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Mythos

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Der Mythos bringt die kohärenteste Erzählung hervor. Spricht man von Mythos, geht es nicht um die umgangssprachliche Unterscheidung zwischen falscher und richtiger Geschichte, sondern um eine mythentheoretische Einordnung des Gotthards. Weil Mythostheorien auf viele verschiedene Gegenstandsbereiche der Ethnologie, der Altertumswissenschaften, der Gegenwarts- oder der Alltagsgeschichte abzielen, fallen sie entsprechend unterschiedlich aus.3 Folgt man der Unterscheidung von Mythos und Geschichte durch den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, so ist die Geschichtsschreibung als offenes System zu verstehen, welches die Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft darlegt. Die Mythologie hingegen funktioniert statisch als geschlossenes System. Ihr geht es um Kohärenzbildung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.4 Lévi-Strauss spricht in diesem Fall von narrativer Bricolage zwischen Geschichte und Mythologie, Guy P. Marchal von «Gebrauchsgeschichte». Roland Barthes unterstreicht, dass der Mythos Geschichte in Natur umformt, naturalisiert (in der französischen Doppeldeutigkeit von Naturalisierung und Nationalisierung) und somit im alltagskulturellen Kontext nicht mehr hinterfragbar macht.5

Die Anfänge einer Gotthardmythos-Genealogie sind in der Aufklärung anzusetzen – zu einem Zeitpunkt, als Mitglieder der «ersten gesamtschweizerischen Vereinigung, der Helvetischen Gesellschaft» auf der Basis einer Tugendphilosophie nach Rousseau den homo alpinus als den guten Wilden schufen. Dabei stützte man sich auf ausgewählte Literatur über die Alpen, die angesichts eines einsetzenden deistisch grundierten Erhabenheitsdiskurses ins Blickfeld der Aufklärer gelangten. Dazu sind in erster Linie Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), Albrecht von Haller (1708–1777) und Johann Caspar Lavater (1741–1801) zu zählen.6 So fanden erst im 18. Jahrhundert die Alpen richtig Eingang ins Imaginationsarsenal der Alten Eidgenossen. Der richtige Schweizer sei nur in den Alpen zu finden. Und so hat das «Schweizeralpenland» «bis heute seine Decodierbarkeit und damit seine Wirkung behalten». Nirgends kam es «zu einer dermassen wirksamen Kombination von Geschichte und Alpen […] wie in der Schweiz».7 Umso erstaunlicher ist es, wie spät das breitenwirksame Nation Building, die «Narration of Nation»,8 einsetzt und sich in entsprechenden Denkmälern niederschlägt. Erst 1859 und somit zwölf Jahre nach dem Sonderbundkrieg kam das Rütli als Symbol des neu entstandenen Bundesstaates in den Besitz der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft; erst 1879/80 wurde die Tellskappelle, wie wir sie heute kennen, errichtet. Die Verbreitung von nationalen Standards konnte erst mit einer gewissen zeitlichen Distanz zu den innerhelvetischen Zerwürfnissen einsetzen und fiel just in jene Jahre, in denen man den Gotthard-Scheiteltunnel plante, ausbrach und in Betrieb nahm. Dass der Gotthard in einem breiteren öffentlichen Bewusstsein überhöht werden konnte, war der Koinzidenz von nationaler Symbolpolitik und technischer Errungenschaft geschuldet. Der Gotthard als Kultur- und Wasserscheide, als Ursprung von vier wichtigen Flüssen; der Gotthard als Zentrum der Schweiz, der Gotthard als Zentrum der europäischen Kulturen.

Dem Gotthard kommt exemplarische Bedeutung zu, da Staatsgründungs- und Technikerzählungen miteinander verschränkt werden. Die Kohärenz des Gotthard-Mythos kulminiert in der Geistigen Landesverteidigung, in welcher ländliche Ursprünglichkeit und technischer Fortschritt eine einzigartige Symbiose bilden.9 Zwar formuliert Ernst Cassirer seinen Mythus des Staats (1949) im Hinblick auf das Aufkommen des totalitären modernen «Mythus» im nationalsozialistischen Deutschland. Dennoch gilt die «Technik der modernen politischen Mythen»10 auf eigenartige Weise auch für die Schweiz in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. So erreiche der Mythus «seine volle Kraft, wenn der Mensch einer ungewöhnlichen und gefährlichen Situation begegnen muß».11 Selbst in indigenen Gesellschaftsformen werden Mythen nur punktuell und gezielt eingesetzt, wo «ein Geschäft» «gefährlich und sein Ausgang ungewiß ist».12 Die subjektiv empfundene Bedrohungslage in der Schweiz, eingeklemmt zwischen dem totalitären Deutschland und Italien, ist nicht zu unterschätzen – vielleicht weniger in strategisch-militärischer als in ideologischer Hinsicht. Auch die Schweiz war anfällig für antidemokratische Ideen. Während aber der nationalsozialistische «Mythus der Rassen» in Deutschland im Alltag Fuss fassen konnte, musste die Schweiz auf ein anderes ideologisches Versatzstück zurückgreifen.

