Читать книгу Gotthardfantasien - Lars Dietrich - Страница 9
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ОглавлениеDie Infrastruktur bestimmt den Grad der Wahrnehmung von Natur beziehungsweise von Natürlichkeit. So macht Peter Utz, Spezialist für Schweizer Literatur und Katastrophen, eingangs deutlich, dass die enge Verflechtung von alpinem Naturraum mit der menschlichen Technisierung die Gefahr von Katastrophen nicht bändigt, sondern im Gegenteil provoziert, wie ein Blick auf die Gotthard-Literatur des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts zeigt. Schweizer Identität versteht sich viel besser vor dem Hintergrund der latenten Katastrophe. Trotz oder dank den massiven technischen Eingriffen soll die Landschaft Erlebnis bleiben. Dass der alleinige Blick aus dem Bahnwaggonfenster nicht genügt, zeigt der Historiker Daniel Speich Chassé anhand exemplarischer Eisenbahnführer auf. Er macht deutlich, wie unterschiedliche Blickanweisungen, welche man für die Gotthardbahnfahrt bekommt, die Natur und die Landschaft trotz der technischen Revolution und Beschleunigung weiterhin erfahrbar machen und die technische Apparatur gleichzeitig zum Vergessen bringen sollen.
Carl Spittelers Gotthardbahnführer reiht sich zwar in die erst junge, aber schon reichhaltige Tradition von Blickanweisungen ein, versieht das Genre aber mit einem Schuss Ironie, welche das Wissen um das Erlebbare immer schon voraussetzt und es um die Pointe bringt, sodass die erzählerische Aneinanderreihung die filmische Abfolge von Bildern imitiert, was der Literaturwissenschaftler Alexander Honold in Absetzung von Martin Stadlers sozialkritischer Auseinandersetzung mit den technischen Revolutionen am Gotthard darlegt. Der Doyen der Schweizer Literaturgeschichte Peter von Matt bringt auf den Punkt, worauf der neue Mythos spätestens an der Landi 1939 abzielt: auf die Symbiose zwischen Technik und Natur, zwischen Fortschritt und Ursprung. Der essayistische Beitrag von Lars Dietrich, Leiter für alle technischen Installationen im Gotthard-Basistunnel, lässt erahnen, mit welcher Präzision und mit welchem Sinn für jegliche auch nur denkbare Eventualität der Sakralbau par excellence unserer Zeit ausgestattet worden ist. So setzt die subterrane Erschliessung neue Fantasien frei – wie die vier literarischen Beiträge des ersten Teils in Form eines Gedichts (von Nora Gomringer), zweier Reiseberichte (von Michael van Orsouw und Verena Stössinger) und kulturell-geologische Tiefenbohrungen (von Peter Weber) veranschaulichen.
Man kann zwar im «Banne des Sonderfalls» gefangen und paralysiert sein. Gleichzeitig ist dieser Bann aber immer auch aktiv zu durchbrechen. Dies wird möglich, indem bewusst Kontrapunkte gesetzt werden. Es gibt nichts Enttäuschenderes für die Einmaligkeit als den Vergleich. So vergessen wir allzu schnell, dass der Gotthard in Russland einen eigenen Mythos wegen der Alpenodyssee russischer Truppen unter Suvorov im Herbst 1799 bildet. Der Osteuropa-Historiker Frithjof Benjamin Schenk zeigt das Nachleben des Generals in der russischen Kultur bis in unsere Tage. Parallel dazu zeichnet der Spezialist für slawische Literaturen Jens Herlth nach, wie Suvorovs Spuren in der Lyrik dem sowjetischen Menschen verständlich sein mussten. Dennoch ist zu fragen: Gibt es vergleichbare oder alternative Modelle nationaler Überhöhung – wie sie sich im Gotthard-Mythos manifestiert? Es handelt sich um Nationalmythen, welche frappierende Parallelen zum Réduit-Gedanken aufweisen, aber im Unterschied zum Schweizer Nationalstaat im Fall des jugoslawischen Raums entweder romantische Fantasie geblieben sind und in den verschiedenen Nationalliteraturen einen bemerkenswerten Gemeinplatz pluraler Zuordnungen einnehmen (dazu die Südslawistin Anna Hodel) oder im Fall Armeniens gescheitert sind (dazu die Osmanistin Elke Hartmann).
