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Das «Zitterthal» und die gefährdete Gotthardpost
ОглавлениеWohlig werden diese Schrecken, wenn man sie aus Distanz geniesst, etwa in der bekannten deutschen Familienzeitschrift Die Gartenlaube. Sie führt 1862 dem Leser in Bild und Text jene Gefahren vor Augen, die uns am Gotthard erwarten: eine Säumerkolonne im Kampf mit den Elementen, auf verschneitem, abschüssigem Weg (Abb. 1).
Die entsprechende Beschreibungsprosa greift ebenfalls voll in die Tasten:
«Da lauerte auf der einen Seite der gähnende Abgrund, ein zu lauter Ruf konnte auf der andern die schlafende Lawine wecken, daß sie mit Donnergebrüll niederstürzte vom schwindelnden Hange und in ihrem rasenden Anpralle Roß und Reiter mit sich durch die Luft wirbelte, […]; oder es kamen langsam, in weiten wallenden grauen Talaren, die Nebelgeister herauf gewallt aus den unergründlich tiefen Schluchten des Gebirgs, umspannten den Verwegenen, der es gewagt, ihr Revier zu betreten, mit ihren trügerischen Schleiern, bis sein strauchelnder Fuß […] hinaustrat in’s Leere, und Roß und Reiter zerschellend auf’s unsichtbare Felsenbette hinunterstürzten.»1
Mythische Kräfte, resistent gegen alle Aufklärung, herrschen in der Bergwelt, sodass etwa das «Tremola-Tal» den Namen «Zitterthal» zu Recht verdiene.2 In den Süden führt nur eine Geisterbahn ohne Notausgang.
1 «Ein Zug Saumthiere vom Schneesturm überfallen.» Originalzeichnung von H. Jenny. Die Gartenlaube (1862).
Das Ende dieses heroischen Zeitalters ist jedoch abzusehen. Die Gotthardpost, die Rudolf Koller noch 1873 mit seinem Bild genau in der Tremola feiert, ist schon bei ihrem Entstehen überholt. Denn tief unter den Strassenwindungen arbeiten bereits die Mineure am Bahntunnel. Mit seiner Eröffnung 1882 wird Kollers Kutsche erst recht zum Nostalgiebild. Doch es enthält in sich schon jene Spannungen, in welchen das alpin geprägte Selbstbild der Schweiz mit der Dynamik des Fortschritts kollidiert. Darauf hat Peter von Matt mit seinem Buch Das Kalb vor der Gotthardpost brillant aufmerksam gemacht.3 In seiner Deutung steht jenes Kalb, das von der fünfspännigen Kutsche in den Abgrund gedrängt zu werden droht, für die Bedrohung, welche in der Dynamik des Fortschritts selbst steckt. Die Postkutsche Kollers ist eigentlich schon jener Schnellzug, der sie dann endgültig verdrängen wird.
Auch die Literatur artikuliert die inneren Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten in den Selbstbildern der Schweiz, gerade am Gotthard. Das soll hier an einigen literarischen Zeugnissen exemplarisch aufgezeigt werden. Denn während der Gotthard zum Zentralsymbol der helvetischen Identität aufgefaltet wird, wird er gleichzeitig technisch unterminiert und durchstossen.4 Zudem durchquert die neue Eisenbahnlinie auch jene Landschaft, die man bald darauf zur Kernfestung des militärischen Réduits ausbaut. Die europäische Brückenfunktion des Alpenpasses, der ins Zentrum des europäischen Verkehrsnetzes rückt, trifft direkt auf die ideologische und militärische Einigelungstendenz der Schweiz im 20. Jahrhundert. Dabei beruft man sich wiederum auf die Gründungsgeschichte der Schweiz, die ihrerseits in sich den Widerspruch von Abschottung und Öffnung enthält. Denn sie wird historisch aus den besonderen Bedingungen des aufkommenden spätmittelalterlichen Transitverkehrs abgeleitet. Kein Rütlischwur ohne den Saumweg über den Gotthard, auf den die Habsburger ihr eifersüchtiges Auge geworfen haben, lautet diese Gründungserzählung. Freiheit ist die Freiheit, über den Gotthard zu verfügen.
Am Gotthard treffen also mit der Eröffnung des Eisenbahntunnels Diskurse des technischen Fortschritts und der patriotischen Mythologie aufeinander. Ihr gemeinsamer Nenner ist das Motiv der Gefahr. Schon Schiller stellt in seinem Wilhelm Tell 1804 die Innerschweizer Idylle als doppelt gefährdet dar, durch die fremden Vögte und die drohenden Lawinen oder den rasenden See. Im Rütlischwur wird die «Gefahr» zur eigentlichen gemeinschaftsbildenden Kraft: «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern / In keiner Noth uns trennen und Gefahr.»5 In dieser Formel klingt nicht nur ein Grundpostulat der Französischen Revolution an. Wirkungsmächtig wird sie in der Schweiz besonders deshalb, weil sie die Bildung einer Solidargemeinschaft aus einer Bedrohungslage heraus motiviert, die sowohl eine politisch-militärische wie eine der Natur sein kann.