauen – das war bei unserem ersten gemeinsamen Urlaub deutlich geworden. Auf Korfu. Dass etwas mit Katrin nicht stimmte, wurde mir klar, als ihre Angst nach der Geburt von Niklas so unbeschreiblich groß wurde. Da ging es in den Medien gerade rund. Rund in Bezug auf die Vogelgrippe.

Und vor der Geburt von Niklas? Natürlich weiß ich heute, dass ich auf bestimmte Dinge hätte schon reagieren können. Wenn ich von der Krankheit gewusst hätte. Wenn ich die Vorgeschichte gekannt hätte. Wenn ich auch nur den blassesten Schimmer gehabt hätte... Hatte ich aber nicht. Leider.

Heute kann ich voller Überzeugung sagen: Wer glaubt, dass der eigene Partner, ein guter Freund oder ein anderes Familienmitglied wegen Sorgen und Ängsten sein Leben anpasst, der sollte das ansprechen. Das Wichtigste ist die Unterstützung für den erste Schritt zu einem Psychologen/Therapeuten. Wenn Ängste und Sorgen das Leben einschränken, dann wird dies in den meisten Fällen nicht einfach „weggehen“ oder sich „verwachsen“. Für den Gang zum Psychologen oder Psychotherapeuten braucht es in Deutschland nicht einmal den Besuch bei einem Psychiater. Ja, das ist auf jeden Fall leichter geschrieben, als getan, aber es ist für alle Beteiligten der wichtigste Schritt. Zwar längst kein Befreiungsschlag und es wird auch nicht – leider – von heute auf morgen alles besser, aber es ist ein Anfang.

Erste Anlaufstelle kann die DGZ sein. Die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen (www.zwaenge.de). Hier erhält jeder Fragende Kontakt zu Ärzten und Therapeuten, die sich bei der Gesellschaft als „auf Zwangskrankheiten spezialisiert" gemeldet haben. Leider sind die Wartezeiten bei den Therapeuten teilweise sehr, sehr lang. Auch deshalb gilt es, lieber früher als später, Kontakt aufzunehmen.

Wichtig ist, dass auch der Freund, die Freundin, der Partner selbst etwas ändern will. Ein schwieriges Unterfangen, denn das, was da kommt... Das ist wie Entzug. Wie „Rehab”. Nicht von Drogen. Entzug von der Angst. Entzug mit totaler Angst. Ein Entzug vom bisherigen Leben. Je bequemer man sich in den Zwängen eingerichtet hatte, je größer vielleicht sogar der „Krankheitsgewinn” war, umso schwieriger ist die „Lossagung”.

Draußen war Sommer...

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