Es musste eine «emotionale Atmosphäre» geschaffen werden, in welcher Worte Gefühle erzeugen. Gleichzeitig kommt diesem Mythos Alleinstellungsmerkmal und Alleingültigkeit zu. Man kann sich in etwa ausmalen, welche Vorstellungen und Gefühle Begriffe wie Alpen, Granit, Gotthard zunehmend erzeugen mussten – bis hin zu «semantischen Analogien […] zwischen dem Klischee der bankgeheimnisgehärteten Vermögensbastion der Steuerflüchtlinge und der stereotypen Bilderwelt der Alpen als eines natürlichen Fortifikationssystems».13 An einer Überhöhung des Gotthards arbeitete der Fribourger Schriftsteller und (Literatur-)Historiker Gonzague de Reynold schon seit dem Ersten Weltkrieg und wurde dadurch nicht nur zum Lehrer des wertkonservativen Bundesrats der Geistigen Landesverteidigung Philipp Etter mit der «Botschaft des Bundesrates über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung» – als Bundesbeschluss im April 1939 vom Parlament genehmigt –, sondern auch zum Mitglied der im selben Jahr gegründeten Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.14 Sein Gedankengut einer «Nationalen Revolution»15 brachte er auch in den 1940 von Denis de Rougemont gegründeten Gotthard-Bund ein, welcher die Réduit-Strategie ideologisch untermauerte und bis 1969 aktiv blieb.

Unter solchen Umständen ist es schwierig, eine Geschichte des Gotthards jenseits des Mythos zu schreiben. Deutschland hatte mit seinem modernen «Mythus der Rassen» radikal zu brechen,16 die Schweiz mit ihrem Mythos hingegen nicht.17 Und im Kalten Krieg wurde dieser Mythos beharrlich perpetuiert. Man hatte im Unterschied zu Deutschland keinen Grund, ihn zu hinterfragen. Die Identitätsproduktion über den Gotthard funktionierte in derselben kohärenten Weise fast tadellos weiter.18 Unabhängig davon, wie sich die Schweiz historisch konstituiert hat, kann zumindest die Genealogie des Gotthardmythos skizziert werden. Die Konstruktion des Ineinanderfallens von Gotthardpasserschliessung und Rütlischwur ist spät anzusetzen. Carl Spitteler fordert kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in seiner programmatischen Rede Unser Schweizer Standpunkt (1914) das Zusammenstehen der Willensnation über die Sprachgrenzen hinweg, ohne für Deutschland oder Frankreich Partei zu ergreifen. In seinem Reiseführer Der Gotthard (1897) formuliert er als einer der ersten das Desiderat an die Historiker, in Zukunft die beiden Erzählstränge der Passerschliessung und der Gründung der Alten Eidgenossenschaft zusammenzubringen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der historiografische Beweis für den Zusammenhang zwischen Gotthard und Rütli somit noch nicht erbracht.

Im Gegenteil: Zunächst kommt es zu einer Konkurrenzgeschichte. So erbringt der junge Archivrat zu Karlsruhe und begeisterter Gotthardbahnfahrer Aloys Schulte den Beweis, dass der Gründer der Schweiz «nicht der sagenhafte Tell» sei, «sondern der Mann der die stäubende Brücke ersann und ausführte». Trotz Sympathien für die Idee des «Passstaates» wollte man in der Schweiz der Entthronung des Nationalhelden in der Zwischenkriegszeit nicht zustimmen. Das Entweder-oder wurde durch ein Sowohl-als-auch ersetzt: So formuliert der Schweizer Historiker Karl Meyer – welcher in erster Linie die mittelalterlichen Ursprünge zu stärken versuchte –, «die Eidgenossenschaft sei nicht wegen, sondern trotz dem Gotthard entstanden».19

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