Doch Kontrapunkte können auch auf und gegen den Gotthard selbst gesetzt werden, indem der «Felsenthron Europas» auf der Reise ins Tessin immer neue Ansichten und Beschreibungen generiert. So untersucht der vergleichende Literaturwissenschaftler Thomas Fries Deutschschweizer Reiseberichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts ins Tessin, das zu diesem Zeitpunkt noch quasi-kolonialen Status innerhalb der zwölf Alten Orte hatte. Zur selben Zeit wandert auch Goethe dreimal auf den Gotthard, ohne ihn je zu überqueren. Für die Reise nach Italien wird er den Weg über den Brenner nehmen. Denn am Gotthard – so der Literaturwissenschaftler Daniel Müller-Nielaba – hat sich der noch junge Autor des Werther zwischen Malerei und Literatur zu entscheiden, am Gotthard lernt er, die Begrenztheit und die Unvollkommenheit der jeweiligen Kunstform zu reflektieren, sodass der Gotthard immer schon Goethes Dichtung impliziert. Denselben Ausgangspunkt bei den Reiseberichten des 18. Jahrhunderts nimmt der Tessiner Ökonomie- und Sozialhistoriker Luigi Lorenzetti. Hier kondensiert der Gotthard zur kulturellen Brückenmetapher. Als Dach Europas imaginiert, verkommt er zur rein technisch-topografischen Bewältigung von Distanz durch seine Untertunnelungen – am deutlichsten durch den Gotthard-Basistunnel, welcher zwar Länder und Städte des Nordens und Südens verbindet, aber den Gotthard seiner Funktion als Ort der Kulturbegegnungen endgültig beraubt, weil das Hindernis nicht mehr Anlass zur Reflexion, sondern lediglich Vorwand zur maximalen Beschleunigung von Menschen und Gütern wird. In besonders ironischer Weise unterlaufen die literarischen Beiträge dieses zweiten Teils Heldenverehrung (Katharina Lanfranconi), Geschichtsträchtigkeit und Einmaligkeit des Gotthards (Arno Camenisch und Iso Camartin).
Dass selbst aus Tessiner Sicht die Bilanz in Bezug auf den Gotthard eher durchmischt, wenn nicht sogar negativ ausfällt, mag auf den ersten Blick zu Beginn des dritten Teils erstaunen. Doch der Alpenhistoriker Marco Marcacci zieht lediglich Lehren aus den technischen Erschliessungen des 19. und 20. Jahrhunderts für das 21. Jahrhundert. Wenn sich der Politologe und Politiker Nenad Stojanović erinnert, wie er in den 1990er-Jahren, als Flüchtling aus Sarajevo im Tessin angekommen, die Eishockeyspiele in Ambrì-Piotta erlebte und dabei neue Kategorien von Identitätszuschreibungen – jenseits von Konfessions- und Sprachzugehörigkeit – ausfindig macht, so formuliert er ein Plädoyer nicht an die Ausländer, sondern an die Schweizer, sich in die Realitäten der Schweiz zu integrieren. Der Alpenhistoriker Jon Mathieu unterstreicht, wie unterschiedlich die Innen- und Aussenperspektive auf die Alpen und insbesondere auf den Gotthard ausfallen können. Tendiert der urbane innenpolitische Diskurs dazu, die Alpen ganz zu ignorieren oder höchstens als alpine Brache zu vernachlässigen, gibt es eine Alpen-lobby, welche innerhalb der UNO aus dem Gebirge ein weltweites Thema macht, um damit der Schweiz in bestimmten Umweltfragen eine Führungsrolle zukommen zu lassen. Es ist an uns zu entscheiden, welcher Fraktion wir uns anschliessen wollen.
Die Alpen werden zur gleichen Zeit ideologisch aufgefaltet, in welcher sie technisch geglättet werden. Die Geschichtswissenschaft hat sich an der Überlagerung zweier Nationalmythen, am Gotthard zum einen als militärischem Réduit in der Wiege der Eidgenossenschaft, zum anderen als Transitort zwischen den Achsenmächten, weitgehend abgearbeitet, wie das Guy P. Marchal mit Rückgriff auf die ganze Vorgeschichte nachzeichnet. Dennoch ist die Symbolgeschichte des Gotthards nach 1945 erstaunlich unterbelichtet. Sie scheint zwar auf den ersten Blick von einer gewissen Kontinuität geprägt zu sein. Man kann also durchwegs von einer Fortsetzung des eidgenössischen Zentral- und des europäischen Transitmythos mit einer allmählichen Umlagerung von Deutungshoheit sprechen. Doch scheint sich kurz vor und mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels eine verquere Symbolpolitik abzuzeichnen: Während sich eine tendenziell proeuropäische Fraktion mit der Alpeninitiative als Bewahrerin des Zentralmassivs herausstellt, fordert der konservativ-nationalistische Flügel im Verbund mit gewissen Interessenvertretern eine zweite Autobahntunnelröhre und damit noch eine erhöhte «Transitsogwirkung» (Hermann Burger) mitten durch die Schweiz.
Der Zeithistoriker Damir Skenderovic bringt Erstaunliches zu Tage: Just um das Jahr 2000, als man die mythologische Überhöhung historiografisch abgetragen zu haben vermeinte (Fichen-Affäre, Bergier-Bericht), wird der Gotthard durch die neue Rechte remystifiziert, indem diese wie in anderen europäischen Ländern historische Deutungshoheit – entgegen jeglichen wissenschaftlichen Standards – beansprucht. Viel einsichtiger wäre eigentlich eine Schweizer Geschichte der Immigration, welche mit dem Bau des Gotthard-Scheiteltunnels einsetzt und bis heute andauert. Spätestens an dieser Stelle wird klar, warum der Gotthard – so im dramatischen Szenario des Kulturwissenschaftlers Walter Leimgruber – ins Weltkulturerbe der immateriellen Güter aufgenommen werden muss, wogegen sich der personifizierte und materialisierte Gotthard auf den Malediven mächtig wehrt. Damit erhält der Betroffene – wie in den literarischen Einwürfen von Pirmin Meier und Matteo Terzaghi – eine eigene Stimme, um in die Fantasien einzustimmen.
Beiträge können manchmal auch unscheinbar sein, vor allem wenn es um die Finanzierung und Organisation eines so anspruchsvollen Vorhabens geht. Darum möchte ich mich bedanken für die grosszügige finanzielle Unterstützung durch die Albert Köchlin Stiftung und die Universität Luzern. Weitere Beiträge stammen vom Kanton Uri. Namentlich zu erwähnen sind Silvan Moosmüller, der innerhalb unseres Forschungsprojekts «Polyphonie und Stimmung» mit viel Bedacht und Beharrlichkeit mithalf, die Finanzierung zu sichern, Silvia Cavelti, welche alles Administrative und einiges darüber hinaus fristgerecht abzuwickeln wusste, Wiebke Suden und Hannes Weber, die mir beim Lektorat gewissenhaft über die Schultern schauten, und Madlaina Bundi, Simone Farner sowie Rafael Werner für die enge und professionelle Betreuung durch den Verlag. Der grösste Dank geht an die Beiträgerinnen und Beiträger, welche – im Unterschied zu anderen Publikationen – nicht einfach ihr Projekt hier platzieren konnten, sondern von mir gezielt für bestimmte Fragestellungen angegangen worden sind, damit der Band möglichst breit und kompetent den ganzen thematischen Fächer abdeckt.